Ilse Deutsch
von Joshua Driessen und Rosa Hoppe
Ilse Franziska Deutschs Geschichte hat uns das erste Mal ergriffen, als Herr Stiegel bei der letzten Stolpersteinverlegung eine Rede für sie gehalten hat.
Schon bevor wir Ilse Deutsch als Thema zugeteilt bekamen, standen der Schule durch Herrn Erkelenz Informationen über Ilse zur Verfügung.
Die Schlüsselquelle stellte dabei eine Zeitzeugenaussage einer Freundin von Ilse dar, die in dem von Horst Matzerath veröffentlichten Buch „'vergessen kann man die Zeit nicht, das ist nicht möglich' – Kölner erinnern sich an die Jahre 1929-1945“ enthalten ist. Die Freundin aus Ilses Studienzeit, Erika Landsberg, berichtet dabei, dass Ilse kurze Zeit als Referendarin an der KLS tätig war, bevor sie 1933 im Zuge des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen wurde. Ohne diesen Bericht wüssten wir nicht, dass Ilse Deutsch an der KLS gewesen ist.
Allerdings ließ sich auf Grundlage von Landsbergs Erinnerungen ein Beweisdokument finden, das auch online abrufbar ist: Das Philologen-Jahrbuch für das höhere Schulwesen Preußens von 1932/33, ein Gesamtüberblick über alle Lehrkräfte.
Obwohl wir zuerst nicht das Buch von Matzerath für unsere Forschungen benutzten, stießen wir auch während der Internetrecherchen auf die Quelle. So wurde Matzeraths Buch im Literaturverzeichnis zum Wikipedia-Eintrag von Ilses Vater aufgelistet. Damit stellt die Quelle die wesentliche Basis für weitere Rechercheergebnisse dar.
Weitere wichtige Informationen konnten wir über Ilses Vater, Siegmund Deutsch, finden, der Oberlehrer und Professor an der Kölner Baugewerkschule (heute: Technische Hochschule Köln) war und sogar eigene Werke veröffentlichte. So enthält beispielsweise das Buch „Köln und seine jüdischen Architekten“ von Wolfram Hagspiel einen kurzen Beitrag über Siegmund Deutschs Leben. Über die hier aufgelisteten Quellenangaben erhielten wir dann wiederum Zugriff auf weitere Beweisdokumente und mögliche Kontaktstellen.
Letztendlich konnten uns die vielen Informationen einen vielseitigen und auch sehr persönlichen Einblick in Ilses Leben und tragisches Schicksal geben. Im Folgenden versuchen wir, ein möglichst genaues Bild von Ilses einzelnen Lebensabschnitten zu vermitteln.
Ilse Franziska Deutsch wurde am 23. Februar 1900 in Barmen-Elberfeld (heutiges Wuppertal) geboren. Ihre Eltern waren Siegmund Richard Deutsch, welcher am 9. März 1864 in Neu Raussnitz (Novy Rousinov) in Mähren zur Welt kam, und Clara Johanna Deutsch (geb. Fleischer), welche am 20. Dezember 1867 in Boskowitz (Boskovice, Tschechien) geboren wurde. Beide Eltern stammten ursprünglich aus jüdischen Familien, waren aber bereits früh zum Protestantismus konvertiert; Ilse wurde direkt nach ihrer Geburt evangelisch getauft und erzogen, sie wusste - sicher ähnlich wie ihre Geschwister - nicht einmal von ihrer "jüdischen Herkunft".
1898 lebten Siegmund und seine Frau Clara Johanna in Hühningen, wo sie am 9. November 1898 ihr erstes Kind, Ilse Franziskas ältere Schwester Felicitas, zur Welt brachten. Im darauffolgenden Jahr zog die Familie nach Barmen-Elberfeld. Dort war Siegmund Richard etwa ein Jahr lang an der staatlichen Baugewerkschule Elberfeld tätig. Wie Ilses Geburtsurkunde überliefert, war die Familie hier in der Brüningstraße ansässig. Nach ihrer Geburt im Februar 1900 zog die nun vierköpfige Familie noch im selben Jahr (am 21.09.1900) nach Münster in ein Haus in der Fürstenstraße 14. Etwa dreieinhalb Jahre danach (am 29.03.1904) zog die Familie in die Auguststr. 26a. Siegmund Deutsch lehrte in Münster mittlerweile als Oberlehrer an der Baugewerkschule und verfasste das zweibändige Werk „Der Wasserbau“, welches 1906 in Leipzig erschien. Am 21. Oktober 1905 kam Ilses jüngerer Bruder Curt Anton Deutsch zur Welt. Der zweite Wohnsitzwechsel innerhalb Münsters erfolgte am 15. Juli 1907 in die Hammer-Straße 12.
Aufgrund einer Dozentenstelle an der Baugewerkschule in Köln zog Siegmund mit seiner Familie 1907 in die Domstadt. Es existiert ein Dokument des Einwohnermeldeamts Köln, welches den Umzug der Familie belegt. Ab dem 26. September war ihr neuer Wohnsitz ein gemietetes Mehrfamilienhaus am Salierring 61 in der Kölner Südstadt. Damit wohnten sie in unmittelbarer Nähe zur Baugewerkschule am Ubierring: Beide Standorte befinden sich am südlicheren Abschnitt der Kölner Ringe und sind etwa 1.7 km voneinander entfernt. Das Gebäude der damaligen Baugewerkschule ist heute der Sitz der „Technischen Hochschule Köln“, die mit rund 26.000 Studierenden und 430 Professoren die größte Fachhochschule Deutschlands ist.
