BILD | ER | LEBEN
Ein auf kunstpsychologische Praxis gestütztes Pilotprojekt zum Einsatz von Kunst als Regulativ für Krisenerfahrung
Bereits zum dritten Mal macht sich die 6c diesen Mittwoch auf ins Wallraf-Richartz-Museum. Dort treffen sie auf Psychologiestudenten der Uni Köln, die sich mit ihnen vor ein Bild setzen und reden. Ihr habt richtig gelesen: vor ein Bild. Und sie bleiben tatsächlich 90 Minuten lang vor ein und demselben Kunstwerk sitzen.
Museumsbesuche kennen die Schüler zwar schon seit der Grundschule, aber hier ist alles etwas anders. Keiner erklärt, wann der Maler geboren wurde oder unter welchen Umständen das Bild entstand. Hier reden eigentlich nur die Schüler, und zwar über alles, was ihnen zu den Bildern einfällt. Die Studenten fragen nach, fassen zusammen, fragen weiter, und die Schüler reden, über das, was sie in den Bildern sehen, ihre Fantasien, Vorstellungen, Wünsche. Da jeweils zwei bis drei Studierende eine Schülergruppe von etwa 10 Kindern begleiten, kommt auch wirklich jeder zu Wort.
Kommentar auf dem Rückweg: Ich hätte nicht gedacht, dass man so viel in einem Bild sehen kann!
Die Veranstaltungen sind Teil einer Kooperation der KLS mit Hans-Christian Heiling, Herbert Fitzek und Studierenden der Hochschulen Universität zu Köln und UMC Potsdam.
1. BILD | ER | LEBEN
Trotz Krisenstimmung ist das Leben nie zuvor sicherer und selbstverständlicher gewesen. Die meisten Menschen sind körperlich, sozial und finanziell so weit gesichert, dass sie ihr Leben ohne äußere Not bewältigen können. Gerade bei Jugendlichen steht grenzenloses Selbstvertrauen aber häufig neben dem Zweifel, worauf im Leben eigentlich gesetzt werden kann. Oft wissen sie nicht, wofür sie leben, arbeiten und streiten sollen und reagieren mit Lustlosigkeit, ungezielten Vorwürfen oder „sinnloser“ Aggression.
Schulen kennen die Probleme der heranwachsenden Generation sehr genau, doch bleibt unter der Anspannung von Lehr- und Leistungsplänen kaum Raum zum Gegensteuern. Wo Freiräume entstehen (wie in der Ganztagsschule), fehlen oft die Mittel, gegen Verunsicherung und Orientierungslosigkeit gezielt vorzugehen.
Aus langjährigem wissenschaftlich erprobtem Umgang mit der Wirkung von Kunstwerken haben wir ein Konzept entwickelt, bei dem wir Gruppen und Klassen von Jugendlichen einen andersartigen Zugang zur Wirklichkeit vermitteln. Kunst eröffnet Durchblicke darauf, was unsere Lebenserfahrung ausrichtet und zusammenhält. Daher kann ein psychologisch gestützter Umgang mit Kunst dazu beitragen, sich in geschütztem Raum mit den Bedingungen des eigenen Lebens (und Erlebens) anders und sinnstiftend auseinanderzusetzen.
In einem auf kunstpsychologische Praxis gestützten Pilotprojekt erproben wir den Einsatz von Kunst als Regulativ für Krisenerfahrung und leisten damit einen Beitrag gegen persönliche Verunsicherung und für eine erfolgreiche Orientierung von Kindern und Jugendlichen in der Kultur von heute.
2. Die Grundlagen
Unser Konzept gründet sich auf die Kulturpsychologie, die am Psychologischen Institut der Universität vor fünfzig Jahren entwickelt wurde. Der Psychologieprofessor Wilhelm Salber sieht in der Kunst einen „Königsweg“ zur Selbsterfahrung und nutzt Kunstwerke, um die Menschen für die Entwicklungsspielräume des Erlebens und Verhaltens zu sensibilisieren. In Kunstwerken werden die bewegenden Verhältnisse der seelischen Wirklichkeit erfahrbar – wenn wir es wagen, uns dem Dialog von Bild und Mensch zu stellen!
