Mina Wolff (geb. Speier-Holstein)

von Mina Müller

 

Im Projektkurs Geschichte der Königin-Luise-Schule beschäftigen wir uns mit der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Ein Ziel des Kurses besteht darin, einigen der vielen Opfer des Nationalsozialismus eine Geschichte zu geben.

Erreicht werden soll dies durch den Versuch, die Biographien ehemaliger jüdischer Schülerinnen der Königin-Luise-Schule zu rekonstruieren.

In der von mir geschriebenen Biographie beschäftige ich mich mit Mina Wolff, geborene Speier-Holstein.

Die Vornamensgleichheit mit Mina Wolff ist natürlich dem Zufall geschuldet und dennoch: Als Herr Erkelenz mir vorschlug, über Mina Wolff zu arbeiten, war ich schnell sicher, über sie schreiben zu wollen, um an ihr Leben zu erinnern.

Es scheint schwer, sich in die Lebenssituation von Jüdinnen, Juden und der vielen weiteren von den Nationalsozialisten verfolgten Menschen zu Beginn der neunzehnhundertdreißiger Jahre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu versetzen. Ein menschliches Leben ist mehr als die Aneinanderreihung von Ereignissen. Und so ist diese vorliegende Biographie auch nur das verschriftlichte Ergebnis einer Annäherung an das Leben von Mina Wolff anhand geschichtlicher Daten.

Eine weitere Dimension erhielt diese Annäherung, als ich während meiner Recherchen auf die Biographie von Minas Sohn Jonas Wolff stieß. Jonas Wolff gelang im August 1938 die Flucht nach England. Er überlebte den Holocaust und schrieb später in den USA seine Biographie.

Jonas Wolff schreibt:

My mother handed me a bar of chocolate, I kissed her good-bye, and got on the train never to see her or my father again.

[„Meine Mutter gab mir eine Tafel Schokolade, ich gab ihr zum Abschied einen Kuss, stieg in den Zug und sah weder meine Mutter noch meinen Vater jemals wieder.”, Übersetzung M.M.]

Den einzigen Sohn ziehen zu lassen, zu ahnen, dass ein Wiedersehen nicht stattfinden wird, und Trost allein aus der Hoffnung zu ziehen, dem Sohn so sein Überleben zu sichern, ist von einer Endgültigkeit wie wenige andere Entscheidungen in einem Leben. Die Vorstellung dieser Situation, in der Jonas Wolff seine Mutter zum letzten Mal sah, ist von einer Eindringlichkeit, die mich tief berührt hat. Das Schokoladen-Papier hat Jonas Wolff bis zu seinem Tod im Jahr 2015 aufbewahrt.

Die aus all diesen Mosaiksteinchen zusammengesetzte Vergegenwärtigung erneuert die Erkenntnis, dass es ein Vergessen des deutschen Zivilisationsbruchs niemals geben darf und es in unser aller Verantwortung liegt, zu verhindern, dass sich dieser Teil deutscher Geschichte wiederholt.

Quellenlage

Ausgangspunkt meiner Recherche zu Mina Wolff war eine Absolventinnenliste im Schuljahresbericht der Königin-Luise-Schule aus dem Schuljahr 1910/1911. Hierin fanden sich ihr Geburtsname, noch als Minna Holstein ausgewiesen, ihr Geburtsdatum, ihre Religionszugehörigkeit und ihre frühere Schule sowie Name, Stand und Anschrift ihres Vaters Juda Speier-Holstein.

Weitere Ergebnisse meiner Internet-Recherche ergaben sich in Verbindung mit Minas Geburtsdatum. Die meisten Informationen zu Mina fand ich über ihren späteren Ehenamen Wolff und nicht über ihren Geburtsnamen Holstein.

Den ersten Durchbruch erreichte ich, als es mir unter Zuhilfenahme der Genealogie-Website geni.com möglich wurde, Minas Familienstammbaum darzustellen. Auf der Website finden sich viele und genaue Datumsangaben zu Minas engerem Familienkreis.

