Edit Cahn

von Carla König und Charlotte Hilf

Der Projektkurs Geschichte beschäftigt sich mit ehemaligen jüdischen Schülerinnen der Königin-Luise-Schule (KLS), die unter den nationalsozialistischen Repressionen zu leiden hatten. Ziel ist es, die Biographien der Schülerinnen zu rekonstruieren, damit ihre Schicksale nicht in Vergessenheit geraten. Außerdem hilft die Beschäftigung mit Einzelschicksalen dabei, sich besser in ihre damalige Situation einzufühlen und sich vorzustellen, was sie aufgrund des Nationalsozialismus erleiden mussten. 5,3 bis 6,4 Millionen Juden sind im Holocaust ermordet worden. Zahlen und Statistiken dieser Art sind zwar beeindruckend, aber können wir uns eine solche Zahl an Opfern, das Ausmaß des Verbrechen wirklich vorstellen? Die Geschichte einer einzelnen Person oder einer Familie hat meistens einen deutlich größeren emotionalen Effekt; sie berührt uns auf einer ganz anderen Ebene, nimmt uns mit. Dies gilt vor allem auch vor dem gemeinsamen Hintergrund unserer Schule. Zusätzlich sollen die Biographien uns, vor allem als Deutsche, vor Augen führen, wie groß unsere Verantwortung dabei ist, zu verhindern, dass jemals wieder ein derartiges Verbrechen geschieht. Die Beschäftigung mit Einzelschicksalen scheint uns die beste Prävention. Das Aufleben von Nationalismus und rassistischem Denken in Deutschland gibt zusätzlichen Anlass, an die jüdischen Schülerinnen zu erinnern.

Warum Edith Jonas?

Ich schätze Ihre anhaltende Energie für dieses Unterfangen und versichere Ihnen, dass dieses Projekt mich veranlasst hat, erneut über meine Haltung zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs nachzudenken, die sich auf das heutige Deutschland beziehen. Während ich meine Gedanken über die Platzierung des Stolpersteins sammle, versuche ich auch, meine moralische Position gegenüber einer neuen Generation von Deutschen und ihre Kämpfe um das Verständnis der Handlungen ihrer Vorfahren zu analysieren. Das ist nicht einfach für mich. Was eine große Familie hätte sein sollen, ist jetzt eine kleine Familie.

Dieser Ausschnitt einer Mail vom 17.02.2021 überzeugte uns, die Biographie von Edith Jonas schreiben zu wollen. Der Verfasser der Mail ist Johnny Cahn, der in den USA lebende Sohn von Edith Jonas. Im Vorfeld der Themenverteilung erzählte uns Herr Erkelenz von dem Kontakt zu ihrem Sohn. Dieser Kontakt war bereits durch den vorherigen Projektkurs entstanden, welcher auch schon Recherche zu Edith Jonas betrieben hatte. Die musste allerdings aufgrund der Corona-Pandemie vorübergehend ausgesetzt werden.

Diese Mail jedenfalls führte uns vor Augen, was für eine Bedeutung unsere Arbeit im Projektkurs haben kann; was es für Angehörige heißt, wenn deutsche Schüler*innen die Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus aufrechterhalten. Wir wussten, dürften wir die Biographie für Edith Jonas schreiben, hätten wir auch die Möglichkeit, diesen Kontakt aufrechtzuerhalten. Davon waren wir besonders begeistert, denn in unseren Augen würde uns dieser Kontakt auch die Möglichkeit geben, zu verstehen - zu verstehen was es heißt, seine Mutter durch den Nationalsozialismus zu verlieren, ohne sie je richtig kennengelernt zu haben. Aber zu Edith Jonas Schicksal später mehr. Wir wollten Johnny Cahn jedenfalls von Anfang an zeigen, dass seine Mutter, die - wie wir heute - die KLS besuchte, nicht vergessen wird. Und genau das ist unsere Motivation hinter dieser Biographie.

Erwähnung in der Literatur

‘Kinder, was wißt ihr von Goethe?‘ Der neue Klassenlehrer war eingetreten, mit forschem Schritt, Günther Rosendahl, der beliebteste Lehrer der Schule. Primanerinnen umschwärmten ihn. Der Schulklatsch behauptete, auf Schulausflügen leiste er sich galante Scherze. Die Hübschesten versammle er um sich. Mit der schönen Jüdin Edith Jonas habe er geflirtet, in einem Gartenlokal im Königsforst habe er mit ihr aus einem Glas getrunken, ihre Zigarette zu Ende geraucht, deren Mundstück vom Lippenstift rot gefärbt war. Uns kümmerte das Gerede wenig, wir waren stolz, daß wir ihn jetzt hatten.

(Helene Rahms, Auf dünnem Eis, Bern/München/Wien 1992, S. 187)

Diese Anekdote überliefert uns die renommierte Journalistin Helene Rahms in ihrem Buch „Auf dünnem Eis“, einem autobiographischen Rückblick auf ihre Kindheit und Schulzeit an der Königin-Luise-Schule in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren.

Helene Rahms schreibt im zeitlichen Abstand von fast 70 Jahren; ihr Werk ist unübersehbar literarisch inszeniert und nicht frei von chronologischen Ungenauigkeiten oder sogar Fehlern. In einem Punkt aber ist ihre Darstellung korrekt: Eine jüdische Schülerin namens Edith Jonas hat es tatsächlich gegeben. Lange Zeit war dies der einzige Hinweis auf sie, in keinem unserer – mittlerweile gar nicht mehr so wenigen – offiziellen Dokumenten fand sich eine namentliche Erwähnung. Inzwischen haben wir aber weitere Informationen und Dokumente, vor allem durch ihren Sohn, erhalten.

Kindheit und Familie

Edith Jonas wurde am 27. August 1913 in Köln-Ehrenfeld geboren, wahrscheinlich im jüdischen Krankenhaus in der Ottostraße, da ihre Familie zu diesem Zeitpunkt wohl in Deutz wohnte. Ihre Eltern waren Paul Friedrich Jonas, geboren am 30. April 1889 in Kiel, und Rosa Jonas (geb. Isaac), geboren am 9. Juli 1891 in Köln. Zwei Jahre später bekamen Paul und Rosa ein weiteres Kind, Ediths jüngeren Bruder Erich (* 14.03.1915 in Deutz). Die gesamte Familie gehörte der jüdischen Religionsgemeinschaft an.

Wann genau Paul Jonas nach Köln kam, wissen wir nicht. In den Historischen Adressbüchern der Stadt Köln findet sich im Jahr 1910 noch niemand dieses Namens. Erst 1915 könnte er belegt sein, als Kaufmann in Deutz. Ab 1925 begegnet er uns dann als Inhaber einer Altmetallgroßhandlung unter der Adresse An der Bastion 11, ebenfalls in Deutz. Die Familie blieb in diesem Stadtteil und zog 1934 in die Kasemattenstraße 8-10; dort wohnte sie bis zu ihrer Ausreise.

Schulzeit
Königin-Luise-Schule in der St. Apernstraße im Jahr 1920

Über die Kindheit und frühe Jugend von Edith Jonas wissen wir nichts; wir können nur Vermutungen anstellen. Edith Jonas wurde ja 1913 geboren. Wenn ihre Schullaufbahn also durchschnittlich verlief (es kann natürlich auch anders gewesen sein), dann wurde sie mit sechs Jahren in einer Kölner Grundschule oder Volksschule eingeschult, aufgrund ihres Geburtsdatums aber erst zu Ostern 1920. Dies ergibt sich dadurch, dass ihr Geburtstag nach dem 30. Juni lag. Eingeschult wurde in der Regel, wer zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Jahre alt war; grundsätzlich war aber auch eine frühere oder spätere Einschulung möglich. Ein Schuljahr begann damals zudem immer zu Ostern und nicht wie heute nach den Sommerferien. Unklar bleibt auch, ob es sich um eine jüdische Grundschule bzw. Volksschule handelte oder nicht. Wahrscheinlich nach vier Jahren, also zu Ostern 1924, erfolgte dann der Übertritt in eine weiterführende Schule.

