Charlotte Gabel (geb. Weissberg)

von Paul Weitenhagen

Charlotte Gabel
Charlotte Gabel

Als wir im Laufe des Projektkurses ehemalige Schülerinnen des Königin-Luise-Gymnasiums aussuchen durften, entschied ich mich für Charlotte Weissberg. Ich hielt dies für ein anspruchsvolles Recherchethema und wollte mich - getrieben von Interesse und dem Verlangen danach, an meine Grenzen zu stoßen - mit ihr beschäftigen. In der Anfangszeit wurde mein Eindruck vor allem dadurch verstärkt, dass viele Schüler von unserem Projektleiter Herrn Erkelenz Auszüge mit bekannten Informationen über die ihnen zugeteilten Schülerinnen erhielten. Ich ging jedoch leer aus.
Im Laufe meiner Recherche, welche sich durch die Weiten des Internets zog und am Ende durch Sachbücher ergänzt wurde, wurde ich anfangs von Recherchefehlern in meiner Arbeit behindert, welche sich später in einen umfassenden Lernprozess einbetteten.
Lange suchte ich nach einem Mädchen, welches im Laufe der Weimarer Republik oder später unter der Herrschaft der Nationalsozialisten in Quellen als Charlotte Weissberg auftauchte und in irgendeiner Hinsicht mit unserer Schule in Verbindung zu bringen war. Über den Namen Weissberg stolperte ich selten, jedoch zeichnete sich nach einiger Recherche ein Bild ab. Jedes Mal, wenn ich auch nur ansatzweise Informationen fand, welche hätten passen können, traf ich auf den Namen Lotte Gabel. Als ich also nach einiger Zeit meine Suche von Charlotte Weissberg auf Lotte Gabel umstellte, zeichnete sich langsam ab, dass es sich aufgrund des Zeitraumes und des Geburtsortes um dieselbe Person handeln musste, welche nach ihrer Heirat den Namen Gabel angenommen hatte.
Nachdem ich nun an der Oberfläche gekratzt hatte, steigerte ich mich immer weiter in die Recherche hinein und wurde in Quellen fündig, von welchen ich das keineswegs erwartet hatte. Mehr und mehr zeichnete sich ein Leben ab, welches aufgrund seiner teilweise fehlenden Transparenz, aber auch seines selbst für damalige Verhältnisse untypischen Laufes etwas Besonderes darstellte.
So wurde Lotte Gabel Opfer eines Geschehens, das Vorstufe und Auslöser der so genannten "Reichspogromnacht" von 1938 war, aber trotz seiner Dimensionen viel weniger bekannt ist als diese. Lotte Gabel sollte nämlich im Zuge der "Polenaktion" zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn als eine von 15.000 Juden schon im Jahr 1938 nach Polen ausgebürgert werden.
Aber um den Leser nicht direkt ins kalte Wasser zu werfen, fange ich besser vom Anfang an.

 

Familiäres Umfeld und Schullaufbahn

Charlotte Weissberg wurde am 17. Januar 1907 in Köln (Rheinprovinz) in Deutschland geboren und war preußische Staatsbürgerin. Sie war jüdisch getauft. Über ihre Eltern oder Großeltern ist nichts bekannt. Sie hatte jedoch einen Bruder mit dem Namen Benno Weissberg, welcher auch noch später in das Schicksal ihrer Familie eingreifen sollte. So lässt sich keine Aussage darüber treffen, ob dem Mädchen im Laufe ihres frühen Lebens eine gesellschaftlich privilegierte Stellung zukam, weil ihr Vater zum Beispiel Frontkämpfer war. Vermuten lässt sich, dass die Familie finanziell nicht schlecht dastand, da sie ihrer Tochter eine derartig gute Bildung ermöglichen konnte. Gleiches gilt für den Bruder, welcher später seinen Doktor machen sollte. Ebenso lässt sich nicht sagen, ob ihre Eltern beide jüdischen Glaubens waren. Da sie jedoch nicht nur selbst jüdischen Glaubens war, sondern später einen jüdischen Religionslehrer heiraten sollte, darf man vermuten, dass sie eine ausgeprägte jüdische Identität hatte und das Judentum wohl eine ganz bewusste Rolle in ihrem täglichen Leben spielte.

