Warum wir Stolpersteine verlegen müssen
Drei Stolpersteinverlegungen in Deutz, Marienburg und Lindenthal - ich glaube, ich habe in meiner „Schulzeit“ noch nie eine solche Woche erlebt: emotional so anstrengend – und gleichzeitig so schön, so ergreifend und so sinnstiftend. Davon möchte ich gerne in ganz persönlicher Weise erzählen.
Seit mittlerweile sieben Jahren haben wir an der KLS ein „Erinnerungskonzept“ und entwickeln es ständig weiter. In den Projektkursen (und inzwischen auch Zusatzkursen) werden die Biographien ehemaliger jüdischer Schülerinnen und Lehrkräfte erforscht und im Gedenkbuch auf der Homepage der KLS veröffentlicht. Ihre Fotos sammeln wir in zwei Vitrinen als zentralem Gedenkort. Seit 2018 verlegen wir regelmäßig Stolpersteine für ehemalige Schülerinnen vor der Schule. Patenschaften und Finanzierung der Steine übernehmen immer Klassen und Kurse. Sie bekommen dafür eine Patenschaftsurkunde, gestaltet von den MG-Kursen und verliehen von der SV. Inzwischen werden auch zunehmend Stolpersteine für die Familien vor den ehemaligen Wohnorten verlegt, finanziert von Familien aus unserer Schulgemeinde.
In seinem Umfang, seinem Facettenreichtum und seiner inneren Geschlossenheit hat dieses Konzept enorme Bedeutung – und vieles von dieser Bedeutung war mir auch schon längst bewusst:
Wir geben den Opfern der NS-Diktatur ihre Namen, ihre Gesichter und ihre – oft vergessenen – Lebensgeschichten zurück. Damit retten, bewahren und ehren wir ihr Andenken.
So stellen wir uns auch unserer Verantwortung - nicht für die Verbrechen der NS-Zeit, denn an ihnen haben wir „Nachgeborenen“ keinen Anteil – aber für unseren Umgang mit unserer Geschichte und ihrer Bewältigung.
In der Auseinandersetzung mit konkreten und immer tragischen Einzelschicksalen verdeutlichen wir uns und anderen die Verbrechen der NS-Zeit, schaffen eine Mahnung für unsere Gegenwart und setzen ein Zeichen gegen jede Form von Ausgrenzung und Diskriminierung.
Wir arbeiten eng mit einer Vielzahl von Institutionen zusammen und profitieren sehr von ihrer Unterstützung, vor allem dem NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, dem Historischen Archiv, dem Gedenkort Jawne und vielen mehr. Doch wir erzielen immer auch einen Erkenntnisfortschritt und bereichern so das Wissen dieser Institutionen durch Informationen, Dokumente, Fotos.
Wir publizieren diese Erkenntnisse und machen sie damit der Öffentlichkeit zugänglich. Zunehmend werden diese Erkenntnisse wahrgenommen, von anderen Interessierten, von Forschungsinstitutionen, von Nachkommen der Opfer im In- und Ausland.
Schülerinnen und Schüler bekommen die Möglichkeit, forschend tätig zu werden: sich in einem selbstgesteuerten Prozess an einem selbst gewählten Thema einer Herausforderung zu stellen, ein sinnvolles eigenes Projekt zu gestalten und ihre Ergebnisse dauerhaft zu bewahren. Die bisherigen Arbeiten zeigen, zu welch beeindruckenden Leistungen intellektueller und emotionaler Art Schüler*innen in der Lage sind, wenn sie sich ein solches Projekt zu eigen machen.
Diese Bedeutung unseres Konzepts war mir immer bewusst, und genau deshalb sollte es genau so sein, wie es ist.
In der besagten Woche bin ich in intensiven persönlichen Kontakt zu vielen Angehörigen der Opfer gekommen – über den Mailverkehr bei der Vorbereitung, die persönliche Begegnung vor Ort, ihre Besuche in der Schule und viele sehr tiefgehende Gespräche im Anschluss. Dies alles hat mir die Augen für noch ganz andere Aspekte geöffnet und für eine noch viel weitergehende Bedeutung unserer Arbeit.