Klassenfoto mit Edith Jonas (hinten Mitte im gestreiften Pullover), Ende 20er Jahre

Die Tatsache, dass Edith Jonas als Mädchen eine höhere Bildung erhielt, hebt sie von den meisten Mädchen der damaligen Zeit ab und stellte durchaus ein großes Privileg dar. Außerdem gibt sie uns einen Hinweis auf die fortschrittliche und liberale Einstellung ihrer Familie; man schickte damals seine Tochter nur auf eine weiterführende Schule, um ihr eine eigenständige Zukunft zu ermöglichen, etwas, was die wenigsten als nötig empfanden, würde eine Frau in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter höhere Bildung doch gar nicht brauchen, ja ihr dies vielleicht sogar schaden. Sie liefert uns zudem einen Hinweis auf die finanzielle Situation ihrer Familie, denn ein Schulbesuch war teuer. Auf der KLS betrug das Schulgeld zu der Zeit ca. 200 Mark, wobei hier noch die nötige Ausstattung, wie geeignete Kleidung oder Schreibmaterialien, hinzu kam. Und vielleicht gibt es uns auch einen Hinweis auf eine eher liberale religiöse Haltung der Familie. Denn Edith ging nicht auf eine jüdische Schule, zum Beispiel die Jawne, sondern auf die städtische KLS.

Nach der Aussage von Helene Rahms befand sich Edith auf jeden Fall in der Oberstufe (Prima). Entweder ging sie also direkt nach der Grundschule auf die KLS, oder sie besuchte zunächst eine Mittlere Schule und wechselte erst später. Sollte letzteres der Fall gewesen sein, dann wäre dies am ehesten nach sechs Jahren zum Beginn der Oberstufe, also etwa zu Ostern 1930, erfolgt. Die Oberstufe der KLS setzte sich zur damaligen Zeit aus dem sogenannten wissenschaftlichen Oberlyzeum mit dem Ziel eines „regulären“ oder „vollen“ Abiturs, und der hauswirtschaftlich-technischen Frauenoberschule, an deren Ende das Werksabitur stand, zusammen. Nach Aussage ihres Sohnes absolvierte sie an der KLS ihr Abitur, was also bedeutet, dass sie vorher das wissenschaftliche Oberlyzeum besucht haben muss.

Edith Jonas bei ihrer Abiturfeier 1934

Ediths genaues Abiturjahr ist ihrem Sohn nicht bekannt, es muss aber das Jahr 1934 gewesen sein. Anhand von uns vorliegenden sogenannten „Schuljahresberichten“, in denen die Gesamtzahlen der Jahrgänge sowie die Verteilung von Konfessionszugehörigkeiten gemeldet wurden, können nämlich die Abschlussjahrgänge bis 1932 von vornherein ausgeschlossen werden, denn bei diesen liegen uns die Namen aller jüdischen Schülerinnen vor. Edith Jonas ist nicht dabei. Auch das Jahr 1933 kann als Ediths Abiturjahr ausgeschlossen werden. In diesem Jahr machte nur ein jüdisches Mädchen Abitur, und zwar in der Frauenoberschule der KLS; bei diesem handelte es sich zweifelsfrei um Regina Rothschild (siehe ihre Biographie in diesem Gedenkbuch). Im Jahr 1935 schließlich befand sich keine Jüdin mehr in der Oberprima, der Abiturklasse.

Im Jahr 1934 aber taucht für das Oberlyzeum ein jüdisches Mädchen auf, das sein Abitur gemacht hat, und zwar in der O Ia des Oberlyzeums. Bei diesem Mädchen muss es sich also um Edith Jonas handeln. Folglich bekam sie das „reguläre“ Abitur. Daraus lässt sich auch schließen, dass sie – nach unserem jetzigen Kenntnisstand - die letzte Schülerin jüdischer Konfession war, die unter der Herrschaft der Nationalsozialisten ihr Abitur an der KLS machte.

Die letzte „jüdische“ Abiturientin war sie allerdings nicht. Das war Maria Frankenstein, die Ostern 1938 das Abitur in der Frauenoberschule ablegte (siehe auch ihre Biographie in diesem Gedenkbuch). Allerdings war Maria evangelisch getauft und erzogen – „jüdisch“ war sie nur nach den absurden rassischen Kriterien der Nazis, da ihre Eltern (ebenfalls längst konvertiert) früher einmal jüdischer Konfession gewesen waren.

Flucht in die Niederlande

Edith Jonas emigrierte Ende der 1930er Jahre gemeinsam mit ihren Eltern, ihrem Bruder Erich und dessen Ehefrau Martha in die Niederlande. Ludwig Cahn, Ediths zukünftiger Ehemann, spricht später von Deuvenbrecht, gemeint ist wahrscheinlich Duivendrecht, ein Dorf 6 km entfernt vom Amsterdamer Stadtzentrum. Wann genau die Familie in die Niederlande floh, ist nicht eindeutig geklärt. Es muss aber spätestens 1937 gewesen sein, da Paul Jonas zusammen mit Justus Nussbaum und Alfred Gossels in diesem Jahr eine Metallfabrik in Duivendrecht gründete. Für das Jahr 1936 oder 1937 spricht auch, dass ab 1937 in den Historischen Adressbüchern der Stadt Köln kein passender Paul Jonas mehr auftaucht. Gehen wir also davon aus, dass es sich um den richtigen Paul Jonas handelt, dann war die letzte Adresse der Familie Jonas innerhalb Deutschlands die Kasemattenstr. 8/10 in Köln Deutz.

Die Gründe für die Flucht der Familie Jonas sind offensichtlich: Nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 begann umgehend die Ausgrenzung der deutschen Juden auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene. In der Folgezeit erlassene, weitreichende antijüdische Gesetze, kraft derer ihnen 1935 auch die Bürgerrechte genommen wurden, fortschreitende wirtschaftliche Diskriminierung mittels Boykott jüdischer Geschäfte und Berufsverboten sowie Gewalt, Terror und Hetze führten dazu, dass sich manche Juden dazu entschlossen, Deutschland zu verlassen. Wie Ludwig, ihr späterer Ehemann, es selbst im Rückblick beschreibt: „Mit Hitler hat die Misere angefangen.“.

Ab dem 01.09.1938 waren Edith sowie Paul, Rosa und Erich von Amts wegen keine Deutschen mehr, oder, wie es offiziell lapidar heißt, sie wurden „Der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt durch Bekanntmachung vom 1.9.1938.“. Ihnen wurde auf Grundlage des „Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“ vom 14. Juli 1933 die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Dieses nicht lange nach der „Machtergreifung“ 1933 erlassene Gesetz stellte einen weiteren Schritt der Umsetzung der Rassenideologie der Nationalsozialisten dar. Die Ausbürgerungsmaßnahmen zielten auf die in der Weimarer Republik eingebürgerten Juden und die im Ausland lebenden, politischen Flüchtlinge ab. Durch die Veröffentlichung der Namen von Paul Friedrich Jonas sowie seiner Familie im „Deutschen Reichsanzeiger“ wurde die Entziehung ihrer deutschen Staatsbürgerschaft wirksam. Die Familie fiel unter die Gruppe der sich im Ausland aufhaltenden Reichsangehörigen, welcher wegen ihres politischen Verhaltens nicht nur die Staatsangehörigkeit aberkannt, sondern auch das zurückgelassene Vermögen entzogen werden konnte. Im Fall der Familie Jonas war wahrscheinlich schon ihre Flucht bzw. die Nichtbefolgung einer Rückkehraufforderung das „Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk [verstieß]“ und welches dem Staat erlaubte, sie auszubürgern und ihr Vermögen zu beschlagnahmen.