Über ihre schulische Karriere wissen wir nur, dass sie an der KLS Abitur gemacht hat. Ob sie, wie wohl die meisten anderen Schülerinnen, direkt nach der Grundschule auf die KLS kam, also im Jahr 1913 in die Sexta (die fünfte Klasse) eintrat, oder ob sie erst später, zum Beispiel mit dem Beginn der Obersekunda (11. Klasse) auf die KLS wechselte, ist unbekannt. Ihre Abiturprüfungen legte sie Ostern des Jahres 1927 ab. Für die damalige Zeit, gerade für ein Mädchen, war schon dies etwas Besonderes. Als den Beruf, welchen sie nach dem Abitur ergreifen wolle, gab Charlotte damals Philologin an. Auf welches Teilgebiet sie sich spezialisieren wollte, ist nicht bekannt. Was aus ihren Berufswünschen geworden ist, ist uns unbekannt. Vielleicht kam dem Vorhaben das Familienleben in die Quere, vielleicht entschied sie sich für etwas Anderes, oder vielleicht fing sie das Studium sogar an (siehe den Nachtrag unten).

Nach dem Schulabschluss verliert sich für einige Jahre die Spur von Charlotte Weissberg, bis sie durch ihre Heirat und ihr familiäres Umfeld wiedergefunden werden kann, diesmal jedoch unter dem Namen Lotte Gabel. Es gibt Hinweise darauf, dass sie sich zwischenzeitlich in Duisburg aufgehalten hat; dauerhaft ansässig wurde sie jedoch in Baden-Württemberg.

Siehe auch Nachtrag 2.

aus: Königin-Luise-Schule in Köln. Bericht über das Schuljahr 1926/1927, Köln 1927, S. 20
aus: Königin-Luise-Schule in Köln. Bericht über das Schuljahr 1926/1927, Köln 1927, S. 20
Das Leben in Malsch
Lotte und Leo Gabel
Lotte und Leo Gabel

Einige Jahre nach ihrem Abitur, wohl um 1932, hat Charlotte Weissberg geheiratet. Ihr Mann trug den Namen Leo Gabel. Er war am 8. Oktober 1901 als Sohn eines orthodoxen Juden und einer unbekannten Mutter in Frankfurt am Main geboren worden. Seine Eltern waren nach dem Ersten Weltkrieg von Polen nach Deutschland ausgewandert. Wann und auf welchem Wege Lotte und Leo sich kennengelernt haben, ist nicht bekannt.

Malsch ist eine kleine Gemeinde im Landkreis Karlsruhe in Baden-Württemberg. Leo war seit 1932 als Kantor in der Malscher Synagoge und als Religionslehrer tätig. Außerdem leitete er den jüdischen Jugendbund zur religiösen Weiterbildung. Zusammen mit seiner Frau Charlotte lebte er in Malsch und bekam mit ihr 1935 einen Sohn namens Josua, welcher am 10. Februar 1935 geboren wurde. Die Familie wohnte zunächst in einem Haus in der Richard-Wagner-Straße 13. Da es sich bei diesem jedoch nicht um ihr Eigentum handelte, sondern sie bei einem Freund untergekommen waren, mussten sie 1938 umziehen, als dieser nach seiner Heirat das Haus selbst bewohnen wollte. Später wohnte die Familie noch kurzzeitig im Haus der Familie Kistner in der Waldprechtstraße 5. Beide Residenzen befanden sich in Malsch. Die ansässige Bevölkerung ließ sich größtenteils nicht auf die Propaganda der Nationalsozialisten ein. Als Beispiel lässt sich sagen, dass der Feuerwehrkommandant Maisch sich öffentlich gegen die Aktionen der SA und SS stellte, als diese am 10. Novemeber 1938 die Malscher Synagoge anzündeten und im späteren Verlauf des Tages auch Tora-Rollen und weitere sakrale Gegenstände zerstörten.