Ausgehend von oben erwähnter Ergänzungsmeldung und der Anschrift von Minas Vaters wusste ich, dass die Familie im Jahr 1910 in Köln gelebt hat. Das sukzessive Durchforsten der für Köln archivierten Adressbücher der Jahre 1895 bis 1921 erlaubte in Folge die Rekonstruktion der verschiedenen Wohn- und Gewerbeorte von Minas Vater in Köln. Unter der Annahme, dass Mina bis zu ihrer Hochzeit bei ihren Eltern gelebt hat, lassen sich so Minas Stationen in Köln nachzeichnen. In weiteren Quellen, meist jüdischen Gedenkseiten, fand ich Hinweise auf den letzten Wohnort Minas und ihres Mannes, bevor beide ins Ghetto Litzmannstadt (heutiges Łódź) deportiert wurden. Allmählich ergaben sich so die Eckdaten von Minas Leben und dem ihrer Familie.

Die Entdeckung der Biographie „Memoirs” von Minas Sohn Jonas Wolff erleichterte es mir, durch die subjektive Erinnerungsperspektive des Sohnes die Räume zwischen den nackten Daten weiter mit Leben zu füllen.

Minas Kindheit
Geburtsurkunde Mina Holstein, Auszug aus dem Familienbuch (NS-Dok Köln)

Mina wird am 16.06.1883 in Gensungen (Hessen) als Mina Speier-Holstein geboren.

Als Tochter von Juda Speier-Holstein und Sarah Speier-Holstein, geborene Kahn, ist Mina das zweite von insgesamt dreizehn Kindern der Familie:

  • Florette „Blümchen“, geboren 31.05.1882 in Gensungen
  • Mina, geboren 1883 in Gensungen
  • Levi, geboren 20.06.1885 in Barmen-Elberfeld
  • David, geboren 18.09.1886 in Barmen-Elberfeld
  • Viktor, geboren 17.02.1890 in Köln
  • Miriam, geboren ca. 1891 in Köln
  • Rachel, geboren 11.05.1891 in Köln
  • Mordechai, geboren 22.10.1893 in Köln
  • Samuel, geboren 17.09.1895 in Köln
  • Rebecca, geboren ca. 1897 in Köln
  • Leah, geboren 21.04.1899 in Köln
  • Adolf Aron, geboren 06.09.1901 in Köln
  • Eugenie, geboren 23.07.1904 in Köln

 

Bis zum Umzug der Familie nach Barmen-Elberfeld bei Wuppertal verbringt Mina die ersten Jahre ihrer Kindheit im nordhessischen Gensungen.

Minas Mutter Sarah Kahn wurde am 02.07.1859 in der belgischen Hauptstadt Brüssel geboren. Der Zeitpunkt ihrer Übersiedlung nach Deutschland ist nicht bekannt. Ihre Muttersprache ist Französisch, möglicherweise bringt sie ihren Kindern diese Sprache als Zweitsprache bei.

Vermutlich im Jahr 1890 zieht Mina im Alter von sieben Jahren mit ihrer Familie in die Großstadt Köln. Da Gensungen und auch Barmen-Elberfeld um einiges kleiner als Köln sind, steht zu vermuten, dass dieser Städtewechsel eine große Umstellung für Mina selbst und die gesamte Familie bedeutet. Die Tatsache, dass sie ihren Gensungener Freundeskreis zurücklassen muss, mag sie zudem als belastend erfahren haben.

Der erste Kölner Wohnort der Familie findet sich unter der Adresse In der Höhe 37 in einem Haus mitten in der Innenstadt an der Hohe Straße. In den ersten beiden Jahren in Köln hat Minas Vater zunächst keinen Beruf. Diese Zeit wird für die Familie wirtschaftlich nicht leicht gewesen sein.

Es ist anzunehmen, dass der jüdische Glaube in Minas Familie zur Zeit ihrer Kindheit eine wichtige Rolle spielt, denn Minas Vater Juda ist ein „Talmud Hochem” (ein den Talmud Vortragender) mit dem Titel des Horav (hebräisch für „Lehrer“).

Mina besucht die benachbarte interkonfessionelle städtische höhere Mädchenschule, aus der die heutige Königin-Luise-Schule hervorgehen sollte. Erst im Jahr 1919 entsteht in der Nachbarschaft das jüdische Reform-Realgymnasium Jawne in der Kölner Sankt-Apern-Straße 29-31.