Nun lässt es sich aus unserer Perspektive schwer beurteilen, inwiefern ihre Ausbürgerung als schmerzhaft von Familie Jonas empfunden wurde. Hingen sie emotional noch an Deutschland? Fühlten sie sich, trotz Diskriminierung und Entrechtung in ihrem eigenen Land, noch als Deutsche? War Deutschland in ihren Augen noch immer ihre Heimat, in die sie vielleicht planten, eines Tages zurückzukehren? Oder hatten sie sich, aufgrund des jahrelangen Hasses, der Repressalien und Demütigungen, unter denen Juden zu leiden hatten, bereits emotional von ihrem Herkunftsland gelöst? In dem Fall bleiben wir mit der Frage zurück, ob für Edith und ihre Familie überhaupt noch ein Ort mit einem Gefühl von Heimat verbunden war. Dieses Gefühl der Wurzellosigkeit ist für Flüchtlinge heute sicherlich immer noch eine große Belastung. Wir, die diese niemals zu spüren bekommen haben, können uns nur glücklich darüber schätzen. Zusätzlich zu dieser emotionalen Auswirkung der Ausbürgerung kommt natürlich noch der besser greifbare Aspekt der Vermögensberaubung hinzu. Uns ist nicht bekannt, ob und in welchem Maß die Familie Jonas bei ihrer Flucht in die Niederlande Besitz in Köln zurückließ. Es ist aber gut möglich, dass dieser dann in behördliche Hände fiel.

Heirat und Leben in Amsterdam

Im Jahr 1939 heiratete Edith ihren Verlobten Ludwig Cahn (* 24.03.1914 in Köln). Vielleicht kannten die beiden sich bereits aus Köln, ganz sicher ist dies jedoch nicht.

Im Jahr 1995 gab Ludwig Cahn dem NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln ein Interview, aus dem viele unserer Informationen über ihn und Edith Jonas stammen. Natürlich handelt es sich bei dem Interview nicht um eine Primärquelle, sondern es entstand – wie die Erinnerungen von Helene Rahms - mehrere Jahrzehnte nach den beschriebenen Ereignissen. Deshalb sollten wir uns bewusst sein, dass es beispielsweise zu fehlerhaften Erinnerungen kommen kann, zu Erinnerungslücken oder chronologischen Ungenauigkeiten. Dennoch handelt es sich bei dem Interview um eine sehr wertvolle Quelle, an deren Inhalt prinzipiell nicht zu zweifeln ist. Ludwig Cahns Erzählungen bieten uns viele Informationen aus erster Hand, die auf anderem Wege nicht zu bekommen sind, zudem sind sie unglaublich eindrücklich und gleichzeitig erschütternd.

Ludwig entstammte einer Familie liberaler Juden, die regelmäßig die Synagoge in der Glockengasse in Köln besuchte. Sie wohnte erst im Kölner Stadtviertel Lindenthal, dann in der Apostelnstraße in der Innenstadt, zuletzt in der Großen Brinkgasse 26. Sein Vater Leo Cahn (* 09.02.1878 in Köln) war Malermeister und hatte sich auf die Beschriftung von Fenstern spezialisiert. Auch er hatte – wie viele Männer seiner Generation – im Ersten Weltkrieg gekämpft, und zwar als Dragoner. Ludwigs Mutter Henriette „Jettchen“ Cahn (geb. Stern) wurde 1877 geboren, starb aber bereits 1925 in Köln. Später heiratete Leo Cahn erneut, und zwar Sibille Blumenfeld (geb. 23.05.1881 in Köln). Sie war vermutlich ebenfalls verwitwet und brachte eine Tochter mit in die Ehe, denn Ludwig hatte eine Stiefschwester namens Sophie. Außerdem hatte er zwei leibliche Schwestern, Erna (* ?) und Henny (* 1907 ?).

Nach der Schule hatte er 1928 zunächst eine Ausbildung in einem Hotel begonnen, 1929/30 dann eine Hotelfachschule in Dresden besucht und anschließend bis 1936 in Düsseldorf und Köln in verschiedenen Hotels gearbeitet. Bis dahin habe er keine Nachteile wegen seiner Religionszugehörigkeit gehabt, seine Arbeitgeber hätten ihn immer korrekt behandelt. Es habe natürlich Repressalien gegeben, schlimm sei es aber erst ab 1936 geworden. Zudem habe es vorher noch Freizeitmöglichkeiten gegeben, z.B. Theater oder – jüdische – Vereine. Hier meint Ludwig sicherlich auch jüdische Sportvereine wie den Jüdischen Turnverein 02 (JTV) in Köln, in dem er Mitglied war.

Denn Ludwig war Amateurboxer (Weltergewicht) – und offensichtlich ein sehr guter. 1934 und 1935 wurde er jüdischer Westdeutscher Landesmeister, im November 1934 und Februar 1936 sogar Reichsmeister. Nach diesem letzten Erfolg beendete er seine Karriere, blieb seinem Sport aber weiterhin als Punktrichter verbunden. Dass er der „beste Boxer im jüdischen Sport Deutschlands“ war – das sollten einige Leute bald am eigenen Leib zu spüren bekommen. Ludwig Cahn selbst erzählt die Geschichte so:

„Wegen des Sports war er in Köln bekannt. 1936 wurde er von SA-Leuten angepöbelt, wie er mit seiner arisch aussehenden Stiefschwester unterwegs war. Als die SA-Leute seine Schwester angriffen, hat der die Männer k.o. geschlagen. Danach hat er zuhause sofort seinen Koffer gepackt und ist vom Hauptbahnhof aus nach Holland gefahren und wurde kurze Zeit von einem Boxmanager beherbergt.

Der Vater war böse auf ihn, da er annahm, dass sich die Nazis nicht lange halten würden. Am Abend des Vorfalls tauchte die Gestapo in seinem Elternhaus auf und hat nach ihm gesucht. Dies wiederholte sich an jedem zweiten Tag etwa ein Jahr lang.“

Zunächst fand Ludwig allerdings keine Arbeit, da er in den Niederlanden keine Arbeitserlaubnis hatte. Dies änderte sich erst später, als sein zukünftiger Schwiegervater Paul Jonas nach seiner Flucht in Amsterdam eine neue Metallfirma gründete. 1939 heiratete Ludwig schließlich Edith Jonas, die Tochter seines Arbeitgebers.

Das Ehepaar wohnte gemeinsam mit Ediths Eltern Rosa und Paul Jonas in der Deurloostraat 90 I in Amsterdam. Ebenfalls unter dieser Adresse wohnte Ediths Bruder Erich mit seiner Frau Martha (geb. Simons). Martha stammte auch aus Köln, sie war die Tochter von Julius Simons (* 26.7.1887 in Rheydt), dem letzten Rabbiner der jüdischen Gemeinde Deutz.

Deurloostraat, Amsterdam 1930. (Stadtarchiv Amsterdam, Bilddatenbank. Deurloostraat, Uitgeverij N.V. Luxe Papierwarenhandel v.h. Roukes & Erhart. 1930.),
Die Firma Wemeta

Neubeginn in den Niederlanden

Paul Jonas war bereits in Köln im Metallgewerbe tätig; er führte dort eine Altmetall-Großhandlung. Nach seiner Flucht in die Niederlande gründete er im Jahre 1936/1937 die Firma “Wemeta Kompanie” zusammen mit Alfred Gossels und Justus Nussbaum aus Osnabrück. Die „Wemeta Kompanie“ war eine Metallschmelzerei, die sich vor allem auf die Wiederverwertung von alten Gaszählern aus ganz Europa spezialisiert hatte, aus denen sich wertvolle Metalle gewinnen ließen, insbesondere Zinn. Das Unternehmen wurde wegen seiner Metallschmelze später als kriegswichtig eingestuft und lieferte nach der Besetzung 1940 an die deutsche Wehrmacht.

Alfred Gossels und Justus Nussbaum waren schon zuvor in Osnabrück im Metallgewerbe tätig gewesen; sie hatten dort die Eisenhandelsgesellschaft ihrer Väter übernommen. Alfred Gossels, geboren am 17. Juni 1907 in Osnabrück, war der Sohn von Emma Gosssels (geb. Heilbrun), geboren am 3. März 1847, und dem Kaufmann Simon Gossels; diese hatten 1901 geheiratet. 1939 ging Alfred Gossels nach Amsterdam, wo er Auguste Gossels (geb. Thormann) heiratete.

