Elsie Berg

von Pauline Reimers

Ich heiße Pauline Reimers, bin 17 Jahre alt und besuche die Königin-Luise-Schule in Köln. Unsere Schule bietet einen Projektkurs Geschichte an, in dem die Schüler*innen die Vergangenheit der Schule während des Dritten Reichs aufzuarbeiten versuchen.
Unter anderem haben wir alle den Namen einer ehemaligen jüdischen Schülerin – die KLS war eine Mädchenschule – bekommen, zu der wir in den folgenden Monaten so viel wie möglich herauszufinden versuchten. Ziel des Ganzen war vor allem, dass die Mädchen und ihr Schicksal nicht vergessen werden.

"Meine" Schülerin hieß Elfie Berg. Ihr Name findet sich auf einer Zeugnisliste der KLS aus dem Jahr 1936. Allerdings liegt diese Liste nicht mehr im Original vor, da sie beim Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln im Jahr 2009 verloren ging. Die Informationen stammen aus einer Datenbank des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, die wiederum auf einem Exzerpt beruht, das zu einem unbekannten Zeitpunkt vor dem Einsturz des Archivs angefertigt worden war.

Allerdings war bei meinen Recherchen zunächst absolut nichts zu Elfie Berg zu finden. Ich fand nur verstreute Hinweise auf eine Elsie Berg. Nun mag einem der Unterschied zwischen Elfie und Elsie nicht gewaltig erscheinen. Aber man muss bei dieser Arbeit gründlich vorgehen und zunächst einmal die Identität der Personen zweifelsfrei klären. Eine Namensähnlichkeit ist nur ein Hinweis, kein Beweis, und weder der Name "Elfie" noch der Name "Berg" ist besonders selten - außerdem haben wir zahlreiche Fälle, in denen Personen einen identischen Namen tragen, und trotzdem handelt es sich um verschiedene Personen.

Andererseits ... neben der Namensähnlichkeit gab es klare Übereinstimmungen: das Alter passte, der Wohnort, die Konfession. Das ließ kaum an einen Zufall glauben. Aber wie war der Namensunterschied zu erklären?
Schließlich kam ich auf den richtigen Dreh. Der Name beruhte auf einer Abschrift aus einem Originaldokument. Dieses Dokument aus dem Jahr 1936 war garantiert in altdeutscher Schrift verfasst. Hier sehen sich aber das altdeutsche F und das altdeutsche S zum Verwechseln ähnlich. Sollte sich also bei der Abschrift jemand einfach verlesen haben?

Ich startete eine systematische Suche, jetzt nach Elsie Berg ... und zack! Jetzt gab es Ergebnisse in den Datenbanken.

So konnte ich also meine Recherche starten.

In dem folgenden Text habe ich versucht, ihr Leben und das ihrer nahen Familie anhand meiner Ergebnisse zu rekonstruieren.

1923 bis 1933: Elsies Kindheit

Elsie Berg

Elsie Berg wurde am 25.02.1923 in Köln geboren. Die Familie Berg bestand zu dem Zeitpunkt aus ihrem Vater Eduard Berg (38), ihrer Mutter Friederike Berg-Hanf (28) und ihren zwei älteren Geschwistern Lilli Berg (4) und Hans Berg (3). Sie wohnten wahrscheinlich in der Mozartstraße 11, im ersten Stock, in der Kölner Innenstadt.

Familie Berg 1923Familie Berg 1923

 

Mozartstr. 11 (Bild von 1958)

Mozartstr. 11 (Bild von 1958)

 

Elsie hat ihre Kindheit im liebevollen Kreis ihrer wohlhabenden Familie verbracht.

Die Familie Berg/ Hanf scheint ein sehr enges Familienleben gehabt zu haben.
Zum einen hatte Elsie sehr viele Verwandte. Sie hatte zusätzlich zu ihren beiden Geschwistern mindestens acht Onkel und Tanten und fünf Cousins und Cousinen. Von den mindestens neun Großonkeln und -tanten mit eventuellen Nachkommen ganz zu schweigen.
Diverse Familienfotos zeigen die Familie in verschiedenen Konstellationen fröhlich und bei verschiedenen Freizeitaktivitäten, wie zum Beispiel beim Schlittschuh fahren, am See oder am Strand.