Darauf aufbauend setzt der Wirtschaftsmorphologe Hans-Christian Heiling die Kunst in psychologischen Einzel- und Gruppenprozessen (Coachings) ein, um Wirkungen spürbar zu machen, die sich in Worten nur mühsam fassen lassen. Die Bilder stören die Erzählfassung unserer Geschichten und eröffnen einen Zugang zu dem, was sich hinter der Fassade des Selbstverständlichen verbirgt. Heiling arbeitet seit vielen Jahren mit Wirtschaftsführern, die sich im Umgang mit Kunstwerken anders sehen lernen.
Unter Leitung des Hochschullehrers Herbert Fitzek haben Studierende an der Universität Köln und der UMC Potsdam die Bildanalysen für eine breite Öffentlichkeit verfügbar gemacht. Kunstvermittlung ist für die Studierenden zu einer grundlegenden Praxiserfahrung im Studium geworden. Die Initiative BILD | ER | LEBEN bietet Führungen in wichtigen Museen der Städte Berlin und Köln an, bei denen jeweils ein bestimmtes Werk Grundlage zu einer Reise in die Erlebenswirklichkeit der Besucherinnen und Besucher wird.
3. Das Konzept
Psychologisches BILD | ER | LEBEN unterscheidet sich in einem Punkt wesentlich von üblichen Museumsführungen: Gezeigt wird immer nur ein einzelnes Werk. Wenn Paul Klee behauptet, zu jedem Kunstwerk gehöre ein Stuhl, betont er, Kunst sei nicht im Vorübergehen zu entschlüsseln. Umgekehrt steht auch das Erleben der Bilder nicht still, wenn sich Zuschauer ihrer Wirkung stellen. Im Verlauf von 15 oder 20 Minuten „drehen“ sich Bilder und Ansichten unter Führung von geschulten Psychologen oft mehrfach um (einander).
Schon Freud hat das gewusst und in seiner jahrelangen geduldigen Rezeption des „Moses des Michelangelo“ ein Signal dafür gegeben, dass Kunstwerke ihr Geheimnis erst in ausdauernder Beschreibung verraten. Jenseits des Schubladendenkens von Erklärungen (über Inhalt, Stil, Meister, Technik und Intention) gerät die Wirklichkeit sinnlich ins Rotieren. Das setzt dem Führer der Juden nicht nur Hörner auf (oder ab) sondern verwandelt Macht in Ohnmacht, Autorität in Hilflosigkeit und fürsorgliches Dienen in blindes Wüten (und umgekehrt!).
Verwirrend ist die Wirkung von Kunst nur auf den ersten Blick. Wer das Stolpern über Unerwartetes aushält, lernt mehr über die Art und Weise, wie die seelische Wirklichkeit gebaut ist. Anders als bei der Wissens-vermittlung ist die Kunst keine Einbahnstraße; sie lässt spüren, was in einer einzelnen Sache drin ist – und was rauszuholen ist, wenn wir uns auf die Entwicklung der Bilder einlassen.
4. Unser Projekt
Vielleicht ist – trotz Beuys – nicht jeder gleich ein Künstler. Aber ein Gespür für die Wirkung von Kunst ist beinahe jedem zu vermitteln. Daher ist die Vermittlung des Zugangs zur eigenen Wirklichkeit über die Wirklichkeit der Bilder in der Arbeit mit Wirtschaftsführern, Museumsbesuchern, Studierenden, Jugendlichen und Kindern vielfältig zum Einsatz gekommen.
Hier setzt unser Umgang mit Jugendlichen an: Anders als in den Bewährungshierarchien von Schulstunde und Pausenhof fordert die Kunst zum Einlassen auf die ästhetische Logik des Suchens, Verfolgens, Verrückens und Entdeckens (auch „verrückten Entdeckens“) auf. Gerade junge Menschen brauchen die Erfahrung, dass außerhalb gespurter Wege Raum bleibt für Unerwartetes, Unverhofftes, auch Unerhörtes. Im Umgang mit Kunst zählen nicht solides Wissen und die schlaue Antwort – im Gegenteil: Gerade Schräges zeugt oft von (besserem) Durchblick.