Justus Nussbaum, geboren am 1. März 1901, war der Sohn von Phillip Nussbaum (* 22. August 1872 in Emden), und Rahel Nussbaum (geb. Von Dijik). Sein Bruder Felix Nussbaum war ein bekannter Künstler. Justus Nussbaum heiratete Sofie Herta Nussbaum (geb. Bein) und hatte mit ihr eine Tochter namens Marianne. 1937 emigrierte er mit seiner Familie nach Amsterdam und wohnte dort in der Roerstraat 15. Sein Vater Phillip Nussbaum lebte mit seiner Frau nach ihrer Rückkehr aus der Schweiz, in die sie 1933 ausgewandert waren, kurzzeitig in Köln. Nicht auszuschließen ist, dass sich die Familien Nussbaum und Jonas aus dieser Zeit kannten. 1939 floh das Ehepaar Nussbaum nach Amsterdam zu ihrem Sohn Justus.

Die Väter von Alfred Gossels und Justus Nussbaum waren die Inhaber der “Eisenhandelsgesellschaft Gossels und Co”, in der Großen Hamke Straße 6 in Osnabrück. Diese wurde 1900 in „Productenhandlung Gossels und Nussbaum” umbenannt. Für ein Firmenlager wird die Große Rosenstraße 5 als Adresse angegeben. Diese lag in unmittelbarer Nähe zur Großen Hamke Straße 6. Es ist nicht klar, ob das Lager sich an einem anderen Ort befand, oder ob auch der Sitz des Unternehmens 1900 in die Große Rosenstraße 5 umgezogen ist. Das Unternehmen florierte: 1902 wurde ein zusätzliches Außenlager in Eversburg erworben; 1905 erhielt das Geschäft den Zusatz ‘Eisen und Metalle en gros’, 1908 kam ein Gebäude mit Gleisanschluss an der Eversburger Straße 20 (Osnabrück in der Nähe des Hafens) dazu. Auch nach dem Ersten Weltkrieg wuchs die Firma kontinuierlich weiter. Der Standort war günstig: Der neu gebaute Hafen in Osnabrück hatte eine Verbindung zum Mittellandkanal. Nach dessen Fertigstellung 1916 vervielfachte sich der Umschlag von Gütern der Schwerindustrie. Das Lager in der Großen Rosenstraße wurde um Mietwohnungen erweitert und die Büroräume aus der Neustadt in die Altstadt verlegt. Ein weiteres Wohn- und Geschäftshaus wurde von der Firma als Kapitalanlage erworben; auch in den Hafen wurde investiert.

Alfred Gossels und Justus Nussbaum hatten – nachdem sie 1933 für ein paar Monate nach Haifa/Palästina emigriert waren - die erfolgreiche Firma ihrer Väter als Autoverwertung zunächst in Deutschland weitergeführt. Nach der Emigration in die Niederlande knüpften sie gemeinsam mit Paul Jonas mit der Gründung der „Wemeta Kompanie“ hieran an.

 

Michael Sommer und die Wemeta

Im April 1940 erfolgte die Eroberung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht. Die jüdischen Flüchtlinge unterlagen jetzt all den diskriminierenden Beschränkungen der Nationalsozialisten, die in Deutschland Schritt für Schritt verhängt worden waren. Alle Mitglieder der Familie Jonas waren “Volljuden” und somit ausnahmesos von allen Beschränkungen betroffen. Diese beinhalteten die Klassifizierung gemäß den Nürnberger Gesetzen, Berufsverbote, Ausschluss aus dem öffentlichen Leben bis hin zur Stigmatisierung durch den Judenstern und vieles mehr. Außerdem drohte für private Geschäftsleute, wie Paul Jonas, die Zwangsarisierung - “der Entzug der Firma durch Zwangsverkauf an einen ‘arischen’ Besitzer oder durch die Einsetzung eines geschäftsführenden ‘Treuhänders.“

Ende 1941/Anfang 1942 wurde ein Mann namens Michael Sommer von den deutschen Behörden als “Treuhänder” der „Wemeta Kompanie” eingesetzt. Michael Sommer (* 18. März 1894) hatte im 1. Weltkrieg bei der Kriegsmarine gedient und war danach zur Handelsmarine gegangen.1926 wurde er Schiffseichmeister im Hamburger Hafen und trat 1932, also vor der „Machtergreifung“, der NSDAP bei. 1941 kam er schließlich in die Niederlande und wurde wenig später Treuhänder der Wemeta, die zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Monaten untätig war.

Für Paul Jonas, Alfred Gossels und Justus Nussbaum bedeutete dies zwar, dass sie nicht mehr die Herren über ihre eigene Firma waren; jedoch ist es wahrscheinlich, dass die Einsetzung des Treuhänders Michael Sommer mit ihrem Einverständnis geschah. Hermann Wallheimer, der Besitzer der Firma “Cufeniag”, die auch Michael Sommer als Treuhänder hatte, sagt, dass Paul Jonas Sommer darum gebeten habe, der Treuhänder von Wemeta zu werden:        

“In early 1942 Sommer and Paul Jonas of Wemeta reached an agreement while guests at his appartment. According to Wallheimer, it was Jonas who had asked Sommer to become Treuhänder (trustee) of his firm Wemeta rather than the other way round, to help him save his Jewish employees. “Es ist in Ordnung” (it’s allright) was Sommer’s short answer.

Anfang 1942 trafen Sommer und Paul Jonas von Wemeta eine Vereinbarung, als sie in dessen Wohnung zu Gast waren. Laut Wallheimer war es Jonas, der Sommer gebeten hatte, Treuhänder seiner Firma Wemeta zu werden und nicht umgekehrt, um ihm bei der Rettung seiner jüdischen Mitarbeiter zu helfen. "Es ist in Ordnung", war Sommers kurze Antwort.  (Übersetzung durch die Verfasserinnen)

 

Der Vierjahresplan

Der “Vierjahresplan” war ein Wirtschaftsprogramm, das Adolf Hitler bereits 1933 initiiert hatte, um das Deutsche Reich innerhalb von vier Jahren wirtschaftlich und militärisch kriegsfähig zu machen. Die Bedeutung des Programmes wurde vor allem dadurch klar, dass die zuständige Reichsbehörde dem Reichsmarschall Hermann Göring zugeordnet war. Die Zuständigkeit wurde nach einer Verlängerung (“Zweiter Vierjahresplan”) und dem Beginn des Krieges auf alle eroberten Gebiete ausgeweitet. Nun ging es darum, mit allen Mitteln die Rohstoffversorgung der deutschen Rüstungsindustrie sicherzustellen. “Mit allen Mitteln” war auf Einkäufe auf dem freien Markt sowie Konfiskationen und Zwangsleistungen gerichtet. Aufgrund der sich verschlechterten Kriegslage und den enormen Anforderungen an die deutsche Rüstungsindustrie reichte dies jedoch nicht aus. Vor allem seltene Metalle waren auf diesem Wege nicht zu bekommen. Deswegen stellte der Vierjahresplan enorme Geldmittel zu Verfügung, um auch auf dem Schwarzmarkt in großen Stil an diese Güter zu kommen. Solche Geschäfte mussten aber über Tarnfirmen laufen, weil es sich um geheime Operationen handelte, die zudem offiziell verboten waren.

Die Firma Wemeta war eine solche Firma und Michael Sommer war tatsächlich “Sonderbeauftragter des Vierjahresplans”. Offiziell war er der Treuhänder der Wemeta, jedoch wurde sie weiterhin von Paul Jonas, Alfred Gossels und Justus Nussbaum geleitet. Diese reisten als Metalleinkäufer durch das Land und über Grenzen, um jedes verfügbare Stück Metall im Auftrag der Deutschen Rüstungsindustrie zu kaufen. Die Metalle wurden dann in der Wemeta gesammelt, sortiert, eingeschmolzen und zuletzt ins Deutsche Reich abtransportiert. Aufgrund der großen Mengen mietete Michael Sommer zwei Lagerhäuser im Hafen von Amsterdam.