Am 3. Februar 1908 wurde Hertha Deutsch als letztes von vier Kindern in Köln geboren. In den Adressbüchern wird Siegmund Deutsch 1908 als Oberlehrer und ab 1914 als Oberlehrer und Professor vermerkt. Seine Professur erlangte er also vermutlich etwa ein Jahr vor dem nächsten Wohnsitzwechsel der sechsköpfigen Familie. Ab schätzungsweise 1915 wohnte die Familie zur Miete in einem Kölner Mehrfamilienhaus in der Rolandstraße 70 mit lediglich nur noch 950 Metern Entfernung zur Baugewerkschule. Zuvor war Siegmund (1910) dem renommierten Architekten- und Ingenieurverein (AIV) in Köln beigetreten und hatte 1913 das Werk „Baumaschinen für die Praxis des Hoch- und Tiefbaus“ veröffentlicht.
Ab 1922 wurde er in den Adressbüchern zusätzlich zum Professorentitel mit der Amtsbezeichnung Studienrat aufgeführt und ab 1927 wurde er als Oberstudienrat und Professor vermerkt. Damit ist Siegmund als Beamter im Höheren Dienst in der Besoldungsgruppe immer weiter aufgestiegen. Über die Jahre hatte er sich als ein in seinem Berufsfeld angesehener Architekt etabliert. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1929 – danach noch nebenamtlich – unterrichtete er beständig mit den Schwerpunkten Bauphysik und Baumaterialienkunde.
Siegmund Deutsch 1929
(aus: Werling, Michael (Juli 2006): Architekturlehrer der FH Köln Teil 1. / Die Ehemaligen, S.29.)
Informationen zu Ilses Werdegang existieren in einer Dienstakte. Daraus lässt sich entnehmen, dass Ilse Deutsch Ostern 1919 ihre Abiturprüfung an der Kaiserin Augusta Schule in Köln bestand. Anschließend studierte sie zwischen 1919 und 1929 in Bonn, Rostock und Köln (zwischen Sommer 1924 und Sommer 1929 scheint sie ihr Studium unterbrochen zu haben, ein Grund ist allerdings nicht bekannt). Im Mai 1931 schließlich bestand sie in Köln die Erste Lehramtsprüfung für die Fächer Deutsch und Geschichte (als Hauptfächer) sowie Philosophische Propädeutik (als Zusatzfach) mit dem Gesamtprädikat "gut".
Am 7. Oktober begann sie schließlich in Köln ihr Referendariat an der Kaiserin-Augusta-Schule. Es war zu dieser Zeit üblich, dass Referendare nach einem Jahr die Ausbildungsstelle wechselten. So ist Ilse im Oktober 1932 von der Kaiserin-Augusta-Schule zur Königin-Luise-Schule gekommen. Dies stimmt auch mit der Zeitzeugenaussage ihrer Freundin Erika Landsberg überein.
Zudem ist Ilse Deutsch im „Philologen-Jahrbuch für das höhere Schulwesen Preußens und einiger anderer deutscher Länder 1932/1933“ als Studienreferendarin aufgeführt; ihre hier angegebene Konfession ist noch immer evangelisch. Sie hatte laut dem Philologen-Jahrbuch die Lehrbefähigung für die Fächer Deutsch, Geschichte und philosophische Propädeutik.
Um etwa 1932 zog Ilse mit ihren Eltern (und vermutlich ihrer jüngeren Schwester Hertha) nach Rodenkirchen (was damals noch eine eigenständige Gemeinde war) in die Walter-Rathenau-Straße 13, wo Siegmund ein erst wenige Jahre altes Haus erworben hatte.
Walter Rathenau war in der Weimarer Republik ein liberaler Politiker der DDP und kam 1922 als Reichsaußenminister bei einem von der rechtsradikalen und antisemitischen Terrorgruppe „Organisation Consul“ ausgeübten Attentat ums Leben, weshalb die Straße nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in „Kaiserstraße“ umbenannt wurde. Das Eigenheim in Rodenkirchen ist der letzte frei gewählte Wohnsitz der Familie.
(aus: Hagspiel, Wolfram (2010): Köln und seine jüdischen Architekten, S.53)
Gleich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten begann die vollständige Gleichschaltung der Gesellschaft, welche ab März 1933 das Leben Ilses und ihrer Familie einschränkte. So wurde sie bereits 1933 als Referendarin entlassen, denn sie wurde danach nicht mehr im Philologenjahrbuch aufgeführt. Die Entlassung geschah im Zuge des "Gesetzes über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, welches den sogenannten „Ariernachweis“ einführte, wonach Ilse Deutsch genau wie ihre Geschwister und Eltern als „Nicht-Arier“ eingestuft wurde. Auch ihre jüngere Schwester Hertha und ihre ältere Schwester Felicitas, die bis dahin als Mittelschullehrerin tätig gewesen war, müssen also entlassen worden sein. Der Verlust ihrer Arbeit war für Ilse Franziska Deutsch jedoch lediglich der Anfang ihres schrecklichen Leidensweges. Sie wurde (genau wie zahlreiche weitere Menschen, die nicht in das ideologische Bild der Nationalsozialisten passten) bereits zu Beginn der NS-Diktatur Opfer von Diskriminierung, Ausgrenzung und gewaltsamen Ausschreitungen. Auch ihr Vater wurde unmittelbar aus dem Verband deutscher Architekten- und Ingenieurvereine (AIV) entlassen, dem er seit 1910 angehört hatte.