Im Jahr 1898 ziehen die Speier-Holsteins an die Adresse Lindenstraße 17 im Kölner Komponistenviertel nahe dem Rathenauplatz - so genannt, weil sich unmittelbar angrenzend Mozart, Beethoven und weiteren Komponisten gewidmete Straßennamen finden. Ab diesem Jahr übt Juda Speier-Holstein den Beruf des Kassierers aus. Die Familie wird sieben Jahre an dieser Adresse wohnen.

Das Jahr 1905 bringt für die Familie den nächsten Umzug mit sich, es geht in die nahegelegene Engelbertstraße 14.

Für das Jahr 1910 findet sich für Juda Speier-Holstein als Wohnort die Adresse Zülpicher Str. 40 und die Angabe, dass er einen Vertrieb für Pflanzenbutter betreibt. In Familiengeschichten wird berichtet, Minas Vater habe als Erster die Margarine nach Deutschland gebracht. Mina erzählt später ihrem Sohn, es sei als Kind ihre Aufgabe gewesen, schlecht gewordene Margarine zu Fuß zum 4711-Gebäude in der Glockengasse zu bringen.

Während Minas Kindheit zieht die Familie innerhalb Kölns dreimal um. Sie verbleibt dabei stets im selben Viertel, so dass die Wohnungen nie weit voneinander entfernt liegen. Ob private oder berufliche Gründe für diese häufigen Umzüge verantwortlich sind, lässt sich nicht rekonstruieren. Allerdings entspricht dies durchaus einem allgemeinen Phänomen dieser Zeit, einer ausgeprägten innerstädtischen Wanderung.

Ab 1920 findet sich für Juda Speier-Holstein kein Eintrag mehr unter der Adresse Zülpicher Straße 40. Stattdessen ist nun sein Sohn David Speier-Holstein unter dieser Adresse verzeichnet. David Speier-Holsteins Kinderarztpraxis befindet sich auf der Ehrenstraße 31.

Schulzeit und Ausbildung
Höhere Töchterschule (heutige Königin-Luise-Schule) in der Sankt-Apern-Straße in Köln, um 1920 (Schularchiv)


Der Verlauf von Minas Schulzeit ist leider nicht eindeutig nachvollziehbar. Anhand der verfügbaren Daten lassen sich lediglich Vermutungen aufstellen, wie genau ihre Schulzeit und spätere Ausbildung verliefen.

In den Jahren 1910 und 1911 erscheint Minas Name im Schuljahresbericht der städtischen Königin-Luise-Schule (damals noch Höhere Mädchenschule I) in der Sankt-Apern-Straße, die seinerzeit die Höhere Töchterschule und das Lyzeum (vergleichbar dem heutigen Gymnasium) umfasste.

Die durch Minas Eltern getroffene Schulwahl für Mina sowie die späteren Berufe der Brüder Victor, David und Levi lassen vermuten, dass Minas Eltern durchaus aufstiegsorientiert sind und hierfür auch über die nötigen finanziellen Mittel verfügen. Minas Brüder Victor und David studieren Medizin; ihr Bruder Levi wird später, wie Mina, Lehrer.

Wenn Minas Schulzeit regulär verläuft, kommt sie im Alter von sechs Jahren in die Grundschule und vier Jahre später im Alter von zehn Jahren auf die Höhere Schule in Köln, die sie bis zum sechzehnten Lebensjahr besucht.

Die Schulform der Höheren Töchter- oder auch Mädchenschule existiert im Kaiserreich von 1871 bis 1918. Sie entsteht aus der Kritik an der damaligen allgemeinen Mädchenschule und -bildung und gilt als Vorläufer der späteren Mädchengymnasien.

Zu jener Zeit ist die Königin-Luise-Schule die einzige städtische Mädchenschule. Die vielen weiteren privaten Schulen sind in der Regel konfessionell gebunden. Konfessionell nicht gebundene Schulen scheinen gerade für viele jüdische Familien liberaler. Auch konservative oder orthodoxe Familien sind aufstiegs- und bildungsorientiert, deshalb sind jüdische Schülerinnen deutlich überrepräsentiert – das gilt offenbar auch für Minas Familie.