Das Schicksal der Familie und somit auch das von Charlotte Gabel entschied sich jedoch schon im früheren Verlauf des Jahres 1938.

Siehe auch Nachtrag 2.

Polenaktion und Tod im Warschauer Ghetto

Nach dem Ersten Weltkrieg war eine große Zahl polnischer und russischer, meist orthodoxer Juden nach Deutschland eingewandert, vor allem um den Pogromen und Verfolgungsmaßnahmen im Osten zu entgehen; auch in Köln bildeten diese "ostjüdischen" Immigranten schließlich etwa ein Drittel der jüdischen Gesamtbevölkerung. Auch Leo Gabels Eltern dürften dazu gehört haben. Viele dieser Einwanderer wollten sich durchaus integrieren, unterließen oder versäumten es aber, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen; sie blieben demnach russische oder vor allem polnische Staatsbürger.

Am 31. März 1938 verabschiedete die polnische Regierung ein Gesetz, welches besagte, dass die Pässe im Ausland lebender Polen für ungültig erklärt würden, wenn sie nicht bis zum 31. Oktober mit einem Kontrollvermerk versehen würden. Falls sich jedoch ein polnischer Bürger mehr als 5 Jahre im Ausland aufgehalten habe, drohe ihm die Verweigerung dieses Vermerks. So sollte die Rückkehr von im Ausland lebenden Polen verhindert werden. Als das polnische Außenministerium sich auf Anfrage des deutschen Auswärtigen Amtes nicht dazu bewegen lassen wollte, in Deutschland ansässige Polen trotzdem einreisen zu lassen, leitete die deutsche Regierung eine Sonderaktion in die Wege. Die Gemeinden, und so auch die Malscher Gemeinde, mussten überprüfen, welche Juden im Besitz eines polnischen Reisepasses waren und die Informationen mussten an die Regierung weitergeleitet werden.

Leo und Charlotte waren die einzigen Malscher Juden im Besitz eines polnischen Passes. So wurden die Malscher Behörden am 26. Oktober per Schnellbrief informiert, dass das Ehepaar bis zum 29. Oktober an die polnische Grenze überstellt werden sollte. Im Folgenden wurde Leo Gabel vom Bezirksamt mitgeteilt, dass seine Aufenthaltserlaubnis zurückgenommen worden sei und für ihn und seine Frau ein Aufenthaltsverbot im gesamten Reichsgebiet vorliege, welches sich auch auf ihren Sohn Josua beziehe. Innerhalb von zwei Tagen musste sich die Familie nun von ihrem Heim verabschieden und noch schnell alles Liebe packen. Gar nicht zu sprechen von der mentalen Anspannung, welcher man als Elternteil ausgesetzt ist, wenn man seinem Kind erklären muss, wohin man gehen muss und warum.