Nachdem auf gesetzlicher Grundlage beispielsweise lokale Verbote Juden den Zutritt zu bestimmten öffentlichen Orten wie Gaststätten oder Kinos verboten hatten und auch von der deutschen Bevölkerung (häufig aus eigener Initiative) der Antisemitismus ausgeweitet worden war, kam es mit den Nürnberger Gesetzen vom 15.09.1935 zur vollständigen Entrechtung der jüdischen Bevölkerung. Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot unter anderem die Eheschließung sowie außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden, was zur Auflösung von Ilses Verlobung führte. Mit dem „Reichsbürgergesetz“ wurde Ilse trotz ihrer Taufe als „volljüdisch“ (d.h. mit mindestens drei jüdischen Großeltern bzw. zwei jüdischen Eltern) eingestuft und verlor wichtige Bürgerrechte und das politische Wahlrecht. Diese Klassifizierung bestimmte zudem, dass Ilse Franziska Deutsch in vollem Ausmaß in die Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes einbezogen wurde. Da Ilse allerdings evangelisch getauft worden war, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sie, ihre Geschwister oder ihre Eltern in einer jüdischen Gemeinde oder Vereinigung aktiv waren. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass Ilse lediglich im Dritten Reich von den Nationalsozialisten als jüdisch eingestuft worden war, obwohl sie sich selbst gar nicht als Person jüdischen Glaubens oder jüdischer Kultur identifizierte.
Von nun an begannen die Einschränkungen durch nationalsozialistische Maßnahmen das Leben Ilses und betroffener Mitbürger noch stärker zu dominieren. So durften Juden etwa ab dem 4.11.1937 nicht mehr den „Deutschen Gruß“ zeigen. Am 17.08.1938 trat die 2. Verordnung zur Durchführung des „Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen“ in Kraft. Juden mussten nun den zusätzlichen Namen „Israel“ bzw. „Sara“ tragen und dies dem zuständigen Standesamt mitteilen. Auf ihrer Geburtsurkunde wurde dies am 29. Dezember 1938 hinzugefügt (und 1953 wieder aufgehoben).
Geburtsurkunde von Ilse Deutsch
(Quelle: Stadtarchiv Wuppertal )
Anfang November 1938 wurde Juden der Besuch von Bibliotheken, Kinos, Konzerten, Museen, Schwimmbädern und Theatern offiziell verboten. Zunehmend trugen aus „privater“ Initiative Geschäfte, Restaurants und andere Orte Schilder wie „Juden unerwünscht“ oder „nur für Arier“. Ein Höhepunkt des Antisemitismus war die „Reichspogromnacht“ vom 9.11.1938 auf den 10.11.1938, eine reichsweit gesteuerte Aktion, in der jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet, Synagogen niedergebrannt, Gräber geschändet, Juden ermordet und verschleppt wurden. Es ist nicht sicher, inwiefern und ob überhaupt Ilse oder jemand aus ihrem unmittelbaren Umfeld Opfer dieses brutalen Pogroms wurde. Sicher ist aber, dass sie Zeugen dieser Exzesse wurden, die um sie herum stattfanden. Gewiss ist auch, dass sie für die entstandenen Schäden mit aufkommen mussten. Die „Durchführungsverordnung über die Sühneleistung der Juden“ vom 21.11.1938 bestimmte, dass alle Juden mit einem Vermögen von über 5000 Reichsmark 20 % ihres Vermögens an den Deutschen Staat abgeben mussten (ab Oktober 1939 waren es 25 %).
Mit dem 3.12.1938 mussten Juden unter Anderem ihren Grundbesitz verkaufen, weshalb Siegmund Richard Deutsch vermutlich auch das Eigenheim der Familie verkaufen musste. Da vorerst jedoch kein anderer Wohnsitz der Deutschs in den Adressbüchern angegeben ist, lässt sich vermuten, dass die Eltern etwa die nächsten fünf Monate weiter mit ihren Töchtern zur Miete in dem Haus in Rodenkirchen wohnten. Kurz darauf mussten zudem Juwelen, Edelmetalle und Kunstgegenstände an staatliche Ankaufstellen abgeliefert werden. Doch nicht nur der Zwang zur Aufgabe persönlichen Eigentums war eine Last, die Ilse Deutschs Leben erschwerte. Auch das alltägliche Leben wurde nach und nach immer mehr eingeschränkt (z.B. Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Besuch öffentlicher Einrichtungen, Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten, …), bis am 4.3.1939 jüdische Arbeitslose zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden. Inwiefern Ilse davon betroffen war, ist unklar. Es ist zwar extrem wahrscheinlich, dass Ilse (nach ihrer Entlassung) bis zum Verbot im Oktober 1936 (und vermutlich auch noch später privat) Nachhilfeunterricht gab, aber danach existieren keinerlei Hinweise darauf, ob und wie sie (als alleinstehende Frau) danach ein berufliches Leben fortführte.
Am 30.4.1939 wurde schließlich der Kündigungsschutz für jüdische Mieter gelockert. In der Folge mussten ab Herbst alle „kennzeichnungspflichtigen Juden“ ihre Wohnungen verlassen. Davon waren auch Ilse und ihre Eltern betroffen. Gemeinsam mit anderen jüdischen Bewohnern wurden sie in der benachbarten Maternusstraße (Hausnummer 6) untergebracht. Dieses Haus wurde ab Mai 1941 als eines der offiziellen „Judenhäuser“ der Nationalsozialisten genutzt, in denen die jüdische Bevölkerung zwangsweise auf engstem Raum zusammengepfercht und ghettoisiert wurde.
“Dieser Mensch, der Güte und Freundlichkeit gab, für sich ganz bescheiden, uns allen an Reife überlegen, ist ein Teil von uns selber.”