Die Familie Berg Juli 1922

Die Familie Berg Juli 1922

 

Hans, Lilli und Elsie Berg (1926)

Hans, Lilli und Elsie Berg (1926)

Januar 1929

Januar 1929


Die drei Kinder der Bergs hatten ein inniges Verhältnis zu den Großeltern und der Tante mütterlicherseits. Die einzigen Überlebenden der Familie mütterlicherseits, Elsies Schwester Lilli und ihre Tante Dina, standen auch nach dem Krieg noch in engem Kontakt.

Die Vertrautheit der Familie zeigt sich auch an den vielen Spitznamen der Familienmitglieder. Elsies Großvater Ludwig wurde "Louis" genannt, ihre Mutter Friederike "Friedel" oder "Fifi" und ihre Tante "Dodi" statt Dina.

Beide Seiten der Familie führten erfolgreiche Familienunternehmen. Elsies Großvater besaß 50% des reichen Wittener Bankhauses „S. Hanf“, das ursprünglich seine Großeltern gegründet hatten.
Er hatte außerdem eine Zeche gegründet, die er nach seiner Mutter Friederike benannte. Seine Tochter, Elsies Mutter, bekam ebenfalls diesen Namen, was das enge Verhältnis von Mutter und Sohn beweist.

Nach Einschätzung des späteren Schwiegersohns besaß Ludwigs Frau Sophia Hanf „Schmuck (...), Pelze und gute Kleidungsstücke (...) im Wert von RM (Reichsmark) 20.000,-- (bis) 50.000,--“. Dies mag die wirtschaftliche Situation der Familie etwas illustrieren.

Väterlicherseits scheint die Familie auch eng verbunden gewesen zu sein. Ihr Vater übernahm zusammen mit seinem Bruder Rudolf die Brauerei des Vaters Louis Berg, den "Apostelnbräu Heinrich Bädorf".

Sie hatte ihren Sitz in der Dürenerstr. 112, war gut bekannt und hatte Spezialausschankstellen in bester Lage. Das Bier wurde in der Schildergasse, auf der Hohe Pforte und in der Apostelnstraße getrunken.
Die Brüder verband, über das Geschäftliche hinaus, eine enge Freundschaft. Rudolf spricht seinen Bruder in der Todesanzeige mit "mein lieber Bruder, treuester Freund und Sozius" (Sozius = wirtschaftlicher Teilhaber) an (siehe unten).

 

Joeststraße 2 (2008)

Joeststraße 2 (2008)

Die Familie Berg gehörte wohl der oberen Mittelschicht an. Eduard verdiente genug Geld, um ein großes Haus mit Garten in der Joeststr. 2 zu kaufen und mit seiner Familie zu bewohnen. Elsie hat dort gewohnt, bis sie 10 Jahre alt war. Das große Haus mit dem großen Garten wird ihr viel Platz zum Spielen gegeben haben. Auch sonst wird sie keinen Mangel gelitten haben.
Das finanziell gut abgesicherte Leben hätte ihr eine glückliche Kindheit und Jugend mit einer gesicherten Zukunft bescheren können.
Die Weltwirtschaftskrise am Ende der 1920er Jahre wird die Familie zwar nicht unberührt gelassen haben, aber nach meinem Wissensstand hat sie keine großen Veränderungen in ihrem Lebensstil bewirkt.

Elsie hatte wahrscheinlich eine glückliche Kindheit, aber auch die erfuhr einen starken Einschnitt, als ihr Vater Eduard im Alter von 42 Jahren am Freitag, den 18.03.1927, abends nach "kurzer, schwerer Krankheit" verstarb.
Elsie war zu diesem Zeitpunkt 4 Jahre alt, ihre Geschwister Lilli und Hans waren acht und sieben Jahre alt.