Die Familie nahm jedoch nicht erst am Tag des 29. Oktober den Zug an die polnische Grenze, sondern wurde bereits am Morgen des 28. Oktober von dem Polizeiwachtmeister Kastner verhaftet und an den Bahnhof gebracht. Dieser war vom Bürgermeister aufgefordert worden, die Familie um 10.49 Uhr in Karlsruhe in den Zug nach Rastatt zu setzen. Bei ihrer Ausbürgerung sollten sie nicht mehr als Handgepäck und Mundvorrat dabeihaben. Sie mussten also jegliches Hab und Gut außer ein wenig Kleidung zurücklassen. Jedoch stellte sich am Bahnhof heraus, dass die badische Regierung mittlerweile zu der Entscheidung gelangt war, nur über 18 jährige männliche Juden auszuweisen. So stieg nur Leo in den Zug nach Rastatt. Charlotte und der dreijährige Josua kehrten nach Hause zurück. Am 3. November traf beim Malscher Bürgermeister ein Schreiben ein, welches vom Bezirksamt Rastatt stammte und ihn darüber informierte, dass das Bezirksamt entschieden hatte, die abtransportierten Juden die durch den Transport entstandenen Kosten selbst tragen zu lassen. Als Folgereaktion wurde unter der Malscher Gemeinde der Familienhaushalt nach den Besitztümern durchsucht. Neben der Einrichtung wurde ein Vermögen von 5000 Reichsmark gemeldet. Dies deutet darauf hin, dass die Familie, obwohl sie kein eigenes Haus besaß, die Chance hatte, einiges anzusparen und sich demnach einen guten Lebensstandard zu ermöglichen.

Nachdem Polen sich schließlich bereit erklärt hatte, die Angehörigen der Deportierten aufzunehmen, räumte die deutsche Regierung im Gegenzug den Abgeschobenen die vorrübergehende Rückkehr nach Deutschland ein. Diese Chance nutzte Leo Gabel und kehrte vorrübergehend zu seiner Familie nach Malsch zurück. Bevor Charlotte und Leo Gabel am 7. Juli 1939 endgültig nach Polen ausgebürgert wurden, schickten sie ihren Sohn Josua noch zu Charlottes Bruder Dr. Benno Weissberg, welcher mit ihm nach Holland floh. Die Überwindung dazu, sein Kind wegzugeben, zeigt, dass Leo und Lotte bereits vermuteten, welches Schicksal sie erwarten sollte. Trotzdem ist die Situation, in welcher sie sich sahen, als sie ihn weggeben mussten, schwer in ihrer emotionalen Tiefe nachzuvollziehen. Josua war zum damaligen Zeitpunkt vier Jahre alt.

Fraglich bleibt aber, warum auch Charlotte von der Polenaktion betroffen war. Nach Aussage des Schuljahresberichts der KLS von 1927 besaß sie die preußische Staatsbürgerschaft. Demnach hätte sie eigentlich nicht abgeschoben werden dürfen. War sie nur als Angehörige betroffen? Oder wollte sie ihren Mann freiwillig begleiten? Oder gibt es noch eine kompliziertere Erwägung? Denkbar ist, dass auch Charlotte einen polnisch-ostjüdischen Hintergrund hatte und vielleicht auch ihre Familie vor nicht langer Zeit eingewandert war; dafür spräche etwa ihre spürbare jüdische Identität, die unter den längst assimilierten deutschen Juden viel weniger ausgeprägt war. Wenn sie aus Gebieten stammte, die nach dem Ersten Weltkrieg und dem Versailler Vertrag an Polen abgetreten werden mussten, z.B. Westpreußen oder Südpreußen - dann hätte sie ursprünglich die preußische Staatsbürgerschaft gehabt, wäre durch den Versailler Vertrag aber automatisch polnische Staatsbürgerin geworden. Vielleicht liegt hier der Grund, warum das Ehepaar Gabel zunächst nach Posen kam, denn Posen war früher preußisch gewesen, 1919 dann polnisch geworden. Aber dies war alles längst geschehen, bevor Charlotte 1927 Abitur machte, man hätte hier um ihre geänderte Staatsbürgerschaft wissen müssen. Vielleicht lag der Grund auch einfach darin, dass die "Polenaktion" von deutscher Seite sehr schnell und unkoordiniert durchgeführt wurde - und alles andere ist Spekulation.

Sicher ist aber Folgendes: Ende Dezember 1939 - Polen war nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mittlerweile von deutschen Truppen besetzt worden - wurde das Paar von den deutschen Besatzungsbehörden von Posen aus ins Judenghetto Warschau deportiert. Seit 1942 fehlt jegliches Lebenszeichen von ihnen. Man geht davon aus, dass sie beide im Warschauer Ghetto ums Leben gekommen sind.