~ Erika Landsberg über Ilse Deutsch
In Horst Matzeraths Buch „'vergessen kann man die Zeit nicht, das ist nicht möglich' – Kölner erinnern sich an die Jahre 1929-1945“ erzählt Erika Landsberg, eine Freundin aus Ilses Studienzeiten, von ihren gemeinsamen Erfahrungen mit Ilse Deutsch.
Ihr zufolge studierte sie gemeinsam mit Ilse in den späten 20er Jahren Germanistik. Allerdings hatte die ältere Ilse bereits mehr Semester hinter sich gebracht. Ilse fiel hier besonders dadurch auf, dass sie mit hochgestellten Füßen zwischen den anderen Studenten saß und so ihr „braunes Lederköfferchen bequem“ auf ihren Knien abstützen konnte. Mit ihrem Heft auf diesen Koffer deponiert pflegte sie dann zu schreiben.
Ilse lud Landsberg und weitere Studierende öfters zu sich und ihren Eltern ein. Landsberg nahm ihren Aufenthalt bei der Familie Deutsch immer sehr angenehm und gesellig war; es „wurde gesungen und gespielt“. Ilses Zimmer – ihr „Hinterstübchen“ – war gefüllt mit Büchern. Vor allem vor Examina hat Ilse den jüngeren Studenten daher besonders helfen können. Für Landsberg war sie eine „getreue Mutter“: diejenige, die sich um die Jüngeren sorgte und Anteilnahme zeigte.
Ilse selbst war sehr ehrgeizig und beabsichtigte mit einer Hausarbeit über Hebbels Tagebücher zu dissertieren. Landsberg zufolge muss die Arbeit im sehr guten Bereich gewesen sein.
Doch schon in den späten 20er Jahren wurde Ilse mit Antisemitismus konfrontiert, der ihr dieses Ziel verwehrte. Ihr Professor, Herr Bertram, verwehrte ihr ihren Dr. phil. Seine antisemitische Haltung sollte sich noch später zeigen, als er nach der Machtübertragung der Nationalsozialisten sie nicht einmal mehr in der Straßenbahn grüßte. Professor Nicolai Hartmann dagegen schien begeistert von Ilses Arbeit und hätte ihr die Promotion sehr gewünscht. Ilse legte daraufhin nur ihr Staatsexamen ab, um in den Schuldienst zu gehen. So kam es, dass Ilse Anfang der 30er Jahre ihr Referendariat in der Königin-Luise-Schule machte. Landsberg gibt an, dass sie eine der beliebtesten Lehrerinnen gewesen sei.
Nach Ilses Entlassung war sie fortan auf Privatstunden angewiesen, um wenigstens noch ein wenig Geld zu verdienen. Zu dieser Zeit nahm auch Landsberg bei ihr Nachhilfeunterricht in Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch. Sie erinnerte sich später, mit welch „unendlicher Geduld“ Ilse sie unterrichtete, um die Prüfung zu schaffen.
Oft unterhielten sich die beiden über die aktuellen Geschehnisse. Der existenziellen Bedrohung durch die Nationalsozialisten waren sie sich damals Landsberg zufolge „noch nicht ganz“ bewusst. Vor allem Ilse und ihre Schwestern versuchten, eine Antwort auf den sich plötzlich und rasant ausbreitenden Hass zu finden.
Landsberg versucht hierbei besonders zu verdeutlichen, wie erschütternd das Gefühl für Ilse war, aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden aufgrund eines Umstands, mit dem sie sich ihr gesamtes bisheriges Leben nicht identifiziert hatte. Ilse war als Christin erzogen worden und aufgewachsen, mit dem Judentum nur eingeschränkt in Kontakt gekommen.
Landsberg gibt an, dass Ilses zwei Schwestern versuchten, ins Ausland zu gehen. Felicitas sei aber wieder zurückgekommen. Landsberg, selbst eine Verfolgte aufgrund ihrer Herkunft aus einer christlich-jüdischen "Mischehe", emigrierte ihren Angaben zufolge nach Dänemark und gibt an, Ilse erst wieder im Sommer 1939 getroffen zu haben. Als sie die Familie besuchte, befand diese sich in ihren „schweren Stunden der Entscheidungen”. Felicitas, der von Landsberg kontinuierlich der Spitzname “Liccy” gegeben wird, war neben Ilse noch zuhause geblieben. Kurze Zeit nach ihrem Besuch ist aber auch sie emigriert.
Ilse blieb zuhause und kümmerte sich um ihre betagten Eltern. Ihre persönliche Situation wurde zunehmend problematischer: Der Freundeskreis verkleinerte sich und Ilses Beziehung ging in die Brüche, obwohl sie sich bereits verlobt hatte. Trotz der weit fortgeschrittenen antisemitischen Diskriminierung, der die jüdische Bevölkerung 1939 ausgesetzt war, wurde die Pension des Vaters gekürzt noch ausgezahlt und garantierte der Familie als einzige feste finanzielle Quelle ein Leben am Existenzminimum. Vereinzelt gab Ilse zudem noch Privatstunden. Landsberg verweist hierbei auf die Nachbarskinder.