Grab Eduard Berg

 

Todesanzeigen Eduard Berg

Todesanzeigen für Eduard Berg, in: Kölnische Zeitung, 1. Sonntagsausgabe 20.03.1927

Vier Jahre sind alt genug, um zu verstehen, dass ihr Vater nicht wiederkommen wird. Außerdem wird sie die Trauer ihrer Mutter, ihrer Geschwister, der Großeltern, Tanten und Onkel schon bewusst erfahren haben. Dementsprechend wird sie unter dem Verlust des Vaters dann und auch später gelitten haben.

Ihre Eltern waren beide jüdischen Glaubens. Es ist ungewiss, wie groß die Rolle war, die die Religion in Elsies Kindheit gespielt hat, es ist aber sehr wahrscheinlich, dass die Eltern nicht streng gläubig waren, da die Kinder Berg nicht auf die Jawne - dorthin gingen i.d.R. die Kinder der orthodoxen Juden – sondern auf die Königin-Luise-Schule und die Kreuzgasse gingen.
Außerdem galt die Familie der Tante Dina als „stark assimiliert“. Sie waren sogar zum Protestantismus konvertiert, so dass die Cousine Rita und der Cousin Benno Barmé beide getauft waren. Dies bestärkt die oben genannte Vermutung.
Andererseits ist es auszuschließen, dass die Familie sich gar nicht mit dem Judentum identifizieren konnte, da Eduard Berg zum Beispiel auf dem jüdischen Friedhof Bocklemünd begraben wurde.

Elsie Berg mit 8 oder 9 Jahren (1932)

Elsie Berg mit 8 oder 9 Jahren (1932)

1933: Elsie wird 10 Jahre alt

1933 feierte Elsie ihren 10. Geburtstag und viele Veränderungen traten in ihrem Leben ein. In diesem Alter kamen die Kinder früher in der Regel auf die höhere Schule. Deshalb gehe ich davon aus, dass Elsie auch in diesem Jahr in die Sexta (Fünfte Klasse) der KLS kam.

Schulgebäude der KLS in der St. ApernstraßeSchulgebäude der KLS in der St. Apernstraße


Beide Eltern und Elsie selbst waren jüdischen Glaubens, daher klassifizierten die Nationalsozialisten – die in diesem Jahr an die Macht kamen - Elsie uneingeschränkt als "Volljüdin". Es gibt keine Hinweise darauf, dass ihr Vater Frontkämpfer war, was der Familie zunächst noch "Privilegien" garantiert hätte. Dementsprechend hat sie das volle Ausmaß der Einschränkungen und Diskriminierungen erleiden müssen (siehe den Nachtrag unten).
1933 trat das "Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen" in Kraft, welches den Gesamtanteil jüdischer Schüler*innen und Student*innen auf 5% beschränkte. Außerdem durften nur noch 1,5 Prozent der neu aufgenommenen Schüler*innen und Student*innen jüdisch sein.
Elsie war von diesem Gesetz jedoch nicht betroffen, da sie bis mindestens 1936 als Schülerin bezeugt ist. Da es aufgrund ihres Alters unwahrscheinlich ist, dass Elsie schon vor 1933 in der KLS aufgenommen wurde, erfolgte ihre Neuaufnahme zudem wohl erst nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten.
Alle Schulen mussten zwar die Gesetze befolgen, es gab jedoch Schulleitungen, die schon früher - bevor sie es im Dezember 1938 mussten - alle jüdischen Schüler*innen aus der Schule drängten. Dies ist in Elsies Fall nicht passiert. Ob man dies als Hinweis auf eine liberale Haltung der KLS bzw. der Schulleitung werten kann, ist möglich, aber nicht sicher (siehe den Nachtrag unten).


Im selben Jahr, in dem sie – wahrscheinlich - auf die neue Schule kam, zog die Familie Berg aus ihrem Haus in der Joeststraße mit den Großeltern Hanf zusammen in den Pauliplatz 3A.

Das Haus in der Joeststraße wurde vermietet, befand sich aber noch im Besitz von Friederike Berg (Elsies Mutter). Dies lässt darauf schließen, dass die Familie aus wirtschaftlichen Gründen in das kleinere Haus umzog.
Ab dem Jahr 1933 begannen im Zuge der "Arisierung" auch die Boykotte jüdischer Geschäfte und Unternehmen. Die Vermutung liegt also nahe, dass auch die Apostelnbrauerei darunter gelitten hat.