Minas Sohn schreibt, dass Mina an einem Lehrerinnenseminar (teacher’s seminary) in Basel in der Schweiz teilnahm. Diese Information ist allerdings durch Aufzeichnungen nicht eindeutig zu belegen.

Im Schuljahresbericht ist lediglich aufgeführt, dass Mina eine bestandene Lehrerinnenprüfung an einer Höheren Mädchenschule 1 absolviert hat. Dass hier keine zusätzliche Angabe zum Ort der Schule gemacht wird, spricht daher dafür, dass die Königin-Luise-Schule selbst gemeint ist und dass Mina hier nach dem Lyzeum eine vierjährige Ausbildung zur Lehrerin macht. Den Abschluss erreicht man hier regulär mit ungefähr 20 – für Mina wäre das also etwa 1903 gewesen.

Die auch von Minas Sohn erwähnte Ausbildung zur Turnlehrerin (gymnastics teacher) schließt sie im Jahr 1910/1911 im Alter von bereits 27 Jahren ab.

Leben in Mannheim
Lemle-Moses-Klaus-Synagoge in Mannheim, um 1900

Ob Mina nach Abschluss ihrer Ausbildung tatsächlich als Lehrerin arbeitet, wissen wir nicht. Auch über die folgenden 10 Jahre fehlen uns Informationen.

Offenbar lernt Mina in dieser Zeit ihren späteren aus Pfungstadt in Süd-Hessen stammenden Ehemann Baruch Bernhard Wolff in einer Bücherei kennen. Die genaueren Umstände wie auch der Zeitpunkt der Heirat sind nicht bekannt.

Im Jahr 1921 allerdings zieht das Ehepaar nach Mannheim. Baruch arbeitet zu dieser Zeit als Ingenieur. Mina wird ihren Lehrerinnenberuf aufgrund des seinerzeit geltenden Lehrerinnenzölibats als verheiratete Frau nicht mehr ausüben können.

Zu Beginn des selben Jahres, am 11.02.1921, wird ihr Sohn Jonas Wolff in Mannheim geboren.

Laut Jonas Wolffs Autobiographie lebt die junge Familie zuerst in der Mannheimer Böckstraße 6, von wo aus sie zwei Jahre später in die nicht weit entfernte Werftstraße 15 zieht.

 

Jonas erinnert sich an das Haus in der Werftstraße, in dem er aufwuchs:

The Werftstrasse apartment house had four parts, the ‘Vorderhaus’ (front), the ‘Hinterhaus’ (rear), the basement, and a small yard beyond the ground floor entrance hall. We lived in the walk-up fourth floor Vorderhaus apartment which had six rooms each entered by a long hall. (…) Immediately to the left after the apartment entrance door was the toilet which had no artificial light and which could not have been farther from the bedrooms at the end of the hall. (…) After some 25 feet down the hall, where there stood a ‘Garderobe’, an elaborate coat, hat and umbrella stand with a mirror, it took a left right angle for another 25 feet. There was one redeeming feature: it lent itself for bicycle practice. After the turn, the first room on the left was the kitchen, and the first room on the right the ‘Herrenzimmer’ (…). The next room on the left contained an alcove for the bathtub, my father‘s photography cabinet, and a chest of drawers full of various kinds of tools but none for woodworking, my mother’s sewing machine complete with foot treadle, my bed, a long table and a bench , and a French door to the balcony on which were several potted plants including an oleander tree. (…) Across the hall from this room were two doors; one led to the ‘Wohnzimmer’ (…) which also had a connecting door to the Herrenzimmer, and the other door led to my parents’ bedroom. From the bedroom windows the police station (…) came into view."