Dieses Verfahren bot für alle Beteiligten viele Vorteile. Die deutsche Rüstungsindustrie gelangte so an wichtige Waren und Rohstoffe, die anders nicht zu bekommen waren: Eisen und Stahl, Kupfer, Messing und Zinn, aber auch Leder, und vieles andere mehr. Die Schwarzmarkthändler verdienten gut an diesen Geschäften, bis zum Dreifachen dessen, was in Friedenszeiten auf dem freien Markt gezahlt worden war. Michael Sommer war in seiner Tätigkeit weitgehend unabhängig; er bekam ein offizielles Gehalt von 1000 Gulden im Monat und er war zudem mit 3% Provision an allen unter seiner Leitung getätigten Geschäften beteiligt. Nach eigener Aussage hatte er in dieser Zeit 3 Millionen Gulden verdient. Er jonglierte zudem mit hohen Summen. Und Schwarzmarktgeschäfte mussten natürlich meist in bar abgewickelt werden. Hier boten sich viele Möglichkeiten für „Nebeneinkünfte“ in Form von Bestechungsgeldern und Unterschlagungen. Für Michael Sommer muss dies die Zeit seines Lebens gewesen sein. Er residierte in Amsterdam in einer der renommiertesten Straßen in einer prunkvollen Villa mit eigenem Garten und Grachtzugang, ausgebaut von einem namhaften Architekten. Dort feierte er rauschende Feste mit Freunden und Geschäftspartnern. Er verfügte über zwei Limousinen mit Chauffeur, besaß große Mengen Bargeld und Wertgegenstände.

Mit Paul Jonas und seinen Kompagnons zusammenzuarbeiten, hatte ebenfalls große Vorteile. Sie waren – anders als Michael Sommer – Spezialisten in der Metallbranche und kannten sich aus. Sie verfügten über Kontakte und Netzwerke, um Waren und weitere Mitarbeiter zu finden. Sie sprachen Deutsch und Niederländisch. Und sie waren als Juden natürlich vollkommen von ihm abhängig.

Auch für Paul Jonas ergaben sich Vorteile in der Zusammenarbeit mit Michael Sommer. Zum einen blieb Paul Jonas faktisch der Geschäftsführer von Wemeta. Zum anderen konnte er seinen Lebensunterhalt sichern und auch den seiner Familienangehörigen, die wohl alle in der Firma arbeiteten, entweder als Einkäufer wie Erich Jonas und Ludwig Cahn, oder als Metallsortierer. Aufgrund ihrer “kriegswichtigen” Tätigkeiten erhielten die Arbeiter der Wemeta auch gewisse “Privilegien” (das heißt die Befreiung von den Beschränkungen, die für alle Juden galten). So mussten Paul und Erich Jonas keinen Judenstern tragen, konnten öffentliche Verkehrsmittel nutzen, hatten einen Telefonanschluss, durften frei reisen - auch über die Grenzen - und konnten mit hohen Bargeldbeträge arbeiten. Das wichtigste war jedoch, dass ihre Tätigkeit ihnen einen gewissen Schutz vor den Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager in Polen bot, die nach der Wannseekonferenz ab Mitte 1942 auch in den Niederlanden begannen.

Natürlich hatten diese Schwarzmarktgeschäfte auch negative Folgen: Es litten vor allem die besetzten Gebiete, deren Wirtschaft ausgebeutet wurde. Auf lange Sicht waren sie aber auch für das Deutsche Reich sehr kostspielig und hatten starke destabilisierende Wirkung auf die deutsche Wirtschaft und Währung. Im Frühjahr 1943 deutete sich daraufhin auch das Ende des “Systems Sommer” an. Hitler und Göring kündigten das Ende für alle Operationen des Vierjahresplans an - vor allem für die Schwarzmarktgeschäfte. Zum 1. Oktober 1943 wurden sie schließlich eingestellt und damit endeten auch die Vorteile für alle Beteiligten, insbesondere die Schutzfunktion für die jüdischen Arbeiter. Gleichzeitig gab es noch eine andere Kurskorrektur, und zwar in der deutschen Politik gegenüber den Juden. Bisher hatten die Kräfte dominiert, die in den Juden vor allem auch kriegswichtige Arbeitskräfte sahen, die es im Interesse des Kriegserfolgs auszubeuten galt (und damit zunächst auch zu verschonen). Jetzt setzen sich die Kräfte durch, die als Hauptziel die systematische Vernichtung der Juden sahen: Auch die Niederlande sollten nun schnellstmöglich „judenfrei“ gemacht werden.

 

Sommers Liste

Man kann über Michael Sommer sicherlich manches Negative sagen: verkrachte Existenz, Schwarzmarktschieber, korrupt, Ausbeuter, vielleicht kein Nazi, aber zumindest ein Opportunist, der die Notlage anderer hemmungslos ausnutzte, um sich zu bereichern. In all dem erinnert er stark an Oskar Schindler. Aber wie Oskar Schindler besaß er offensichtlich doch ein Gewissen und fühlte sich „seinen Juden“ gegenüber verpflichtet. Als er Mitte des Jahres 1943 den Zusammenbruch seines Systems kommen sah, entschloss er sich nämlich zu einer bemerkenswerten Aktion.

Am 16.06.1943 wandte er sich in einem Brief an Hans Rauter, „Höherer SS- und Polizeiführer der Niederlande“ und damit der zweithöchste NS-Funktionär vor Ort. In seinem Schreiben verwies Sommer auf seinen Auftrag, ab 1941 für den Vierjahresplan mit allen Mitteln kriegswichtige Rohstoffe und Gerätschaften einzukaufen. Dies sei nur mit Hilfe jüdischer Spezialisten möglich gewesen, bei denen es sich um „die wertvollsten Juden in Holland“ handele. Zur Bestätigung führte er seine Erfolge auf: den Einkauf von ca. 7000 Tonnen hochwertiger Metalle im Wert von 10 Millionen Gulden, darüber hinaus von Tausenden Tonnen Eisen und Stahl für den Festungsbau, und vieles andere mehr.

Aus diesem Grund sei er (in Übereinstimmung mit anderen hohen Funktionären) der Überzeugung, dass „für die oben erwähnten Juden etwas getan werden müsse“. Konkret brachte er anschließend den Vorschlag ins Spiel, ihnen die Ausreise (nach Portugal) zu erlauben. „Um ihre Ausreise zu erleichtern“, könnte das jüdische Personal zudem „pro Familie 5000,- $ zur Verfügung stellen.“ Im Anschluss folgte eine Liste mit Namen – „Sommers Liste“ – auf der insgesamt 29 Personen genannt wurden, darunter Paul Jonas mit seiner ganzen Familie.

Dazu passt folgende Zeitzeugenaussage der Witwe von Dick Peeterse, dem Besitzer einer Firma für Möbel und Zimmereibedarf. Paul Jonas hatte sich an ihren Ehemann gewandt, dem er offensichtlich vertraute, und ihn gebeten, einen hohen Geldbetrag und Wertpapiere zu verstecken. Einige Zeit später kehrte Paul Jonas zurück und ließ sich die Wertsachen wieder aushändigen, „um sich freikaufen zu können.“

 

Das Ende des „Systems Sommer“

Michael Sommers Versuch war sicherlich ehrenhaft. Und er war auch mutig, denn mit einem solchen persönlichen Einsatz für Juden ging Sommer durchaus ein Risiko ein: "Deutschblütige Personen, die in der Öffentlichkeit freundschaftliche Beziehungen zu Juden zeigen, sind aus erzieherischen Gründen vorübergehend in Schutzhaft zu nehmen (Verordnung vom 24.10.1941)."