Siehe auch Nachtrag 2.

Josuas Leben während und nach dem Krieg
Josua Gabel
Josua Gabel

Der zum Zeitpunkt der Abschiebung seiner Eltern vierjährige Josua wurde von seinem Onkel nach Den Haag gebracht. Dort kam er bei der verwandten jüdischen Familie Zadok unter. Als unter der deutschen Besatzung auch die ersten Juden in Den Haag in die Konzentrationslager gebracht wurden, musste Josua untertauchen. Zunächst wohnte er bei christlichen Familien und unter anderem zwei älteren Damen, die außer ihm noch acht andere Kinder bei sich versteckt hielten: „1944 war ich in Ommen und Hellendoom, dann zeitweise in einem Kinderheim in Zonneoord bei Hilversum“. Als sich die Kindergruppe auflöste, wohnte er noch zeitweise bei einem Arbeiter und einem Landarbeiter in Nyverdal und Lemele. Während der Zeit seines Untertauchens legte er seinen jüdischen Namen ab und nahm den Namen Jos Gabeling an.

Nach der Befreiung Hollands lebte er wieder bei der Familie Zodak, bis er zu seinem Onkel zog. Im Jahre 1946 emigrierte er schließlich nach Palästina. Dort war er kurzzeitig in einem Kinderheim untergebracht, bis er zu seiner Tante nach Tel-Aviv zog, wo er bis zum Juli 1949 lebte. Ab Juli des gleichen Jahres lebte er bei seinem Onkel in Jerusalem.

Bei der letzten Kontaktaufnahme zwischen den Heimatfreunden Malsch und Josua Gabel im Jahre 2008 stellte sich heraus, dass Josua als Rabbi tätig war und in Rechasim in Israel lebte. Ob er heutzutage noch lebt, ist unklar.

Für Leo, Charlotte sowie Josua Gabel wurden auf Initiative des Vereins „Heimatfreunde Malsch“ Stolpersteine vor der zweiten Adresse der Gabels in der Waldprechtstraße 5 verlegt. Diese wurden jedoch auf den Wunsch Josuas hin wieder entfernt, ohne dass wir die Gründe dafür kennen.

Siehe auch Nachtrag 2.

Fazit

Mit der Recherche über ehemalige Schülerinnen der KLS soll auch die Rolle der Schule im Dritten Reich geklärt werden. Ist die Schule schon früh gegen jüdische Schülerinnen vorgegangen, um sich die Gunst des Regimes zu verschaffen? Oder hat sie - solange wie möglich- eine Schutzfunktion eingenommen und Schülerinnen erst dann von der Schule verwiesen, als es notwendig war? Andererseits wird versucht, Schicksale aufzuarbeiten, welche die Nationalsozialisten versucht haben auszulöschen. Indem man derer gedenkt, denen das Leben ungerecht zu früh genommen wurde, bleiben sie nicht vollkommen vergessen.

Ich hoffe, ich bin diesem Ziel zumindest ansatzweise näher gekommen. Ich hoffe, mir ist gelungen, ein wenig Licht auf ein besonderes Schicksal zu werfen. Auf eine ehemalige Schülerin unserer Schule, die Opfer einer der ersten großen Maßnahmen und Schritte hin zur Judenvernichtung im Dritten Reich wurde.

Nachtrag

Bisher wussten wir nichts über Charlottes Leben zwischen ihrem Abitur an der KLS und ihrem Leben in Malsch. Es gab nur einen vagen Hinweis darauf, dass sie sich zwischenzeitlich auch in Duisburg aufgehalten haben soll, ohne dass wir das verifizieren konnten. Durch einen Zufallsfund haben sich jetzt aber neue Erkenntnisse ergeben.