Landsberg hat die Familie nach eigenen Angaben nochmal besucht, als diese bereits in der Maternusstraße untergebracht war, die ab Mai 1941 als eines der offiziellen Ghettohäuser der Nazis benutzt wurde. Diese letzte Begegnung beschreibt Landsberg als zutiefst bedrückend. Ilse wohnte gemeinsam mit ihren Eltern in einem einzigen Zimmer mit wenig Möbeln. Siegmund konnte nicht mehr aufstehen, Clara war erblindet. Weil die Familie Deutsch die einzigen Christen im Ghettohaus waren, fürchtete Ilse eine zusätzliche Feindschaft der Juden. Zudem drohte immer wieder die Trennung von den Eltern, wodurch Ilse konstant einem Gefühl der Angst und Beklemmung ausgesetzt gewesen sein muss. Vor allem ihre Schwester habe Ilse zu dieser Zeit sehr vermisst. Dabei wird nicht klar, welche der beiden Schwestern gemeint ist. Trotz dieser enormen staatlichen Intervention in Ilses Leben, die auf die totale Abschottung von der restlichen Gesellschaft abzielte, kamen immer noch einige Freunde die Familie besuchen. Ilse verschenkte in dieser Zeit ihr gesamtes Hab und Gut. Auch Landsberg nahm einiges mit.
Die Erinnerungen von Erika Landsberg sind eine Schlüsselquelle und stellen ein ganz besonderes Zeugnis dar. Sie bieten uns zum einen eine Vielzahl von Informationen zu Ereignissen und Lebensumständen von Ilse Deutsch und ihrer Familie, die keiner anderen Quelle zu entnehmen sind. Vor allem aber bringen sie "Farbe ins Bild". Dieser persönliche, liebevolle Blick einer Freundin vermittelt uns einen Eindruck von Ilse Deutschs Wesen und Charakter, von ihren Interessen, aber auch ihren Gefühlen, Ängsten und Befürchtungen. Nur selten hat man das Glück, ein solches Zeugnis zu finden, das über die nackten Zahlen und Fakten zu den äußeren Lebensumständen hinaus einen Menschen in seiner Individualität und seinem Wesen wenigstens ansatzweise greifbar werden lässt (Für die Königin-Luise-Schule haben wir dieses Glück nur in einem weiteren Fall - den Erinnerungen von Gunther Heyden an seine Mutter Alice Tuteur). Damit erschließt sich aber auch das Leid dieser Familie in ganz besonders eindringlicher Weise.
Allerdings sind die Erinnerungen von Erika Landbergs auch kritisch zu betrachten. Deutlich ist, dass sie in ihre Schilderungen nachträglich Wissen einfließen lässt. So deutet sie mehrfach an, bereits zu einem Zeitpunkt von dem geplanten Völkermord gewusst zu haben, als der Holocaust von Hitler und dem führenden Kreis der Nationalsozialisten noch nicht systematisch vorbereitet wurde, geschweige denn Pläne an die Öffentlichkeit gelangen konnten. Landsberg schreibt, dass sie während ihres Aufenthaltes 1939 in Dänemark erfuhr, “was mit den Juden geschah und geschehen sollte”.
Die Frage, wann der Völkermord an den Juden genau beschlossen wurde, ist nicht geklärt. Auf der Wannseekonferenz im Januar 1942 wurde nicht der Holocaust beschlossen, vielmehr seine systematische Organisation erörtert. Höchstwahrscheinlich ist die Entscheidung schon vorher gefällt worden, da mit dem Überfall auf die Sowjetunion Massenerschießungen von jüdischen Sowjetbürgern bereits stattgefunden hatten. Die Entscheidung, die Juden zu ermorden, fiel jedoch, wenn auch möglicherweise vorher schon insgeheim geplant, nicht vor 1941. Damit ist Landbergs Behauptung wohl nachträglich mit dem Verfassen der Erinnerung hinzugefügt worden.
Dass Landsberg hier möglicherweise auch ihre eigene Figur in ein besseres Licht rücken wollte, wird vor allem an ihrer angeblichen Warnung an Ilse deutlich, die sie beim letzten Treffen im Haus der Deutschs ausgesprochen haben will. Demnach sagte sie zu Ilse: “Soll (sic!) ich dir Gift besorgen? Es ist furchtbar, was sie mit Euch vorhaben. Ich weiß es”. Landsberg “meinte es gut”. Der Bericht ist im Allgemeinen eine bereichernde Schlüsselquelle, weil dieser so intime Einblicke in Ilses Leben gewährleistet. Es sind individuelle Erinnerungen an eine gute Freundin. Doch in dieser Situation kann die Versuchung groß sein, sich selbst eine positive oder größere Rolle zuzuschreiben. Landsberg stellt sich als diejenige dar, die ihre geliebte Freundin retten wollte, die sie abermals gewarnt hat, die getan hat, was sie nur konnte. Damit könnte der Bericht so auch eine persönliche Rechtfertigung bedeuten.
“Wie sieht sie uns von dem Jenseits aus?", das ist ihre letzte Frage, die Landsberg ganz zum Schluss ihrer Rückblicke in den Raum stellt. Auch dieses letzte Zitat könnte zum einen Ausdruck ihrer Sehnsucht nach der verlorenen Freundin sein, andererseits indirekt auf ihre eigene Rolle vorbildhaft hinweisen: Landsberg hat nach ihren zahlreich ausgesprochenen Warnungen und ihrem freundschaftlichen Beistand die Berechtigung, nach der Jenseits-Beurteilung durch Ilse zu fragen.
Trotz dieser Bedenken hat Landsberg zweifellos einen großen Beitrag zum Gedenken an Ilse geleistet und ihr zu Lebzeiten in ihren schlimmsten Tagen sicherlich beigestanden. Wenn die sachliche Komponente ihres Berichts mitunter auch fragwürdig erscheint, ist die emotionale umso ergreifender. Wie gut Landsberg Ilse Deutsch gekannt hat, wird dem Leser sehr bewusst.