 

Pauliplatz 3A (2012)

Pauliplatz 3A (2012)

Am 20. November 1933 starb Elsies Großmutter mütterlicherseits, Auguste Nanny Markus.

1934

Im Jahr darauf starb Augustes Mann, Elsies Großvater Louis Berg, am 25.10.1934.

1936

Elsie war in diesem Jahr 1936 auf jeden Fall noch auf der KLS, da ihr Name auf einer Zeugnisliste erscheint. Unklar ist, ob es sich um das Halbjahreszeugnis handelt oder das Zeugnis zum Ende des Schuljahres; in letzterem Fall wäre sie sogar noch bis mindestens Ostern 1937 als Schülerin der KLS belegt.
(Siehe den Nachtrag ganz unten)

1937

Im Alter von 18 Jahren beging Elsies älterer Bruder Hans Berg am 26.08.1937 Selbstmord. Die genauen Gründe hierfür sind unbekannt. Allerdings betraf die Diskriminierung und Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger bereits alle Lebensbereiche, von Berufsverboten bis zum Verlust des Wahlrechts, dem Ausschluss aus Sportvereinen, dem Verbot, Gaststätten, Schwimmbäder, Parks und Kinos zu besuchen. Rassenkunde war inzwischen verpflichtender Bestandteil des Lehrplans, ebenso wie der „Deutsche Gruß“ in und außerhalb des Unterrichts. Sogar die deutsche Staatsbürgerschaft mitsamt allen dazugehörigen Rechten wurde den "sogenannten" Juden aberkannt. Diese Auflistung könnte noch sehr lange weitergeführt werden. Außerdem waren Gesetze und Verordnungen nur die eine Seite - dazu kamen die vielfältigen Demütigungen und Diskriminierungen im alltäglichen Umgang, auch im Schulalltag.
Der Freitod als Ausweg aus der Judenverfolgung war tragischerweise nicht unüblich und ist auch - in verschiedenen Stadien - für andere ehemalige Schülerinnen der KLS bezeugt (z.B. Alice von der Heyden). Die langfristigen Auswirkungen dieser Demütigungen fasste Elsbeth von Ameln, ebenfalls Schülerin der KLS, folgendermaßen zusammen, wenn auch rückblickend nach Kriegsende: "12 Jahre Diskriminierung, Verfolgung fallen nicht wie Fesseln ab. Sie tragen unauslöschbare Spuren“. Wie unauslöschbar und mächtig diese "Spuren" waren, zeigt sich auch daran, dass sie manche Opfer noch im Nachhinein überwältigten, die noch nach Kriegsende den Freitod wählten (wie vielleicht Liselotte Sussmann).

Dass Hans Berg die Demütigungen nicht mehr ertrug und den Freitod als Ausweg wählte, lässt sich zwar nicht beweisen, ist aber doch sehr wahrscheinlich. Was der Tod ihres Bruders für Elsie und ihre Familie bedeutet haben muss, können wir uns nur vorstellen. Genau 10 Jahre nach dem Tod ihres Vaters standen sie nun wieder an demselben Grab und mussten sich verabschieden.

Grab von Eduard und Hans Berg 

Grab von Eduard und Hans Berg

1938

Im August emigrierten die Großeltern Hanf in die Niederlande, wo sie zunächst bei dem Bruder der Großmutter unterkamen. Großmutter Sophia kam ursprünglich aus Borne in den Niederlanden, und wie die Rückseiten einiger Familienfotos beweisen, hat zumindest ein Teil der Familie niederländisch gesprochen. Ob Elsie dies auch konnte, vermag ich nicht zu sagen.

Wenn Elsie bis jetzt noch die KLS besucht hat, wäre sie spätestens im Dezember - durch den "Erlass zum Schulunterricht an Juden" - von einem Tag auf den anderen der Schule verwiesen und gezwungen worden, eine rein jüdische Privatschule zu besuchen.
Die Jawne war das einzige jüdische Gymnasium in Köln und befand sich nur eine Straßenecke von der damaligen KLS entfernt in der Albertusstraße.