Allerdings war Hans Rauter der höchste Vertreter der SS und damit der NS-Organisation, die sich als ideologische Speerspitze des Regimes verstand und deren zentrale Aufgabe eben gerade in der Durchführung der „Endlösung der Judenfrage“ bestand (= der Deportation und Ermordung aller Juden). Und Hans Rauter war zudem besonders kategorisch in seinen ideologischen Ansichten und rücksichtslos in der Wahl seiner Mittel. Ihn durch Verweis auf bereits geleistete Dienste von Juden beeinflussen zu können, an ein Gefühl wie Loyalität gegenüber Juden zu appellieren, oder ihn durch eine vergleichsweise geringe Summe zu bestechen – das war naiv. Und damit war dieser Versuch sicherlich von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Das Ende kam schnell, trotz Sommers Einsatz – oder vielleicht sogar gerade deswegen. Am 27.07.1943 wurden alle „Sommer-Juden“ verhaftet und zunächst in Amsterdamer Gefängnisse eingewiesen - auf Anweisung direkt aus dem Reichssicherheitshauptamt, der höchsten SS-Institution für die Durchführung der „Endlösung“. Am 31.08.1943 wurde endgültig entschieden, dass ihre Ausreise vollkommen ausgeschlossen sei , und am 12.10.1943 entschied Adolf Eichmann persönlich, sie alle in das Durchgangslager Westerbork zu schicken – zur weiteren Deportation nach Osten.

Auch Michael Sommer geriet unter starken Druck – als „Judenfreund“ und wegen Vorwürfen von Unterschlagung (die vielleicht nicht unberechtigt waren), er wurde mehrfach inhaftiert, musste die Niederlande bald verlassen und konnte auch später nie mehr an alte „Erfolge“ anknüpfen. 1970 starb er schließlich in ärmlichen Verhältnissen.

Die Deportation
Westerbork: Blick auf die Lagerbaracken und das Bahngleis, ca. 1944.

Westerbork

Die Nazis holten Edith Jonas und ihre Familie also doch noch ein. Wie bereits erwähnt, wurde dann auch die ganze Familie verhaftet und ihr Betrieb, so wie alle jüdischen Betriebe, verstaatlicht. Sie wurden in das Durchgangslager Westerbork gebracht. Dieses war ursprünglich 1939 für die vielen jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland, die vor allem nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zahlreich in die Niederlande flohen, als Flüchtlingslager erbaut worden. Als es dann aber zur Besetzung der Niederlande kam, wurde es zu einem Durchgangslager umfunktioniert, in dem Juden aus dem ganzen Land gesammelt wurden, um von dort aus „in den Osten“, vor allem nach Auschwitz oder Sobibor, deportiert zu werden. Aus diesem Grund war es auch als „Tor zur Hölle“ bekannt. Es wirkt geradezu zynisch, wie genau aus einem Ort, welcher ursprünglich eine Vorstufe in ein freies Leben war, eine Vorstufe für die Konzentrations- und Vernichtungslager wurde.

Während seiner Zeit in Westerbork arbeitete Ludwig Cahn dort im Metallbereich. Heute können wir nicht mehr mit Gewissheit sagen, inwiefern die Familie Jonas/ Cahn wusste oder befürchtete, was ihnen zu diesem Zeitpunkt bevorstand. Lebten sie jeden Tag mit der Angst, deportiert zu werden? Wussten sie, was in diesem Fall auf sie zukommen würde? War ihnen klar, was in Auschwitz passierte? Hatten sie Hoffnungen zu entkommen? In dem Durchgangslager Westerbork wurde damals alles darangesetzt, den Häftlingen falsche Hoffnungen zu machen: Man vermittelte den Eindruck, sie würden nur in Arbeitslager geschickt, in denen man zwar hart arbeiten müsste, aber ein Leben möglich war. Dieses System der Täuschung dort scheint aus heutiger Perspektive besonders grausam. Dennoch hatten die Menschen auch Angst vor der Deportation ins Ungewisse. Bis zum Tag selber war außerdem nie klar, wer gehen musste. Was für ein Gefühl diese Tatsache in den Häftlingen ausgelöst haben muss, ist für uns heute überhaupt nicht vorstellbar. Vielleicht war Ludwig Cahns Arbeit dort auch der Versuch, sich unentbehrlich zu machen, und so von der Deportation verschont zu bleiben. Jedenfalls war die Zeit der Familie Jonas in Westerbork wahrscheinlich vor allem geprägt durch die beschriebene Situation des Ausharrens zwischen Angst und vielleicht auch doch Funken von Hoffnung. Es ist vorstellbar, dass eine unerträgliche innere Anspannung die Folge dessen war.

Hinzu kamen natürlich noch die Lebensverhältnisse im Lager: Enge, mangelnde Hygiene, zu wenig zu Essen. Bob Cahen, ein ehemaliger Häftling aus Westerbork, berichtet von den herrschenden Umständen wie folgt:

Die Baracken waren voll, übervoll. Es gab höchstens Platz für 10 000 Menschen, und doch kamen immer mehr dazu. Die Schmiede arbeitete unter Hochdruck und produzierte Betten am laufenden Band. Strohsäcke und Matratzen gab es schon lange nicht mehr. Die Menschen mussten auf den eisernen Betten liegen. Die Baracken wurden immer voller. Die Menschen saßen oder lagen weinend herum. Sie schliefen auf oder unter Schubkarren im Freien. Es gab nicht genug zu essen. Warmes Essen bekam man manchmal nur alle drei Tage und dann noch zu wenig. Die Säuglinge bekamen keine Milch. Was anderes gab es nicht. Die Pumpen für die Wasserversorgung arbeiteten unter Hochdruck und waren nicht mehr in der Lage, das Wasser ausreichend zu säubern, so dass die Menschen verschmutztes Wasser trinken mussten – mit den entsprechenden Folgen. Baracken, in die unter normalen Umständen 400 Personen passten, wurden nun voll gepfropft mit bis zu 1 000 Menschen, die überall auf dem Boden herumlagen. Die Toiletten reichten nicht aus, waren verstopft. Männer und Frauen lagen in denselben Räumen, es war ein Chaos. […]. Jeden Tag schieden zwei bis drei Menschen aus ihrem Leiden“.

Niederländische Juden steigen in den Zug, mit dem sie nach Auschwitz deportiert werden.

Transport und Ankunft in Auschwitz

Schließlich wurden Edith und Ludwig selbst nach Auschwitz transportiert; damit teilte das Paar das Schicksal von fast 107.000 Juden, die genau den gleichen Weg fahren mussten. Wann genau dies geschah wissen wir nicht. Ludwig sagte im Interview, es sei im Herbst 1942 gewesen. Dies kann aber nicht sein, da sie zu diesem Zeitpunkt noch in Amsterdam waren, aller Wahrscheinlichkeit nach war es im Jahr 1944. Von Westerbork nach Auschwitz sind es ca. 1200km; diese fuhren sie in einer Woche in einem Viehwaggon mit 80 Menschen. Ihr Gepäck wurde ihnen von den, die Häftlinge begleitenden, SS-Leuten abgenommen, aufgebrochen und geplündert.