Wir möchten an dieser Stelle die Person Erika Landsberg noch etwas ausführlicher beleuchten. Ein auf der Internetseite der Stadt Ratingen abrufbarer Bericht der Leiterin der Stadtbibliothek und des Stadtarchivs Ratingen, Erika Münster-Schröer, behandelt detailliert den Nachlass Landsbergs. Demnach hatte das NS-Dokumentationszentrum Köln im Jahr 1997 den Nachlass eines Hauses in Remscheid übernommen, dessen Besitzerin kurz zuvor verstorben war: Erika Landsberg.
Folgende Informationen ergeben sich aus der Quelle: Landsberg wurde 1904 geboren, hatte väterlicherseits jüdische und mütterlicherseits protestantische Vorfahren. In der Ideologie der Nationalsozialisten wurde sie damit als “Mischling” kategorisiert.
Münster-Schröer weist auch darauf hin, dass sich Landsberg an das NS-Dokumentationszentrum wandte, als dieses unter der Leitung von Prof. Horst Matzerath ein Zeitzeugenprojekt mit Opfern des Nationalsozialismus organisierte und Kontakte suchte. Das Ergebnis ihrer Beteiligung daran sind ihre Erinnerungen an Ilse Deutsch.
Landsbergs in England lebende Schwester wandte sich nach deren Tod an das NS-Dokumentationszentrum, um den wertvollen Nachlass zu sichern. Im Jahr 1998 gelangten die Dokumente in das Ratinger Stadtarchiv. Als Begründung dafür wird die Verbundenheit von Erikas Vaters zum Bergischen Land angegeben, weshalb ein Archiv in der Region ausgewählt wurde. Dieser Nachlass besteht aus etwa 20000 Briefen, zahlreichen Tagebüchern, persönlichen Erinnerungsstücken, hunderten Fotos und mehreren Skizzenbüchern. Hauptsächlich handelt es sich um Informationen zu der Familiengeschichte, die zurückreichen bis ins Jahr 1733. Angeblich war die Familie verwandt mit dem Theologen Albert Schweitzer und der Politikerin Elly Heuss-Knapp, deren Mann Theodor Heuss, Gründer der FDP, von 1949 bis 1959 der erste Bundespräsident der Bundesrepublik war.
Die Quellen beziehen sich auf die Herkunftsfamilien Julius Ferdinand Landsbergs und seiner Ehefrau Marie Hoff. Julius Ferdinand verstarb im Jahr 1915, im Alter von 39 Jahren. Damit wurde Marie Witwe mit vier Kindern, darunter Erika Landsberg. Die in Straßburg lebende Familie musste 1918 nach der Abtretung des Elsaß an Frankreich ihre Heimat hinter sich lassen. Einen weiteren Schicksalsschlag muss Marie erlitten haben, als ihre Schwester Elisabeth 1925 starb, auch im Alter von 39 Jahren. Diese war in den letzten Kriegsmonaten an die Front im Elsass gegangen. Ihre Tätigkeit in einem Straßburger Lazarett, der Umgang mit verstümmelten und schwer verletzten Soldaten, hatte sie dauerhaft traumatisiert.
“Der frühe Tod Julius Ferdinand Landsbergs bewog Marie, ihren Kindern Ernst, Erika, Margaret und Reinhart Erinnerungen an ihn und die Familie zu bewahren. Dieses Bestreben wurde durch die Entwicklungen nach 1933 noch verstärkt.”
Der plötzliche Tod ihres Mannes veranlasste Erika Landsbergs Mutter dazu, ein umfangreiches Erinnerungsprojekt im Gedenken an den Vater zu beginnen. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde dieses Anliegen nochmals wichtiger. Während Erikas Bruder zusammen mit seiner jüdischen Frau und deren Kind nach Kapstadt auswanderte, blieb Erika in Deutschland. Das Dritte Reich überlebte sie nur komplett zurückgezogen und isoliert.
Vor diesem Hintergrund können die Erinnerungen Erika Landsbergs an Ilse Deutsch noch von einem neuen, viel persönlicheren Blickwinkel aus betrachtet werden. Der von der Mutter initiierte Auftrag der Familie, das umfassende Erinnerungsprojekt, mag auch Teil der Motivation Landsbergs gewesen sein, solch einen ausführlichen Bericht über ihre enge Freundin Ilse für Matzeraths Sammelwerk zu verfassen.
“Ich bin davon überzeugt, daß Ihr an diesen Erinnerungen aus lieben vergangenen Tagen sehr viel Freude haben werdet”
~ Marie Landsberg in einem Brief an ihren Sohn Ernst in Südafrika
1975 verschriftlichte Landsberg ihre Erinnerungen an das Ende der Kriegszeit für ein Buchprojekt und nahm an verschiedenen Unternehmungen des NS-Dokumentationszentrums teil.
Im Herbst 1941 richteten die Kölner Behörden schließlich in Köln-Müngersdorf (in den Gebäuden des Fort V und in neu erbauten Baracken) ein Sammellager ein, in dem Juden aus Köln und aus der Kölner Umgebung inhaftiert wurden, bis man sie einem der Transporte zuteilte. Es ist möglich, dass auch Ilse Franziska Deutsch mit ihren Eltern hier zwangsweise untergebracht wurde. Für gewöhnlich hatten sich die Kölner, die deportiert werden sollten, auf dem Gelände der Kölner Messe zu sammeln, bis sie von dort zum Bahnhof Deutz-Tief gebracht und schließlich in die Lager des deutsch besetzten Ostens verschleppt wurden. Der erste Zug fuhr in Köln-Deutz am 22. Oktober 1941 ab, sein Ziel war das Ghetto Litzmannstadt.