1939 bis 1941: Emigration

Im Februar 1939 folgte Elsies Mutter ihren Eltern in die Niederlande. Da sie wahrscheinlich nicht alleine in Köln geblieben sein werden, können wir davon ausgehen, dass Elsie und Lilli sie begleitet haben.
Alle jüdischen Migranten aus Deutschland wurden in den Niederlande in der Regel zunächst im Camp Westerbork interniert. Im Alter von 16 Jahren könnte Elsie so zum ersten Mal zur Gefangenen geworden sein.

Für die folgenden zwei Jahre verlieren sich ihre Spuren. Nachdem die Niederlande im Mai 1940 von der deutschen Wehrmacht eingenommen worden waren, hatten die Nazis Elsie aber wieder eingeholt.

Ihre Großeltern wechselten ab diesem Zeitpunkt innerhalb eines Jahres insgesamt drei Mal den Wohnsitz, weil sie jedes Mal von den deutschen Behörden aus ihrem Haus vertrieben, in ein neues geschickt und dann wieder hinausgeworfen wurden. Sie fanden schließlich eine dauerhafte Unterkunft im Krankenhaus „Joodse Invalide“ (jüdische Invalide) in Amsterdam. Auch Elsies Mutter Friederike scheint dort gewohnt und/oder gearbeitet zu haben. Wann und unter welchen Umständen ist mir aber nicht bekannt.

Am 5. Mai wurde die Apostelnbrauerei der Bergs im Zuge der "Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens" aufgelöst. Dieses Gesetz zwang alle als Juden definierte Personen, ihr Unternehmen und ihren Grundbesitz zu verkaufen, ihren Schmuck und andere Wertgegenstände abzugeben. Ende Juni emigrierte dann auch Elsies Onkel Rudolf Berg mit unbekanntem Ziel. Über sein weiteres Schicksal ist mir nichts bekannt.

1942

Am 21.05.1942 kam Elsie Berg als Schwesternschülerin an die psychiatrische Einrichtung "Apeldoornsche Bosch". Dort herrschte ein Mangel an Personal, da sich einerseits die Anzahl der Patienten*innen seit Kriegsbeginn stark erhöht hatte, da Juden nicht mehr in nicht-jüdischen Einrichtungen behandelt werden durften, andererseits aber auch kein nicht-jüdisches Personal in einer jüdischen Einrichtung arbeiten durfte. Die Bosch galt als "Judenhimmel" und sicher vor Deportationen, da sie von den Nazis relativ unbehelligt gelassen wurde.
Dort verbrachte Elsie die nächsten acht Monate.

psychatrische Einrichtung Apeldoorn

psychatrische Einrichtung Apeldoorn


Am Mittwoch, den 20.01.1943, tauchten jedoch Männer der jüdischen Polizei von Westerbork, genannt "Ordedienst", auf. Westerbork war das Internierungs-/ Sammel- und Durchgangslager für holländische Juden. Wem es nicht gelang unterzutauchen, der kam dort hin. Am Bahnhof von Apeldoorn wurde ein Güterzug bereitgestellt.
Die Hälfte des Personals floh in der Nacht darauf. Elsie tat dies nicht. Sie wurde gemeinsam mit den Patienten und dem übrig gebliebenen Personal in der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag in die Güterwaggons gebracht. Die Patienten waren teilweise nackt oder in Zwangsjacken.
Um sieben Uhr morgens fuhr der Güterzug in Richtung Auschwitz ab. Kurz nach ihrer Ankunft dort wurde Elsie im Alter von 19 Jahren gemeinsam mit allen Patienten und Angestellten ermordet.

In den gleichen Zügen wurden auch einige Anwohner Apeldoorns verschleppt. Es ist möglich, dass ihr Großeltern auch darunter waren, denn ihre Großmutter Sophia starb Ende März, also drei Monate später, in Westerbork. Ihr Mann Ludwig Hanf starb zwei Jahre später am 21.01.1945 in Bergen-Belsen.

Siehe auch Nachtrag II.