Im Schuljahresbericht von 1927, unserer Ausgangsquelle, nannte sie als Berufswunsch "Philologie". Das klingt auf den ersten Blick nach einem Hochschulstudium, doch schlug sie einen anderen Weg ein, und zwar einen, der ihre ausgeprägte religiöse Identität erkennen lässt. Unmittelbar nach dem Abitur besuchte sie das Israelitische Lehrerseminar im jüdisch-orthodoxen Gemeindezentrum an der St.-Apern-Straße, wo sich auch eine Synagoge, die Volksschule Moriah und das Realgymnasium Jawne befanden. Hier legte sie 1928 das Examen als Volksschul- und Religionslehrerin ab. Danach arbeitete sie zunächst als Hauslehrerin.

Charlotte Weissberg 1930
Charlotte Weissberg 1930 mit Kollegen der jüdischen Volksschule Duisburg
(Bildquelle: Stadtarchiv Duisburg)

 

1929 zog sie nach Duisburg, da sie dort eine Anstellung fand und als Schulamtsbewerberin vertretungsweise an der jüdischen Volksschule unterrichtete. 1931 bestand sie hier die Zweite Lehramtsprüfung. Allerdings bekam auch sie die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu spüren, denn noch im selben Jahr wurde ihre Stelle gestrichen - ein Schicksal, das zu dieser Zeit viele noch nicht verbeamtete Lehramtsanwärter traf. Im Februar 1932 konnte sie kurzfristig erneut an der Duisburger Schule angestellt werden, im November desselben Jahres zog sie dann wieder nach Köln. Ob ihre Stelle endgültig gestrichen wurde, ob sich eine andere berufliche Möglichkeit ergab oder ob private Gründe ausschlaggebend waren, wissen wir nicht.

Vielleicht besteht aber auch schon ein Zusammenhang mit ihrer Heirat mit Leo Gabel, der seit 1932 als Kantor und Religionslehrer in Malsch in Baden-Württemberg tätig war. Wo und wann sie sich kennengelernt hatten, wissen wir nicht, die Heirat dürfte aber nicht lange nach ihrer Duisburger Zeit stattgefunden haben. Spätestens 1935 mit der Geburt des gemeinsamen Sohnes Josua finden wir Charlotte dann definitiv in Malsch.

Ez


Quellen:

Gisela Miller-Kipp, Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte, Köln 2010, S. 98;
Hans Georg Kraume, Duisburg. Die alte Stadt, Erfurt 1997, S. 63

Nachtrag II

Im Februar 2021 wurde Judith Mekler, Charlottes Nichte in Israel, auf diesen Text aufmerksam und nahm Kontakt zu uns auf. Seitdem stehen wir in engem Kontakt zu ihr, im November 2022 konnten wir sie anlässlich eines Besuchs in Köln auch persönlich kennenlernen. Ihr und ihrer Familie verdanken wir zahlreiche weitere Informationen, Fotos und Dokumente zu Charlottes Leben:

Geschäft der Familie Weissberg am Heumarkt 33.

Familiäres Umfeld und Schullaufbahn

Charlottes Eltern waren Isaac Weissberg (geb. 2. August 1874 in Rzeszow/Galizien) und Rebekka Gewürtz (geb. 1881). Sie betrieben bereits in den 1920er Jahren eine Weiß- und Wollwarenhandlung mit Sitz am Heumarkt 33. Das Haus befand sich im Eigentum der Familie, die in der Wohnung über dem Geschäft lebte.

Charlotte wuchs mit drei Geschwistern auf: ihrem älteren Bruder Israel (geb. 1905), ihrer Schwester Annie (geb. 1908) und ihrem jüngeren Bruder Benno (geb. 1913). Wie der Geburtsort des Vaters zeigt, stammte die Familie ursprünglich „aus dem Osten“, muss aber vor Charlottes Geburt bereits nach Köln gekommen sein. Die Eltern waren sehr religiös und gehörten zur orthodoxen Gemeinde Adass Jeshurun. Dementsprechend besaß auch Charlotte eine ausgeprägte jüdische Identität, dies zeigt ihr weiterer Lebensweg sehr deutlich.