 

[„Das Wohnhaus in der Werftstraße bestand aus vier Teilen, dem Vorderhaus, dem Hinterhaus, dem Keller und einem kleinen Hof hinter der Eingangshalle im Erdgeschoss. Wir wohnten in der begehbaren Vorderhauswohnung im vierten Stock, die sechs Zimmer hatte, die man durch einen langen Flur betrat. (...) Unmittelbar links nach der Wohnungseingangstür befand sich die Toilette, die kein künstliches Licht hatte und nicht weiter von den Schlafzimmern am Ende des Flurs entfernt sein konnte (...). Nach etwa 25 Fuß [ca. 7,5m, MM] den Flur hinunter, wo eine ‚Garderobe‘ stand, ein kunstvoller Mantel-, Hut- und Schirmständer mit einem Spiegel, ging es weitere 25 Fuß nach links und rechts. Es gab einen positiven Aspekt: Man konnte dort Fahrrad fahren. Nach der Kurve war der erste Raum auf der linken Seite die Küche und der erste Raum auf der rechten Seite das ‚Herrenzimmer‘ (...). Das nächste Zimmer auf der linken Seite enthielt eine Nische für die Badewanne, den Fotokasten meines Vaters und eine Kommode mit verschiedenen Werkzeugen, aber keinem für die Holzbearbeitung, die Nähmaschine meiner Mutter mit Fußpedal, mein Bett, einen langen Tisch und eine Bank sowie eine Balkontür, auf der mehrere Topfpflanzen standen, darunter ein Oleanderbaum. (...) Auf der anderen Seite des Flurs befanden sich zwei Türen; eine führte zum ‚Wohnzimmer‘ (...), das auch eine Verbindungstür zum Herrenzimmer hatte, und die andere Tür führte zum Schlafzimmer meiner Eltern. Von den Schlafzimmerfenstern aus konnte man das Polizeirevier sehen.”, Übersetzung M.M.]

 

 

Die detaillierten Erinnerungen aus Jonas Wolffs Biographie ergeben das Bild einer durchaus großzügig geschnittenen Wohnung, die von ihm auch zum Spielen genutzt wurde. Die Vorderhauslage der Wohnung deutet zudem darauf hin, dass es den Wolffs zu jener Zeit wirtschaftlich nicht schlecht geht, die günstigeren Wohnungen befinden sich in der Regel im Hinterhaus.

 

Im Weiteren erzählt Jonas Wolff von seiner Bar Mitzwa, dem Fest zum Erreichen seiner religiösen Mündigkeit, für das ihm Mina eigens einen Anzug näht. Das wöchentliche Begehen des Schabbat ist zu jener Zeit fester Bestandteil des Familienlebens. Jonas Wolff berichtet, sie seien Teil der orthodoxen „Klausschule“ gewesen. Bei der Klausschule handelt es sich vermutlich um die Mannheimer Lemle-Moses-Klaus-Schule, eine Talmudschule mit Synagoge, die ab 1708 im Quadrat F1, 11 in der Mannheimer Innenstadt bestand. Ab dem 19. Jahrhundert wurde sie oft auch verkürzt „Klaussynagoge“ genannt.

Spätestens mit der Geburt ihres Sohnes ist Mina Hausfrau. Jeden Morgen um 6 Uhr in der Früh macht sie zum Fitnessprogramm im Radio Sport, woran auch Jonas teilnimmt. Minas früherer Beruf als Gymnastiklehrerin strahlt auch jetzt noch in den Alltag der Familie. Als Jonas älter wird, besucht er einen jüdischen Sportclub, bei dem Mina ihn angemeldet hat.

Über die Gründe, die Mina mit der Geburt ihres Sohnes zur Aufgabe ihres Berufs veranlassen, lässt sich nur spekulieren. Möglich ist, dass sie schlicht dem damaligen Frauenbild folgt, demzufolge eine Frau ihre Erfüllung als Mutter und Hausfrau finden soll.

Familie Wolff, Mitte der 1930er Jahre, Mina (17) und Baruch (18) mit ihrem Sohn Jonas (ganz links), Baruchs Schwägerin Irma (16) und ihr Sohn Gerhard (19) sowie Baruchs Mutter „Oma“ Malchen (20) (Yad Vashem)
Mina Wolff mit Sohn Jonas und Ehemann Baruch Bernhard (v.l.n.r.), Mitte 1930er Jahre (Yad Vashem)

Neben der Begeisterung für den Sport geht aus Jonas Wolffs Erzählungen noch eine weitere von Minas Betätigungen hervor. Mina näht viel: bis zu Jonas’ vierzehntem Lebensjahr näht sie alle Kleidungsstücke ihres Sohnes, ebenso wie ihre eigene Kleidung und die von ihr benötigten Haushaltsartikel.