Lilli und Friederike Berg

Lilli und Friederike Berg wurden vier Monate nach Elsies Ermordung inhaftiert und in das Sammellager in Westerbork gebracht. Dort verbrachten sie die nächsten acht Monate, bis sie am 11.01.1944 ins Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert wurden.
Nach einem Jahr und 3 Monaten wurden sie in Güterzüge gesperrt. Da die Alliierten immer weiter vorrückten, fingen die Nazis an, die Inhaftierten in den Konzentrationslagern massenhaft zu erschießen, oder sie versuchten sie in KZs weiter im Inland umzuquartieren. Der Zug bzw. die Züge, in denen Lilli und Friederike waren, hatten Theresienstadt als ursprüngliches Ziel. Dies wurde jedoch nie erreicht. Sie wurden 22 Tage anscheinend planlos durch Deutschland gefahren, bis sie am 23.04.1945 in dem sehr kleinen Dorf Tröbitz, das zwischen Berlin und Dresden liegt, befreit wurden.
Die Zustände in den drei sogenannten "lost trains" waren jedoch so katastrophal, dass 200 der ursprünglich 6.800 Insassen noch während der Fahrt starben. An den Folgen der Inhaftierung verstarben in den folgenden Tagen weitere 320 Menschen, darunter Friederike Berg.
Sie starb sieben Tage nach der Befreiung am 23.04.1945 und wurde auf dem Friedhof in Tröbitz begraben (Jüdischer Ehrenfriedhof Tröbitz Reihe 1, Grab 4).
Lilli Berg emigrierte in die USA, wo sie bis zu ihrem Tod 1991 im Alter von 73 Jahren lebte. Sie hatte keine Kinder, stand aber ihr Leben lang in Kontakt zu den anderen Überlebenden: ihrer Tante Dodi (Dina) und ihren Cousins Bruno und Dieter Heidenheim.
In einem Brief schrieb Bruno an seinen Bruder Dieter: “Lilli Berg, who is the sweetest girl on earth and the dearest friend, I have found here in NY”.

Nachwort

Als ich einmal eingearbeitet war, konnte ich gar nicht mehr aufhören zu recherchieren. Auf einmal tauchten Geschwister auf, Großeltern, die Firma des Vaters, das Haus …. Aus einem Vornamen und einem Nachnamen wurde ein Stammbaum mit über 50 Personen, teilweise nur mit Geburtsdaten, teilweise mit fast vollständigen Lebensgeschichten. Ich durchsuchte Datenbanken, schrieb E-Mails an Archive und stehe inzwischen sogar in Kontakt zu Nachfahren der Familie.

Die Auseinandersetzung mit Elsies Leben schuf mir darüber hinaus einen ganz anderen Bezug zur Geschichte. Durch den persönlichen Bezug zu Elsie wechselte die Perspektive ein wenig. Ich begann die Geschichte mit etwas weniger Distanz zu betrachten. Automatisch tauchten Fragen auf wie: Wie hat Elsie das wohl erlebt? Hat es ihren Alltag beeinflusst? Kann ich dazu Informationen finden?

Ich habe aus diesem Projekt viel mehr mitgenommen als nur eine Mappe mit Ergebnissen und hoffe, einen kleinen Teil dazu beigetragen zu haben, dass die Nationalsozialisten ihr Ziel nicht erreichen und Elsie und ihre Familie nicht in Vergessenheit geraten werden.

Nachtrag

Nach Abschluss dieser Arbeit sind uns neue Dokumente zugänglich geworden - oder besser: alte Dokumente wieder zugänglich geworden, die durch den Einsturz des Historischen Archivs verloren waren und inzwischen wiederhergestellt werden konnten. Aus ihnen ergibt sich Folgendes:
Die Identität von Elsie Berg (und die Übereinstimmung mit Elfie) ist mittlerweile zweifelsfrei gesichert. Elsie ist uns über eine Zeugnisliste aus dem Schuljahr 1936/1937 in der Klasse IV b bezeugt - in derselben Klasse befanden sich auch Eva Alsberg, Ellen Süskind und Doritta Sternschuß, also insgesamt vier Mädchen "israelitischen" Glaubens. Demnach muss Elsie im Jahr 1934 im Alter von 11 Jahren an der Schule angenommen worden sein; das ist relativ spät, aber nicht untypisch. Besucht hat sie die KLS bis Ostern 1938, denn zu diesem Zeitpunkt wurde sie in die Obertertia (die 9. Klasse) versetzt.