Die Bedingungen während dieser Fahrt scheinen unglaublich entwürdigend: Volle Waggons, bis auf die vergitterten Fenster verschlossen und ein Eimer in der Ecke, um die Notdurft zu erledigen. Die Ankunft in Auschwitz beschreibt Ludwig Cahn selbst wie folgt:

 

“Bei der Ankunft in Auschwitz fielen ihm die Gefangenen auf, die seiner Ansicht nach alle einen Schlafanzug trugen. Die Ankommenden mussten in einer Reihe vorangehen und an der Rampe hat Mengele selektiert, in dem er die Menschen nach links und rechts schickte. Wer nicht erwachsen oder alt war wurde nach links geschickt. Zur Beruhigung wurde ihnen erzählt, die Kinder kämen in eine Schule und an Wochenenden könne man diese besuchen. Die nach links selektierten wurden mit LKWs abtransportiert, die nach rechts selektierten – ca. 500 Personen – marschierten zum Außenlager Birkenau. Dort angekommen traf er einen jüdischen Jungen namens Sam, einen Kapo, [also ein KZ-Häftling, welcher als Teil der Lagerleitung andere Häftlinge beaufsichtigen musste] der bei ihnen in der holländischen Firma gearbeitet hatte. Befragt, wohin die Menschen gekommen sind, die mit den LKWs abtransportiert wurden, deutete dieser auf die qualmenden Schornsteine und gab an, diese seien zuerst vergast und dann verbrannt worden. Er konnte dies nicht glauben und nahm an, der Junge sei verrückt geworden. Danach wurden Männer und Frauen getrennt und bald darauf wurden ihnen alle Wertsachen abgenommen und überall wo Menschen Haare wachsen, diese rasiert. Es folgte die “Jordantaufe”, indem die Köpfe in Petroleum getaucht wurden. Eine schmerzhafte Prozedur. Anschließend bekamen alle Hose, Jacke, Mütze und ein paar Schuhe. Die Frauen erhielten lediglich ein Kleid und ein paar Schuhe. Am nächsten Tag wurden sie auf Baracken in Auschwitz verteilt und nach dem Appell in Gruppen für den Straßenbau eingeteilt.”

Edith und Ludwig Cahn hatten also zunächst „Glück“, sie wurden von den Nazis als „arbeitsfähig“ eingestuft, was bedeutet, dass sie, im Gegensatz zu Kindern und Älteren oder Kranken, nicht direkt ermordet wurden, sondern körperliche Arbeit leisten mussten. Mit der Abnahme all ihrer Habseligkeiten und Wertsachen, ja sogar ihrer Kleidung und Haare, wurde ihnen der letzte Rest von Menschlichkeit und Individualität genommen. Die Rasur war zusätzlich sicherlich sehr mit Scham behaftet, vor allem für Edith. Und sie erhielt wohl auch das schreckliche Kennzeichen aller Auschwitzhäftlinge, die auf dem linken Unterarm eintätowierte Häftlingsnummer, die später bei ihrer Einreise in die USA als unveränderliches Kennzeichen genannt wurde.

 

Zeit im Konzentrationslager

Diese Trennung Ediths und Ludwigs sollte für eine Weile andauern. Laut Johnny Cahn, dem Sohn der beiden, wurde seine Mutter während ihrer Zeit in Auschwitz im berüchtigten „Block 10“ Experimenten mit radioaktiven Strahlungen unterzogen. Es sollte (anscheinend) untersucht werden, ob direkte Bestrahlung dafür genutzt werden könne, die Wunden von deutschen Soldaten zu heilen und wenn ja, wieviel Strahlung nötig oder erträglich wäre, um möglichst schnell wieder an die Front zurückkehren zu können. Edith mussten folglich also erst Wunden zugefügt werden, um diese dann durch Bestrahlung zu „behandeln“. Zu all dem, was Edith bereits erleiden musste, kam nun also auch noch ihre Rolle als menschliches Versuchskaninchen. Eine unvorstellbare Demütigung und Entmenschlichung ihrer Existenz für pseudowissenschaftliche Zwecke. Auch wenn sie zunächst überlebte, war ihr Schicksal selbst für die Verhältnisse in Auschwitz ein besonders schreckliches.

Während ihr Ehemann in Auschwitz blieb, wurde Edith Cahn nach Pilsen deportiert. Wann genau dies geschah, also auch wie lange sie in Auschwitz blieb, wissen wir nicht. Jedenfalls gab es in Pilsen in der heutigen Tschechischen Republik das sogenannte Arbeitserziehungslager Pilsen-Karlow, in welchem vom 01. November 1943 bis Ende April 1945 nur weibliche Häftlinge zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden.

 

Leo Cahn

Das Schicksal der Familie

Edith sowie ihr Mann verloren viele ihrer Angehörigen an Auschwitz: zunächst Ediths Eltern, Paul Friedrich und Rosa Jonas, ermordet am 11. Oktober 1944. Johnny Cahn, ihr Sohn, hat bestätigt, dass seine Großeltern beide in Ausschwitz gestorben sind:

Paul Jonas did indeed die in Auschwitz along with his wife, my Grandmother, Rosa Isaac Jonas. They never returned after the war (…)”

Paul Jonas ist tatsächlich in Ausschwitz gestorben, zusammen mit seiner Frau, meine Großmutter, Rosa Isaac Jonas. Nach dem Krieg kamen sie nie zurück”. (Übersetzung durch die Verfasserinnen)

Dies gilt auch für Ludwigs Vater Leo Cahn und seine Stiefmutter Sibille (geb. Blumenfeld); sie wurden beide zunächst am 27.07.1942 nach Theresienstadt deportiert, am 28.10.1944 dann nach Auschwitz und dort ermordet. Leo Cahn hatte wohl wie viele andere die Gefahr unterschätzt, war er doch der Meinung, dass sich die Nazis nicht lange halten würden und dass „uns Frontsoldaten nichts passieren“ könnte. Vermutlich dachte er deshalb nicht an Flucht, bis diese nicht mehr möglich war.

Auch Ludwigs Schwester Henny wurde ermordet, und zwar wohl schon zu einem frühen Zeitpunkt. Denn während der Vater noch in Köln lebte (also vor Juli 1942) bekam er eine Karte mit der Todesnachricht und dem Angebot, für 175 Reichsmark die Urne mit der Asche seiner Tochter zu erhalten. Ludwigs Stiefschwester Sophie ging mit ihrem nicht-jüdischen Mann nach Belgien und ist seitdem verschollen. Ermordet wurden schließlich auch die Eltern von Ediths Schwägerin Martha, Julius und Veronika Simons, sowie Hermann Simons, einer ihrer Brüder; ein zweiter Bruder, Kurt, überlebte das KZ und starb kurz nach Kriegsende.

Paul und Rosa Jonas, Leo und Sibille Cahn, Henny Cahn, Julius, Veronika und Hermann Simons sind alles Namen, die nicht vergessen werden dürfen.

Was eine große Familie hätte sein sollen, ist jetzt eine kleine Familie. Alte Familiengeschichten, die glückliche Erinnerungen hätten sein sollen, sind jetzt Geschichten der Lager, die auf ein altes Videoband kopiert wurden.”

So schreibt Johnny Cahn in einer E-Mail vom 17.02.2021.

Erich und Martha Jonas, Verlobungsfoto, 1930er Jahre (Bildquelle: https://westerborkportretten.nl/bevrijdingsportretten/erich-martha-jonas)

Ernst Simons, der dritte Bruder von Martha, überlebte das KZ Bergen-Belsen und kehrte nach Köln zurück. Dort wurde er später zu einer prägenden Gestalt als Schulleiter und Schulreformer, in der Synagogengemeinde und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Zunächst aber arbeitete er als Religionslehrer, übernahm den jüdischen Religionsunterricht unter anderem an der KLS, und auch seine Töchter besuchten diese Schule.

Als Ludwig Cahn nach Köln kam, um unter anderem dem NS-Dokumentationszentrum sein Interview zu geben, besuchte er auch seinen Freund Erich Simons.