Die Eltern waren auf gesellschaftlichen Aufstieg bedacht, wie man am Werdegang der Kinder sieht. Benno Weissberg machte Abitur und studierte anschließend in Bonn. Auch Charlotte sollte eine akademische Ausbildung bekommen und besuchte daher die höhere Schule. Über ihre frühere Schullaufbahn ist weiterhin nichts bekannt, und so wissen wir auch nicht, ob sie bereits in der fünften Klasse (Sexta) an die KLS gekommen war. Denkbar wäre angesichts der Zugehörigkeit zur Gemeinde Adass Jeshurun der Besuch der Volksschule Moriah bzw. des Realgymnasiums Jawne im jüdisch-orthodoxen Gemeindezentrum an der St.-Apern-Straße. Da man an der Jawne aber erst zum Jahr 1929 die gymnasiale Oberstufe einrichtete, war für den Erwerb des Abiturs der Besuch einer anderen höheren Mädchenschule notwendig. Spätestens dürfte Charlotte also im Jahr 1924 in die elfte Klasse (Obersekunda) der KLS gewechselt sein. Dort legte sie zu Ostern 1927 die Reifeprüfung ab.

Charlotte mit ihrem Sohn Josua in Malsch ca. 1937

In den frühen 1930er Jahren heiratete Charlotte den Religionslehrer Leo Gabel (geb. 8. Oktober 1901 in Frankfurt am Main). Auch er stammte aus einer orthodoxen Familie, und auch seine Eltern waren nach dem Ersten Weltkrieg von Polen nach Deutschland gekommen; später wanderten sie nach Palästina aus. Leo war seit 1932  als Kantor und Religionslehrer in der kleinen Gemeinde Malsch im Landkreis Karlsruhe in Baden-Württemberg tätig. Charlotte zog mit ihm dorthin, am 10. Februar 1935 wurde der gemeinsame Sohn Josua geboren.

 

Polenaktion und Warschauer Ghetto

Charlotte und Leo lebten zunächst in Posen. Nach der deutschen Eroberung Polens wenige Monate später wurden sie ins Warschauer Ghetto deportiert, gemeinsam mit Leos Bruder Israel und dessen Frau Chaya. Bereits im Mai 1941 berichtet Leo in einem Brief an seinen Neffen Pinkus, Israels Sohn, von den unhaltbaren Lebensbedingungen im Ghetto. „Die Not bei deinen Eltern ist sehr groß. […] Deine Mutter ist leider sehr schwach, da sie Diät leben müsste, was natürlich nicht möglich ist. […] Unsere Lage kannst du dir ja denken. Es mag dir vielleicht genügen zu erfahren, dass wir diesen Pessach nicht nur keine Mazzen kaufen konnten, sondern nicht einmal Brot und Kartoffeln. Dazu kommt, dass mein Gesundheitszustand sich sehr verschlechtert hat und ich oft zu Bett liegen muss. […] Du kannst dir von unserer Lage keine Vorstellung machen.“

Ein letzter Brief stammt von Juni 1941. Leos Schwägerin ist inzwischen verstorben, da ihre schwere Erkrankung nicht behandelt werden konnte. Auch Leos Gesundheitszustand hat sich weiter verschlechtert. Dies ist das letzte Zeugnis, danach verliert sich die Spur von Leo und Charlotte. Beide wurden zum 8. Mai 1945 für tot erklärt.

 

Das Schicksal der Familie

Charlottes Mutter Rebekka war bereits im Jahr 1936 an einer Herzerkrankung gestorben. Ihr Vater Isaac lebte aber noch bis mindestens 1939 in der Wohnung am Heumarkt. Während der Reichspogromnacht wurde auch das Geschäft der Familie Weissberg gestürmt und verwüstet. Isaac floh anschließend in die Niederlande. Später wurde er im Sammellager Westerbork inhaftiert, am 1. Februar 1944 nach Bergen Belsen deportiert und dort ermordet.