Zu Beginn des neuen Schuljahres 1938/39 oder kurz danach muss Elsie, ebenso wie ihre drei jüdischen Klassenkameradinnen, die KLS dann verlassen haben, denn für dieses Schuljahr sind in den offiziellen Dokumenten (die uns inzwischen vorliegen) überhaupt keine jüdischen Schülerinnen mehr an der KLS gemeldet. Die genauen Umstände und Gründe bleiben allerdings unbekannt. Unbekannt ist ebenfalls, ob sie wie Eva Alsberg bis zu ihrer Flucht noch die jüdische Schule Jawne besucht hat, die in direkter Nachbarschaft der KLS gelegen war.

Inzwischen liegt uns auch ein Foto vor, auf dem vermutlich Elsies Vater Eduard Berg während des 1. Weltkrieges in Uniform zu sehen ist. Er könnte also doch das "Frontkämpferprivileg" gehabt haben. Allerdings ist die Identifizierung nicht gänzlich gesichert; zudem bleibt unklar, ob Eduard Berg nicht nur Soldat, sondern tatsächlich auch "Frontkämpfer" war.

Ez

Nachtrag II

Het Apeldoornsche Bosch

Inzwischen sind genauere Informationen zur Räumung der psychiatrischen Klinik „Het Apeldoornsche Bosch“ und zur Ermordung der Patienten und des Personals verfügbar. Elsie Berg muss Zeugin der folgenden erschütternden Ereignisse geworden sein – und eines ihrer Opfer.

„Nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht am 10. Mai 1940 tauchten zahlreiche jüdische Menschen in Het Apeldoornsche Bosch unter, da sie hofften, dort sicher vor Verfolgung zu sein. Im Oktober 1941 waren 1549 Menschen in der Anstalt registriert, insgesamt 250 Menschen mehr als vom Platz her vorgesehen. Da die Klinik etwas abgelegen lag, scheinbar fern von den politischen Entwicklungen unter deutscher Besatzung und den Anfängen der Judenverfolgung in den Niederlanden, ermöglichte sie den Bewohnern ein zunächst ungestörtes Leben. Diese glaubten sich daher, wie sie selbst sagten, im Jodenhemel (Judenhimmel).

Zum April 1942 mussten auf Anordnung der deutschen Behörden alle nichtjüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, rund ein Drittel des Personals, die Einrichtung verlassen, wodurch sich die Arbeitsbelastung für das zurückgebliebene Personal erhöhte. Zum Ausgleich wurden auf die Schnelle junge jüdische Mädchen aus Amsterdam ohne Ausbildung eingestellt. (...)

Am Mittwoch, den 20. Januar, traf Albert Konrad Gemmeker, Kommandant des Lagers Westerbork, mit 100 Angehörigen des Ordediensts in der Klinik ein, einer Gruppe von niederländischen und deutschen Juden, die im Lager als Ordnungskräfte eingesetzt wurden. (…) Am Abend dieses Tages wurde Lobstein [der Leiter der Klinik] von dem zuständigen Bahnbeamten des Bahnhofs Apeldoorn, Harmannus Kalkema, darüber informiert, dass dort ein Zug mit 40 Waggons angekommen sei. Nach anderen Angaben soll der Zug aus 25 bis 29 Waggons bestanden haben, darunter sechs Personenwagen, der Rest Güterwagen. Lobstein musste erkennen, dass er bisher in „einer Illusion gelebt hatte“, und informierte nun offiziell seine Mitarbeiter. Die Männer vom OD ließen es zu, dass in der Nacht weitere Mitarbeiter (ca. 175) und Patienten (ca. 80) die Anstalt verließen. Der Bahnbeamte Kalkema selbst brachte noch zwei ihm bekannte Patienten aus der Klinik fort. Oberpfleger De Groot und seine Frau begingen Suizid.