Im November 1941 war die ehemalige Festung Theresienstadt bei Prag in ein Ghetto umgewandelt worden. Auf der Wannsee-Konferenz hatte Reinhard Heydrich (Leiter der RSHA und Beauftragter der Wannsee-Konferenz) erklärt, dass ältere Juden ab Juni 1942 aus dem „Altreich“ (das Deutsche Reich vor Beginn des Zweiten Weltkriegs) nach Theresienstadt deportiert werden sollten. Gestapo-Chef Heinrich Müller bestätigte am 15. Mai 1942, dass die Deportationen nach Theresienstadt von Juden im Alter von 65 mit Frauen und Kindern unter 14 Jahren in kurzer Zeit beginnen würden.
Ab Februar 1942 wurde Köln stark von der Royal Air Force bombardiert. Zwar wurden die Deportationen aus Köln im Frühjahr vorübergehend ausgesetzt, doch der Kölner NSDAP-Gauleiter Josef Grohé nutzte die resultierende Wohnungsknappheit als Scheingrund dafür aus, weitere Deportationen zu planen. Etwa zwei Wochen nach dem Tausend-Bomber-Angriff auf Köln (in der Nacht zum 31. Mai 1942) wurden die Deportationen aus dem Rheinland fortgesetzt.
Im Juni und Juli 1942 gingen zwei Züge nach Theresienstadt. Aus beiden Transporten konnten insgesamt nur 231 Kölner überleben. Mit dem zweiten Transport am 27. Juli 1942 wurden insgesamt 1171 Juden deportiert – davon 725 Frauen und 441 Männer. In diesem Transport befanden sich auch Ilse Deutsch und ihre Eltern. Das durchschnittliche Alter der Inhaftierten betrug 63 Jahre. Siegmund war zu diesem Zeitpunkt 78 Jahre alt und bettlägrig, seine Frau 74 und erblindet. Gleichzeitig waren die jüngsten Deportierten erst wenige Monate alt. Nachdem der Zug erst in Luxemburg und Trier Halt gemacht hatte, erreichte er Köln. Juden aus Köln, Euskirchen, Bergheim, Siegburg, Gummersbach und Bergisch Gladbach wurden zwischen 8 und 11 Uhr in einer Kongresshalle zusammengepfercht. Hier wurden sie ihrer Wertgegenstände beraubt und dazu gezwungen, eine Erklärung zu autorisieren, die das gesamte Privatkapital dem Deutschen Reich zu eigen machte. Daraufhin erhielten sie Nummern basierend auf der Ankunftsreihenfolge in der Kongresshalle. Dem Historiker Paul Cerf zufolge fuhr der Zug um 21:33 von Köln aus ab. Die Deportierten erreichten Bauschowitz am 28. Juli 1942 und mussten von hier aus zu Fuß nach Theresienstadt laufen. Ilses Vater Siegmund Richard Deutsch wurde hier nur wenige Monate später am 26. Oktober 1942 ermordet, ihre Mutter Clara Johanna Deutsch am 16. März 1943.
Es existiert eine Todesfallanzeige von Siegmund, laut der er an „Gehirnverkalkung“ und „Herzmuskelentartung“ gestorben sei. Viele der Morde an (insbesondere älteren) Inhaftierten wurden in den Konzentrationslagen mit der Angabe von angeblichen gesundheitlichen Todesursachen in Todesfallanzeigen versucht zu vertuschen. Doch selbst wenn Siegmund Deutsch tatsächlich unter den angegebenen Krankheiten litt, so wäre er damit nicht weniger ein Mordopfer der Nationalsozialisten, weil diese den Tod durch Unterernährung und enorme Zwangsarbeit bis über das Ende der eigenen Kapazitäten hinaus forcierten. Ein Viertel der Gefangenen des Ghettos Theresienstadt (etwa 33.456 Menschen) starben dort – an fürchterlichen Gewaltverbrechen und menschenverachtenden Lebensbedingungen. Weitere 88.202 der hier inhaftierten Menschen wurden nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager wie Treblinka abtransportiert. Darunter war auch Ilse, sie wurde am 15. Mai 1944 nach Auschwitz deportiert und zu einem unbekannten Zeitpunkt ermordet.
Die drei Geschwister Ilse Deutschs konnten noch rechtzeitig emigrieren.
Felicitas Gerta emigrierte zu einem unbekannten Zeitpunkt nach England. Landsberg gibt an, dass sie nach ihrem Besuch im Sommer 1939 das Land verließ. In Cheltenham (Gloucestershire) verstarb Felicitas im Februar 1974.
Ihr jüngerer Bruder Curt Anton Martin Deutsch emigrierte ebenfalls, allerdings reiste er nach dem Krieg weiter und kam im Alter von 41 Jahren mit dem Schiff “Ile de France” in New York an. Es existiert ein Dokument des US Department of Justice, wonach Curt als Sekretär tätig war.
Hertha Deutsch floh genau wie ihre älteste Schwester nach Großbritannien. Ab dem 29. September 1939 ist ihr Wohnsitz in Kensington, einem Stadtteil im Westen Londons (2, Bedford Gardens). Sie wohnte damit etwas weniger als zweieinhalb Stunden von Cheltenham entfernt. Als Familienoberhaupt des Hauses in Kensington ist der Osteopath Shilton Webster Jones eingetragen. Hertha hat hier laut myHeritage “unbezahlte Hausarbeit” geleistet, d.h. sie war vermutlich als Haushaltshilfe o.Ä. tätig.