Charlottes Schwester Annie hatte Jacob James Holländer (geb. 1904) geheiratet und lebte mit ihm und den beiden Kindern Rachel (geb. 1935) und Samuel (geb.  am 1. Dezember 1938) in Berlin. Im November 1938, unmittelbar vor Samuels Geburt, hatte sie ihren Vater Isaac in Köln besucht. So war auch sie Opfer der Pogromnacht in Köln geworden und hatte miterleben müssen, wie das Geschäft verwüstet, ihr Vater und sie selbst bedroht wurden. Unter dem Eindruck dieses Exzesses entschieden die Eltern, die kleine Rachel sofort zu einer Pflegefamilie in die Niederlande zu schicken. Annie folgte drei Wochen nach Samuels Geburt, James im Jahr 1939. Erst 1940 traf sich die Familie in Leuwarden wieder. Auch sie wurden in Westerbork inhaftiert und im Februar 1944 nach Bergen-Belsen deportiert. Am 10. April 1945, vier Tage vor der Befreiung Bergen-Belsens durch britische Truppen, sollten Annie und ihre Familie zusammen mit etwa 2500 weiteren Häftlingen per Zug ins KZ Theresienstadt deportiert werden. Nach einer beinahe zweiwöchigen Irrfahrt durch die letzten unbesetzten Teile Deutschlands wurde dieser „Verlorene Zug“ schließlich am 23. April 1945 im brandenburgischen Tröbitz von der Roten Armee befreit. Viele der ohnehin geschwächten Insassen überlebten die Befreiung allerdings nicht, da aufgrund der katastrophalen Bedingungen im Zug eine Typhus-Epidemie ausgebrochen war. Auch James gehörte zu den Opfern, er starb am 25. April 1945. Annie und die Kinder wurden von amerikanischen Truppen in die Niederlande zurückgebracht. Doch Samuel war zu geschwächt, er starb am 4. Juli 1945 in Maastricht. Annie heiratete später erneut und wanderte gemeinsam mit ihrer Tochter Rachel nach Israel aus, wo sich bereits ihr und Charlottes älterer Bruder Israel befand.

Charlottes jüngerer Bruder Benno Weissberg hatte in den frühen 1930er Jahren Zahnmedizin in Bonn studiert. 1936 legte er die Doktorprüfung ab, die Verleihung der Promotionsurkunde wurde ihm aber verweigert. Zunächst wohnte er noch im Haus seines Vaters am Heumarkt, im Juni 1937 scheint er aber bereits die Zulassung als Zahnarzt in Den Haag beantragt zu haben. 1939 heiratete er dort Else Weinberg. Beide überlebten den Krieg und wanderten schließlich nach Palästina aus.

Charlottes Sohn Josua kam zunächst zu seinem Onkel Benno nach Den Haag. Nach der deutschen Eroberung im Jahr 1940 musste er untertauchen und überlebte unter falschem Namen und versteckt bei verschiedenen einheimischen Familien. Nach dem Krieg ging auch er nach Palästina, wurde von seinem Onkel adoptiert und wuchs mit dessen Kindern auf „wie ein großer Bruder“. Josua wurde Rabbiner und starb im Jahr 2021 im Kreise seiner elf Kinder und deren Nachkommen.

Die Informationen über Lotte und Leo Gabels Leben in Malsch, über ihr weiteres Schicksal sowie das ihres Sohnes Josua und die Bilder sind entnommen aus: 3. Malscher Historischer Bote. Jüdisches Leben in Malsch, Malsch 2009 (ISBN 3-931001-01-6.

Die Nutzung von Informationen und Bildern wurde uns dankenswerterweise gestattet von Herrn Josef Bechler im Namen der "Heimatfreunde Malsch e.V.

 

 

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