In der Nacht zu Freitag, dem 22. Januar 1943, wurde Het Apeldoornsche Bosch von Angehörigen der Ordnungspolizei umstellt. Zuvor waren die letzten 80 noch in Apeldoorn lebenden Juden auf das Gelände gebracht worden. Die Patienten (...) würden in ein Krankenhaus nach Deutschland verlegt, die Mitarbeiter hingegen sollten in den Niederlanden bleiben. (...) 20 Mitarbeiter meldeten sich freiwillig als Begleitung, 30 weitere wurden (...) bestimmt. Ihnen wurde zugesagt, dass sie nach ihrer Rückkehr Stellen in Krankenhäusern bekommen sollten. (...) Die Ärzte und das höhere Pflegepersonal wurden in den Speisesaal gesperrt, und das Telefon wurde abgeschaltet. Später bediente ein deutscher Soldat die Telefonzentrale. Als besorgte Menschen anriefen, um sich nach dem Verbleib ihrer Angehörigen zu erkundigen, soll er den Anrufern mitgeteilt haben: „Der ist im Himmel. Heute Morgen hochgeflogen.“ Währenddessen wurden die rund 1000 Menschen – darunter 869 erwachsene Patienten und 94 Kinder – „schreiend, wie Vieh“ in bereitstehende Lastwagen gepfercht. Etliche Patienten befanden sich in Zwangsjacken, andere trugen nur ihre Schlafanzüge oder waren ganz nackt – es war Januar und es herrschten fünf Grad –, viele von ihnen verwirrt. So wurden Patienten mit ihren Matratzen in die schon vollen Wagen gequetscht oder andere Menschen über sie gestapelt und die Türen gewaltsam geschlossen. (...)

Mit den Lastwagen wurden die Menschen – man geht heute von 1069 Deportierten aus – in mehreren Fuhren in hoher Geschwindigkeit zum Bahnhof Apeldoorn gefahren und in die bereitstehenden Waggons verladen. Einige Patienten fielen dabei zwischen Bahnsteig und Zug auf die Schienen, andere klammerten sich an den Türrahmen fest, so dass die „grünen Männer [die Ordnungspolizei] alles andere als zimperlich“ vorgingen, um die Waggontüren zu schließen. Das Pflegepersonal wurde getrennt in einem abgeschlossenen Waggon untergebracht. (…) Der vorbereitete Proviant, Gepäck und Medikamente [waren] in der Klinik zurückgelassen worden.

Die Fahrt nach Auschwitz, auf der schon einige Patienten starben, dauerte drei Tage. Ein niederländischer Augenzeuge am Zielort berichtete später, es sei „einer der schrecklichsten Transporte aus Holland“ gewesen, die er gesehen habe. Viele der psychisch kranken Patienten hätten bei der Ankunft in Auschwitz in Verwirrung und Panik versucht, Absperrungen zu durchbrechen, und seien auf der Stelle erschossen worden. Auch der tschechische Gefangene Rudolf Vrba berichtete später über die Ankunft des Zuges: Zwischen den Kranken seien die jungen Pflegerinnen herumgelaufen, die Mühe gehabt hätten, sich vor Erschöpfung auf den Beinen zu halten, und sich dennoch tröstend um die Patienten gekümmert hätten. Die übrigen Menschen wurden sofort in die Gaskammern geschickt. (...) Ärzte und Pfleger wurden in das Lager in eine Quarantänebaracke gebracht. Alle wurden später ermordet.“

 

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Het_Apeldoornsche_Bosch (Abruf: 19.11.2022)

Danksagung

Von vielen Seiten habe ich Hilfe und wichtige Informationen bekommen. Dafür möchte ich herzlich danken, und zwar den Mitarbeiter*innen des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, namentlich Frau Dr. Becker-Jákli, Frau Bach vom Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen in Berlin sowie den Mitarbeiter*innen der Bundeszentralkartei/Dezernat 15 in Düsseldorf, insbesondere Herrn Zimmermann.

Mein besonderer Dank gilt darüber hinaus Frau Martha Heidenheim, die mir in vielfacher Weise geholfen hat. Vor allem hat sie als nächste Verwandte alle hier verwendeten Abbildungen zur Familie zur Verfügung gestellt und die Erlaubnis zur Publikation erteilt.

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