Nach dem Krieg leiteten die Geschwister ein Rückerstattungsverfahren ein. Die Akten dazu sind leider nur direkt in Berlin beim BADV (Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen) einsehbar. Sie dokumentieren hauptsächlich die materielle Wiedergutmachung der Bundesrepublik für zwischen 1933 und 1945 entzogene Vermögenswerte und enthalten kaum Informationen zum persönlichen Schicksal Ilses oder ihrer Familie.
In Form von Stolpersteinen wird heute versucht, des Schicksal von Ilse Franziska Deutsch und ihrer Familie zu gedenken. Am 19.4.2018 wurden in Rodenkirchen Stolpersteine für Ilse und ihre Eltern verlegt. Davor existierten bereits Stolpersteine für Clara und Siegmund Deutsch. Diese lagen zunächst in der Maternusstr. 6, wurden allerdings entfernt. Denn die Maternusstr. 6 war ja das Ghettohaus gewesen, in dem sie zuletzt von den Nationalsozialisten zwangsuntergebracht worden waren. Stolpersteine sollten aber vor dem letzten frei gewählten Wohnsitz von Opfern des Nationalsozialismus in den Boden eingelassen werden. Stattdessen liegen nun neue Stolpersteine und ein neu hinzugekommener für Ilse selbst in der Walther-Rathenau-Str.13 – dem ehemaligen Eigenheim der Familie Deutsch.
Mittlerweile befindet sich in Köln noch ein weiterer Stolperstein im Andenken an Ilse Franziska Deutsch: vor der Königin-Luise-Schule – dem Ort, an dem Ilse lehrte und lernte.
Durch die Auseinandersetzung mit Ilse Deutschs Geschichte haben wir die Verbrechen der Nationalsozialisten auf eine ganz andere Weise erfahren können, als das im Unterricht der Fall gewesen war.
Selbstverständlich können auch Daten und Tatsachen eine erschütternde Wirkung haben. Wenn man so beispielsweise hört, dass Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD bereits am 29. und 30. September 1941 in der Nähe von Kiew mehr als 33.000 Juden durch Massenerschießungen ermordeten, ist man davon selbstverständlich sehr ergriffen.
Wenn man sich aber über ein halbes Jahr intensiv mit einer persönlichen Lebensgeschichte beschäftigt hat, sich versucht hat, in die Betroffene hineinzuversetzen, macht das etwas ganz anderes mit einem. Zusätzlich haben die Erinnerungen von Erika Landsberg dieses Bild noch viel lebendiger gemacht. Man sieht die selbstbewusste Ilse mit hochgestellten Füßen während einer Germanistik-Stunde bildlich vor sich. Genauso kann man ihre große Angst während des Lageraufenthalts sehr gut nachempfinden, als sie befürchtet, als einzige Christin auch noch die Feindschaft der Mitinsassen auf sich zu ziehen. Oder ihre Fassungslosigkeit darüber, dass ihrer Person die für sie wichtigste Eigenschaft entrissen wurde: die Gesinnung.
Und wie groß muss ihre Enttäuschung gewesen sein, als die junge, motivierte und beliebte Referendarin, die erst vor kurzer Zeit ihr Staatsexamen abgelegt hatte, 1933 abrupt nicht mehr an der Königin-Luise-Schule unterrichten durfte?
Auch das Schicksal ihrer Familie muss schrecklich und kaum ertragbar für Ilse gewesen sein. Sie war nicht wie ihre Geschwister rechtzeitig emigriert - es ist sogar unklar, ob sie sich überhaupt von einem der drei verabschieden konnte. Stattdessen musste sie unter unmenschlichen Bedingungen im Konzentrationslager weiter kämpfen und ihre Eltern in Theresienstadt verlieren, den Tod ihrer Mutter hat sie wahrscheinlich sogar direkt miterlebt. All dieses Leid spitzte sich schließlich mit ihrem Tod in Auschwitz zu.
Für uns war es sehr ergreifend, Ilse über unsere Projektarbeit als sehr selbstbewusste, intelligente junge Frau kennenzulernen und zugleich von Anfang an ihr trauriges Schicksal zu kennen. Die Auseinandersetzung mit ihrer Biographie hat uns erneut vor Augen geführt, dass dem Massenmord der Nationalsozialisten nicht nur schätzungsweise über 13 Millionen Menschen zum Opfer fielen, sondern über 13 Millionen Individuen. Individuen, die zudem Opfer wurden von Diskriminierung, Terror und Entrechtung und denen auf menschenverachtende Weise ihre Identität entrissen wurde. Menschen, deren Geschichte erzählt werden muss. Denn die Geschichten nicht zu erzählen heißt, der Opfer nicht zu gedenken, und nicht zu gedenken heißt vergessen. Und vergessen dürfen wir niemals.
Hagspiel, Wolfram (2010): Köln und seine jüdischen Architekten, S.53-54;
Matzerath, Horst (1985): ‚…vergessen kann man die Zeit nicht, das ist nicht möglich…‘ – Kölner erinnern sich an die Jahre 1929-1945, S.184-186;
Münster-Schröder, Erika: Der Nachlaß Landsberg im Stadtarchiv Ratingen
(https://www.stadt-ratingen.de/bilder/41/stadtarchiv/e-books/nachlass_Landsberg.pdf [28.1.20]);
Prof. Dr.-Ing. Werling, Michael (Juli 2006): Architekturlehrer der FH Köln Teil 1./Die Ehemaligen, S.29;
Wikipedia (25.11.2018): Siegmund Deutsch
(https://de.wikipedia.org/wiki/Siegmund_Deutsch [4.6.19])