Auch wenn jüdische Familien dem Holocaust entkommen konnten, verloren sie oft ihren gesamten Besitz, Angehörige wurden ermordet, die Überlebenden über die ganze Welt verstreut. Der Kontakt zwischen Familienzweigen riss ab, Dokumente und Fotos gingen verloren. Und in den Familien der Opfer treffen wir häufig auf dasselbe Phänomen wie in den Familien der Täter. Hier wie dort wurde nicht über die Vergangenheit gesprochen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Jüdische Eltern wollten nicht an ihre eigenen Traumata rühren, oder sie wollten ihren Kindern diese schlimmen Erfahrungen ersparen. Neben vielen anderen schrecklichen Folgen führte all dies oft auch zu einem Verlust des Wissens um die eigene Familiengeschichte. Und wie die Sicht auf Deutschland und die Deutschen war, braucht man vermutlich nicht eigens zu sagen.
Wenn wir Kontakt zu Nachkommen gewinnen, profitieren wir häufig von ihrer Unterstützung, wenn sie uns Informationen, Dokumente oder Fotos zur Verfügung stellen. Oft aber erfahren die Nachkommen auch erst durch unsere Arbeit Dinge, die ihnen bisher völlig unbekannt waren. So kann dieser Kontakt für die Familien auch der Einstieg in eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte sein.
Diese gegenseitige Bereicherung habe ich beispielsweise in dem intensiven Mailkontakt mit Terry Mandel, der Tochter von Ingelore Silberbach, im Zuge der Vorbereitung ihres Besuchs in Köln erlebt. Noch eine andere Dimension hatte dies bei den Angehörigen von Edith Rubens.
„I just want to write and say how wonderful it was to meet you all (...), especially those whom I'd never had the pleasure of meeting before! At 72 years of age, it is quite a surprise to discover that I have all these family members spread so far and wide!” - so eine Nichte von Edith Rubens. Anlässlich der Stolpersteinverlegung traf sich eine große Zahl von Angehörigen verschiedener Familienzweige in Köln – aus Chile, den USA, Kanada, Großbritannien, Israel und Deutschland. Viele hatten sich seit Jahren nicht gesehen, viele noch nie, und viele wussten nicht einmal voneinander. Gemeinsam widmeten sie sich der eigenen Geschichte, tauschten Nachrichten und Fotos, besuchten die KLS, das NS-Dok, den jüdischen Friedhof in Bocklemünd, die früheren Wohnorte und Arbeitsstätten der Familie, schlossen neue Freundschaften und gewannen neue Kontakte.
Terry Mandel besuchte anschließend noch Bad Salzufflen, woher ihre Familie ursprünglich stammte. Und sie lernte die heutigen Besitzer des Hauses in Lindenthal kennen, in dem ihre Mutter und ihre Tante aufgewachsen waren. Ihnen war überhaupt nicht bekannt, dass ihr Haus 20 Jahre lang im Besitz einer jüdischen Familie gewesen war. Und es war ihnen ein tiefes Bedürfnis, dass vor diesem Haus Stolpersteine zur Erinnerung an die früheren Besitzer verlegt wurden. Auch hier ist eine Freundschaft entstanden. Ungemein berührend war Terrys Bericht von einem gemeinsamen Essen in diesem Haus, bei dem Geschichten und Fotos ausgetauscht wurden und schließlich alle Beteiligten sich mit alten Fotos auf Spurensuche begaben. Dabei fand Terry beispielsweise das nahezu unveränderte Kinderzimmer ihrer Tante – in dem sich nun das Kinderzimmer der Tochter der heutigen Besitzer befindet.
„Dear Lovis, (…) you´ve been in my mind all along. I don´t need to tell you how thankful I am for having been the starting point of all that happened beginning October 19th.“ Daniela Rubens, die Nichte von Edith Lorant-Rubens, schreibt hier an unseren ehemaligen Schüler Lovis (Abi 2020), der die Biographie ihrer Tante erforscht hat. Terry Mandel könnte sicher dasselbe an Anna (Abi 2022) schreiben, Johnny Cahn an Carla (Abi 2022). In allen Fällen war ihre erste Mail auf der Suche nach Angehörigen „ihrer“ Schülerin der Auslöser für alle diese Entwicklungen – und noch viel mehr.