 

Befreiung und Rückkehr in die Niederlande

Unter diesen Umständen scheint es fast wie ein Wunder, dass sowohl Edith als auch ihr Mann Auschwitz und Pilsen überlebten. Er berichtet, dass sie in Pilsen von den Russen befreit worden sei. Dann hätten ehemalige französische Kriegsgefangene sie nach Frankreich mitgenommen, ihr eine Uniform und Geld gegeben, womit sie sich in die Niederlande durchschlagen konnte. Ludwig war es nach der Evakuierung von Auschwitz im Januar 1945 möglich gewesen zu fliehen, und nach einem Aufenthalt in einem Lazarett durfte er in die befreiten Niederlande zurückkehren:

Eines Tages wurde das ganze Lager evakuiert und er kam zuerst nach Halle/Saale von dort nach Buchenwald und von dort nach Groß-Rosen, […].  Bei einem Angriff der Russen ist er zusammen mit sieben oder acht Gefangenen zu den Russen geflüchtet. Diesen musste erst erklärt werden, dass sie keine Soldaten, sondern KZ-Häftlinge sind. Hier hat er zwei komplette Brote aufgegessen. Zuvor hat er immer davon geträumt, eines Tages ein ganzes Brot mit Butter und einem Pfund Zucker darauf zu essen. Seine Füße waren verletzt, er hatte keine Schuhe. Zusammen mit den Russen ist er bis Torgau gekommen und von dort zu den Amerikanern übergelaufen. Sein anfänglich roter Pullover war jetzt weiß wegen der vielen Läuse. Im Rote-Kreuz-Zelt konnte er baden, wurde rasiert und gepflegt. Der Pullover wurde verbrannt. Im Lazarett besuchten ihn Soldaten unterschiedlicher Nationalitäten und übergaben ihm Geschenke. Er aß und konnte nichts bei sich behalten. Ein englischer Soldat stellte ihm die Frage: Willst du leben? Dann höre auf zu essen. Er begann dann nur etwas Tee zu trinken und erst später nach und nach etwas zu essen. […] Er bekam dann eine amerikanische Uniform und war eine Art Dolmetscher. Die Amerikaner gingen nach England, er durfte ins befreite Holland zurück und bekam sogar einen Jeep dafür gestellt. Unterwegs hat er in Militärcamps übernachtet und wurde dort verpflegt.

 

Noch unglaublicher erscheint allerdings, dass Edith und Ludwig mit einem Abstand von nur zwei Tagen in ihrer Wohnung in Duivendrecht ankamen, wo sie sich wieder trafen:

Nachts gegen drei Uhr traf er an seinem Haus ein. Sein ehemaliger Nachbar öffnete die Tür und erzählte ihm, dass seine Frau vorgestern hier eingetroffen wäre.

Wie groß mag wohl die Freude gewesen sein, als sie merkten, dass der jeweils andere noch lebte.

Natürlich hatte die Familie im Zuge der Deportation alles verloren, was sich noch in ihrem Besitz befunden hatte. Als wir uns fragten, woher dann die Schulfotos von Edith Jonas stammen würden, erzählte uns Johnny Cahn eine weitere berührende Geschichte: „Die wenigen Fotos, die wir haben, wurden in einer Blechdose versteckt, die der Vermieter der Wohnung, in der meine Eltern lebten, in der Nähe von Amsterdam begraben hatte, bevor sie verhaftet und transportiert wurden.“ Offensichtlich fanden sie diese Blechdose wieder und damit die wenigen Erinnerungen, die ihnen geblieben waren.

Leben in den USA

Ankunft

Im Jahr 1946 bekamen Edith und Ludwig einen Sohn, Johnny Cahn, zu dem wir heute Kontakt haben. Ludwig arbeitete zu dieser Zeit bei der Firma Oxyde, welche früher Verbindungen zu Michael Sommer gehabt und nach dem Krieg wieder den Betrieb aufgenommen hatte. Am 29. Mai 1947 betrat die junge Familie im Hafen von Rotterdam ein Schiff in Richtung der USA, wo sie am 11. Juli ankamen. Das für die Immigration notwendige „Affidavit of Support“, bei dem Familienangehörige finanziell bürgen, bekamen sie von Verwandten von Edith, welche schon in New York lebten. Bei diesen wohnten sie auch zuerst, nämlich in den Washington Heights, einer Nachbarschaft, wo viele deutsche Juden zu dieser Zeit Zuflucht fanden. Die Familie baute sich dann aber ein neues, eigenständiges Leben in den USA auf: Zunächst konnte Ludwig, wie er rückblickend selbst berichtet, in der Metzgerei eines alten Freundes, den er aus Köln kannte, arbeiten, wo er später Geschäftspartner wurde. So finanzierten sie die Wohnung in Queens, New York, die sie dann bewohnten. Nach anderen Quellen blieb Ludwig jedoch im Metallgeschäft.

 

Ediths Schicksal

Nun hätte Edith Cahn ihr „Happy End“ beinahe bekommen, aber auch nur beinahe. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits so viel er- und überlebt; erst die Flucht vor den Nazis von Köln in die Niederlande, dann ihre Verhaftung und den Aufenthalt in Westerbork, die Deportation nach Auschwitz, dann nach Pilsen, ihre Befreiung und die Rückkehr nach Duivendrecht und dann schließlich die Ankunft in den USA. Nun war sie, gemeinsam mit ihrem Mann und Sohn, sicher vor den Nazis. Oder etwa nicht? Tragischerweise holte Auschwitz sie doch noch ein. Bei Edith wurde Leukämie diagnostiziert; gut möglich, dass es sich um eine Spätfolge der Experimente handelte, die man in Auschwitz an ihr durchgeführt hatte.

Edith Cahn, geb. Jonas, verstarb am 13.09.1951 in New York mit nur 38 Jahren. Ihr Sohn war damals fünf Jahre alt. Wie er selbst schreibt, war es ihm leider nie möglich, eine erwachsene Unterhaltung mit seiner Mutter zu führen; er ist dennoch stolz, ihr Nachkomme zu sein. Zu dieser Biographie über sie führt er aus:

 

I admire the project you have undertaken and the importance of the research and history that you are conducting. It is my hope that the world is on a trajectory to a better future, but that must be based on a clear understanding of our past. You are certainly contributing to that good outcome.“

Ich bewundere das Projekt, das Sie/ihr in Angriff genommen haben/habt, und die Bedeutung der Forschung und der Geschichte, die Sie/ihr betreiben/betreibt. Ich hoffe, dass sich die Welt auf dem Weg in eine bessere Zukunft befindet, aber das muss auf einem klaren Verständnis unserer Vergangenheit beruhen. Sie/ihr tragen/tragt sicherlich zu diesem guten Ergebnis bei.“ (Übersetzung durch die Verfasserinnen)

 

Danksagung

Zunächst gilt unser Dank Ben Goossens und Jan Craemer aus dem Projektkurs Geschichte 2020, welche vor uns Recherchen zu Edith Jonas betrieben und somit die Grundlage für unsere Arbeit geschaffen haben. Durch sie erfuhren wir bereits Vieles über Edith Jonas, was über die Erwähnung in Helene Rahms‘ Buch hinausgeht.

An dieser Stelle möchten wir aber vor allem Herrn Cahn für seine Offenheit, Mithilfe und seine berührenden Worte danken. Ohne ihn wäre diese Biographie nicht so zu Stande gekommen, wie sie es nun ist. Seine E-Mails und Informationen haben die bloßen Namen und Daten, die wir hatten, mit Leben gefüllt; von ihm haben wir auch die Fotos der Familie erhalten. Sie haben uns auch immer wieder vor Augen geführt, weswegen wir uns mit dem Schicksal seiner Mutter beschäftigen, beschäftigen müssen. Besonders beeindruckt waren wir von seiner Ehrlichkeit und Herzlichkeit uns, als Deutschen, gegenüber.

Quellen:

Daru, Myriam:  Sommer‘s List. Between opportunism and righteousness in WWII Amsterdam, academia.edu (4.10.2020): https://www.academia.edu/­44231121/­This_version_replaces_the_previously_uploaded­_version_Sommers_List_Between_opportunism_and_­righteousness_in_WW_II_Amsterdam (zuletzt aufgerufen am 19.12.21).

Happe, Katja / Lambauer, Barbara / Maier-Wolthausen, Clemens (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 12, München: 2015, S. 310ff., 403ff.

Heinrich, Arthur: Köln. In: Peiffer, Lorenz / Heinrich, Arthur (Hrsg.): Juden im Sport in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Göttingen: 2019, S. 459 – 556.

Interview mit Ludwig Cahn im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln vom 21.07.1995 (im Archiv NS-Dokumentationszentrum).

Kaumkötter, Jürgen: Der Tod hat nicht das letzte Wort. Kunst in der Katastrophe 1933-1945, Berlin: 2015.

Rahms, Helene: Auf dünnem Eis. Meine Kindheit in den zwanziger Jahren, Bern/München/Wien: 1992.

 

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