Kriegsbeginn

Am 29.08.1938 verlässt der Sohn Jonas Wolff Deutschland. Mit Unterstützung seiner Tante Rebecca und des Reading Refugee Committee gelingt ihm als Lehrling die Ausreise nach England. Die Exzesse der Reichspogromnacht vom 09. auf den 10.11.1938 muss er nicht miterleben. Nur Mina verabschiedet ihn am Bahnsteig. Jonas‘ Schilderungen zufolge fällt es den Eltern nicht leicht, ihn gehen zu lassen.

Nach Jonas Flucht sollen Mina und Baruch nach Frankfurt gezogen sein. Nach den Novemberpogromen 1938 beantragen sie eine Kontingentnummer des U.S.-Konsulats in Stuttgart und erhalten die Nummer 42291. Dies soll ihr einziger Versuch zur Flucht aus Deutschland bleiben. Baruch wird zunächst zum Arbeitsdienst eingezogen. Er muss “Handarbeit im Freien” (“outdoor manual labor”) verrichten, was ihm aufgrund seines Alters schwer fällt. Ein Verwandter besorgt ihm kurz nach Kriegsbeginn eine Stelle als technischer Ausbilder in einer jüdischen Anlehrwerkstatt.

Deportation und Ermordung
https://www.statistik-des-holocaust.de/OT411019-55.jpg)

Während sich für die meisten von Minas Geschwistern das Jahr und der Ort ihrer Ermordung bestimmen lassen, findet sich für Mina und Baruch gesichert nur das Datum ihrer Deportation. Dokumentiert ist, dass Mina und Baruch am 20.10.1941 aus der Frankfurter Joseph-Haydn-Straße 37 ins Ghetto Litzmannstadt, auch als Ghetto Łódź bekannt, deportiert werden. Mina wird ihrem Sohn zufolge in Auschwitz ermordet, Baruch Bernhard stirbt am 24.03.1942 im Ghetto Litzmannstadt.

Die Familie Speier-Holstein
Familie Speier-Holstein um 1930: Blümchen (1), Adolf (2), Rachel (3) und ihr Sohn Leo (11), Mordechai (4), Bella (5) und ihr Mann Levi (6), Victor Emmanuel (7), David (8) und seine Söhne Leo (10) und Harry (12), Eugenie (9) und Samuel (13) (Yad Vashem)

 

Minas Ermordung durch die Nationalsozialisten fügt sich auf grauenvolle Weise in das Schicksal der Familie Speier-Holstein: von Minas dreizehn Geschwistern haben nur zwei überlebt, ihre Schwestern Leah und Rebecca.

 

Minas Vater Juda Speier-Holstein ist 1859 im heutigen Felsberg in Hessen geboren. Seine genauen Todesumstände sind unklar. Da er im Jahr 1938 in Köln im Alter von 79 Jahren noch vor der Pogromnacht stirbt, lässt sich vermuten, dass es sich um einen natürlichen Tod handelt.

Minas Mutter Sara Kahn, 1859 in Brüssel geboren, stirbt 1942 im Fort V in Köln Müngersdorf, wo sie vorher untergebracht war. Die dortigen schrecklichen Verhältnisse sind vermutlich mitverantwortlich für ihren Tod.

 

Minas ältere Schwester Florette, “Blümchen”, wird 1942 ins Ghetto Łódź (Litzmannstadt) deportiert und dort ermordet.

 

Ihr Bruder Levi wird 1942 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet, ebenso seine Ehefrau Bella, geboren 24.02.1893 in Pfungstadt, sowie seine Söhne Victor, geboren 05.10.1924 in Köln, und Joachim, geboren 05.01.1926 ebenfalls in Köln.

 

Minas Bruder David und seine Ehefrau Rosalie Weinberg, geboren 1899 in Sülzburg, sterben 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen in Niedersachsen. Sein damals 16jähriger Sohn Harry, geboren 03.09.1929, wird, wie seine Eltern, 1945 in Bergen-Belsen ermordet. Dessen Bruder Leo, geboren 04.12.1927 in Köln, stirbt 1945 in Tröbitz, vermutlich im sogenannten „Todeszug von Tröbitz“. Der einzige Überlebende der drei Brüder ist der 1945 dreizehnjährige Joseph, geboren 12.10.1931 in Köln, der auf mir unbekannte Weise fliehen kann und 1991 in Jerusalem stirbt.