Unser Projekt geht darüber noch hinaus. Wir sind der Auffassung, dass Kunst wirksam wird, indem sie zum Medium der Selbsterfahrung wird. Die Wirklichkeit der Bilder reflektiert den Prozess ihrer Entdeckung. Wir wollen Jugendlichen ermöglichen, die Bilder als Abbildung des Gruppenprozesses zu erfassen. Unser pädagogisches Ziel ist es, über die Kunst den Gruppenprozess selbst zu modellieren. Die Beschäftigung mit Kunstwerken bringt den Prozess ihrer Erfassung in jedem Bild (neu und anders) in Gang – und stellt die Gruppe so von Fall zu Fall eigentlich her. Dabei geraten Rollenverteilungen und Zuschreibungen spürbar in Bewegung.
Insofern betreten wir mit unserer Pilotstudie trotz der vielen Vorarbeiten Neuland. Wir wollen erforschen, inwieweit der psychologisch geschulte Umgang Bildwirkungen selbst als „Werk“ modelliert ist und die Kunstrezeption damit zum Medium für Gruppenerfahrung macht. Insofern verstehen wir unser Projekt als pädagogisches und psychosoziales Projekt: Wer sich als sinnhafter Teil eines Ganzen erlebt, baut Hemmungen und Aggressionen (gegen sich und die Gruppe) ab. Das kann als Intervention in Brennpunktsituationen und unter angespannten psychischen Bedingungen eingesetzt werden und soll in der Ausbauphase des Projektes systematisch umgesetzt werden.
5. Die Kunstwerke
Nach Goethe schließt jeder ästhetische Gegenstand ein neues Organ der Erfahrung von Wirklichkeit auf. Das ist beruhigend, verrät aber nicht, welches Bild zu welcher Einsicht führt. Den Bildern ist das im ersten Eindruck kaum anzusehen; deshalb untersuchen wir die Bildwirkungen genau, bevor wir mit den Werken arbeiten. Wirkungspsychologisch bringen die Bilder oft ganz andere Seiten der Wirklichkeit ins Spiel, als man ihnen ansieht: Da stehen etwa biblische Motive für die Angst vor dem Vieldeutigen der Wirklichkeit, für das Festgenageltsein an (unglücklichen) Entscheidungen, für die Ambivalenz von Gut und Böse, für die Scheinheiligkeit der falschen und richtigen Wege, für Anders-Sein, Streit, Aggression, Verrat, Mobbing.
In den Museen der Städte Köln und Berlin haben wir in den letzten Jahren ca. 20 Kunstwerke aus allen Epochen wirkungspsychologisch untersucht. Für den Umgang mit Schülern und Jugendlichen wählen wir die Bilder aus, in denen es besonders um Entwicklungsprobleme geht. Wir gehen mit Gruppen von etwa 8 bis 12 Jugendlichen vor die Bilder, am liebsten mehrfach im Laufe von einigen Wochen – wir folgen ihren Eindrücken und fordern zu Einfällen und Erzählungen auf. In den ca. 1 ½-stündigen Workshops in den Museen setzen wir nur Studierende ein, die in Gesprächsführung und Tiefeninterview ausgebildet sind.
6. Unsere Partner
BILD | ER | LEBEN ist ein Projekt, das Hans-Christian Heiling in Kooperation mit Herbert Fitzek und Studierenden der Hochschulen Universität zu Köln und UMC Potsdam initiieren. Wir arbeiten mit den Staatlichen Museen zu Berlin (Gemäldegalerie, Bodemuseum) und den Museen der Stadt Köln (Museum Ludwig, Wallraf-Richartz-Museum) zusammen. Am Pilotprojekt mit den Jugendlichen beteiligen sich das Paul-Klee-Gymnasium Overath, die Königin-Luise-Schule Köln sowie die Johann-Christoph-Winters Schule (Schule für Kranke an der Universitätsklinik Köln).