Den Stolperstein für Edith Rubens an der KLS hatte eine Patenklasse gestiftet. Dies hatte die Familie dazu veranlasst, nun selbst Stolpersteine für ihre Angehörigen in Lindenthal zu verlegen. Die Steine für Terrys Familie in Marienburg waren unter Vermittlung des NS-Dokumentationszentrums von einer Stifterfamilie aus London finanziert worden, die ursprünglich ebenfalls aus Köln stammte und aufgrund ihrer jüdischen Religion hatten fliehen müssen. Terry steht auch zu ihnen in Kontakt – und hat sich ihrerseits dazu entschlossen, nun die Patenschaft für die Stolpersteine anderer NS-Opfer zu übernehmen. Vielleicht wird sie dies gemeinsam mit uns von der KLS machen, Pläne dafür reifen jedenfalls.
Nicht in allen Fällen finden wir Angehörige unserer ehemaligen Schülerinnen. Aber wenn wir sie finden – und wir finden sie nicht selten –, dann ist die Reaktion fast immer genau so wie bei den Familien Cahn, Rubens oder Silberbach. Jede beginnende Recherche im Projektkurs, jede erste Anfrage an mögliche Nachkommen, jede Stolpersteinverlegung und jede Übernahme einer Patenschaft kann der Auslöser sein, aus dem sich all das entwickelt, was ich in dieser Woche im Oktober erleben durfte. Und neben aller Bedeutung, die das für uns an der KLS hat, tun wir damit das Wichtigste, was es auf der Welt gibt: Wir bereichern andere Menschen, und wir machen sie glücklich.
Auch wenn es pathetisch klingen mag, ist es doch vollkommen zutreffend: Wir tun damit in jedem einzelnen Fall auch etwas für die Wahrnehmung Deutschlands in der Welt. Die Angehörigen sind zutiefst berührt davon, dass deutsche Schüler das Andenken ihrer Angehörigen ehren und bewahren. Sie erkennen an, welche Fortschritte wir inzwischen bei der Auseinandersetzung mit unserer eigenen Vergangenheit gemacht haben. Und im Vergleich mit den Erfahrungen in ihren eigenen Heimatländern – nicht nur in Chile, auch in Großbritannien oder den USA – wird unser Tun als vorbildhaft wahrgenommen.
„Wir sehen hier eine Generation deutscher Schüler, die uns die Gewähr bietet, dass so etwas in Deutschland nie wieder geschehen kann.“ - so ein Mitglied der Familie Rubens anlässlich der Stolpersteinverlegung in Lindenthal. Auch wenn wir nicht aufhören dürfen, dieser Sicht auch gerecht zu werden – kann es ein besseres Kompliment für uns geben als ein solches Lob aus dem Mund eines Mannes, dessen Angehörige von Deutschen verfolgt, entrechtet, vertrieben oder ermordet wurden?
Es gibt vieles in der Welt, das unser Engagement – auch unser finanzielles Engagement fordert. Die Tierheime platzen aus allen Nähten wegen des verantwortungslosen Benehmens von Menschen in der Coronazeit. Die schrecklichen Auswirkungen des Ukraine-Krieges sehen wir jeden Tag im Fernsehen, ebenso das Leid und die Not in Syrien, im Jemen, in vielen anderen Teilen der Welt. Und auch bei uns brauchen Menschen Hilfe, zum Beispiel bei der Weihnachtsaktion der Kölner Tafel. All dies dürfen wir nicht vergessen.
Aber neben all dem müssen wir auch weiterhin Stolpersteine verlegen lassen. Und ich kann alle Klassen und Kurse, ihre Lehrer und Eltern nur ermutigen, sich für weitere Stolperstein-Patenschaften zu interessieren.
Dirk Erkelenz