 

Todesdaten, sowie genaue Geburtsdaten, zu Minas Schwester Miriam sind nicht bekannt.

Vermutlich ebenfalls 1942 in Auschwitz ermordet werden Minas Schwester Rachel Rosa und ihr Sohn Leo Ludwig, geboren 29.04.1925 in Dortmund. Rachels Ehemann Isaak Jakob Reiter, 1883 in Czernowitz geboren, stirbt 1943 im Ghetto Riga. Nur Sohn Otto Jehuda Reiter kann fliehen und lebt bis zu seinem Tod im Jahr 1995 in Haifa, Israel.

Familienfoto Familie Speier-Holstein, ca. 1932 Levis Sohn Joachim (14), Rachels Sohn Leo (15) (Yad Vashem)

 

Minas Bruder Mordechai, 1893 in Köln geboren, wird im Februar 1940 ins Ghetto Litzmannstadt deportiert.

 

Samuel Speier-Holstein stirbt 1942 im Vernichtungslager Chelmno.

 

Adolf Aron wird 1942 im Konzentrationslager Westerbork in den Niederlanden ermordet, seine Ehefrau Irma Simon, geboren 27.06.1898 in Gemonde in den Niederlanden, im Jahr 1943 im Vernichtungslager Sobibor. Das einzig mir bekannte Kind Alfred, geboren 18.01.1938 in Hilligsberg, soll ebenfalls im Alter von fünf Jahren in Sobibor ermordet worden sein.

 

Minas Schwester Eugenie ermorden die Nationalsozialisten an ihrem Geburtstag, dem 23.07. 1943, im Vernichtungslager Sobibor im durch die Deutschen besetzten Polen. Ihr Ehemann Mendel Cohen, geboren 07.08.1902 in Hamburg, wird auch 1943 in Sobibor ermordet, genauso wie ihre Töchter Eva, geboren 29.08.1933 in Hamburg, und Ruth, 28.06.1936 in Hamburg.

 

Nur Minas Schwestern Rebecca, genannt Becka, und Leah, können fliehen.

Die genauen Umstände ihrer Flucht sind nicht bekannt. Leah verstirbt im Jahr 1977 in Rochester, Monroe im Bundestaat New York, USA. Ihr Ehemann Dr. Israel Schiffres, geboren 04.08.1898 in Grodno, stirbt 1967 in Adelboden in der Schweiz. Einer der beiden Söhne, Irwin, geboren 10.06.1930 in Köln, überlebt den Holocaust. Leo, der im August 1938 geboren worden sein soll, stirbt noch im selben Jahr.

Es war die ins englische Reading entkommene Rebecca, die Minas Sohn Jonas Wolff die Flucht ermöglichte. Sie verstirbt im Jahr 1951 in London.

 

Geben die bloßen Daten nur wenig Einblick in Alltag und Leben der ermordeten Menschen, so führen sie doch das schreckliche Ausmaß vor Augen, mit dem die Nationalsozialisten den Tod über die von ihnen selektierten Menschen brachten und so ganze Familien auslöschten.

Stammbaum der Familie Speier-Holstein

Quellen:

ERKELENZ, DIRK/KAHL, THOMAS (Hrsg.): Jüdische Schülerinnen und Schüler an Kölner Gymnasien, Berlin, Metropol-Verlag, 2023
JUNG, WERNER: Köln im Nationalsozialismus. Ein Kurzführer durch das ELDE Haus, Köln: 2010

MERGEL, THOMAS: Köln im Kaiserreich 1871–1918. (Geschichte der Stadt Köln, Bd. 10.), Köln, Greven: 2018

WOLFF, JONAS / TUTEUR-WOLFF, ILSE (additional contributions): Memoirs, Schenectady, NY, USA: 2007

GESCHICHTSWERKSTATT KÖLN-MÜHLHEIM (Hrsg.): Die jüdische Gemeinde Köln-Mülheim und ihr Friedhof, Köln 2020
Profil von Mina Wolff bei geni.com (https://www.geni.com/people/Mina-Wolff/6000000009525548961)

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