Marie Rhée

von Emely Tenhagen

Häuserzeile am Hansaring Nr. 41-43 (zum Vergleich)

Marie Rhée, von den Nationalsozialisten als „Mischling 1. Grades“ klassifiziert, wurde am 11.09.1922 in Köln als Tochter des jüdischen Anwalts Dr. Max Rhée und seiner nichtjüdischen Ehefrau Marie Hahn, geboren 1887, in einer ab 1935 sogenannten „privilegierten Mischehe“ geboren. Sie hatte zwei ältere Brüder, Max, welcher 1913 geboren wurde, und Paul, 1916 geboren.
Dr. Max Rhée wurde 1878 in Köln als Kind jüdischer Eltern geboren. Sein Vater hatte ein Geschäftshaus am Alter Markt. Er studierte in Paris, Heidelberg und Berlin und promovierte zum Dr. jur., um dieser Tätigkeit in Köln nachzugehen. Rhée war liberal eingestellt, auch in religiöser Hinsicht. Er schrieb 1903 ein Buch mit dem Titel „Das obligatorische Verkaufsrecht des BGB“, es umfasst 92 Seiten. Der Schwerpunkt seiner Praxis lag auf Familien- und Zivilrecht.

Eine erste schwere Bedrohung seiner beruflichen Existenz durch das nationalsozialistische Regime trat bereits im Frühjahr 1933 ein. Durch das "Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft" vom 7. April 1933 wurde allen Rechtsanwälten, die mindestens einen jüdischen Großelternteil hatten, die Zulassung entzogen. Ausgenommen waren nur Inhaber des "Frontkämpferprivilegs" (Personen, die selbst im Weltkrieg für Deutschland an der Front gekämpft oder einen nahen Angehörigen im Krieg verloren hatten) oder Anwälte, die vor dem 1. August 1914 ihre Zulassung erhalten hatten. Max Rhée war ein solcher "Altanwalt" und durfte somit auch weiterhin praktizieren. Er zählte mit Dr. Heinrich Frank, Dr. Arthur Heidenheim (dem Onkel von Elsie Berg, einer anderen jüdischen Schülerin der KLS) und Dr. Moritz Weinberg zu den letzten vier jüdischen Rechtsanwälten, die nach dem 7. April 1933 im Amt bleiben durften, und er war zusammen mit Dr. Arthur Heidenheim der einzige jüdische Anwalt im Kölner Kammervorstand.
Seine Zulassung verlor er endgültig erst am 1. Dezember 1938. Ab diesem Zeitpunkt durften jüdische Anwälte ohne Ausnahme nicht mehr praktizieren bzw. nur noch für jüdische Klienten arbeiten.

Nach dem Krieg wurde er direkt im April 1945 wieder durch die Engländer zugelassen. Er wurde Mitglied der Kölner Rechtsanwaltskammer gemeinsam mit Dr. Frank Legers und Dr. Gustav Finck als Präsident, um die Maßnahmen des NS-Regimes rückgängig zu machen und die Zustände vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wiederherzustellen. Dies war der erste Nachkriegsvorstand der Rechtsanwälte. Des weiteren war er Vorsitzender einer Spruchkammer für Entnazifizierungssachen. Als Rechtsanwalt im klassischen Sinne wurde er nicht mehr tätig.

Die Familie lebte 1925 in der Hültzstraße 38 in Braunsfeld, in einem Zweifamilienhaus im ersten Stock. Zu dieser Zeit hatte Dr. Max Rhée seine Rechtsanwaltspraxis in der Kreuzgasse 8. Ludolf Rhée, die einzig andere Person mit diesem Nachnamen in Köln neben Familie Rhée, lebte zwischen 1930 und 1934 ebenfalls in der Hültzstraße 38, teilweise im Erdgeschoss, zeitweise ebenfalls im ersten Stock. Obwohl es bis jetzt nicht nachweisbar ist, liegt eine Verwandtschaft nahe - vermutlich handelt es sich bei Ludolf um den jüngeren Bruder von Max. Ludolf Rhée arbeitete als Steuerberater und Treuhänder. Er wurde am 20 März 1882 in Köln als Sohn von Benjamin Markus Rhée und Sara Rhée (geborene Feist) geboren.

1934 zog Familie Rhée von der Hültzstraße in den Maarweg 19, ein Haus mit acht Wohnungen. Dies könnte bereits die Verschlechterung der Lebenslage unter der Herrschaft der Nationalsozialisten zeigen, auch wenn Braunsfeld als gehobenes Wohnviertel dasselbe blieb. Auch die Praxis des Vaters änderte in diesem Jahr ihren Sitz von der Kreuzgasse zum Hansaring 45.

Ludolf Rhée zog im gleichen Jahr aus und in die Wiethasestraße 74 in die vierte Etage, dies lässt auf eine ähnliche Verschlechterung der Umstände wie bei Familie Rhée schließen, obwohl sich auch diese Wohnung in Braunsfeld befand. Im Jahre 1936 zog Ludolf Rhée nach Lindenthal in die Theresienstraße 86. Dort lebte er bis zum 10. August 1939. Er erhängte sich an diesem Tag in seiner Wohnung und liegt nun auf dem jüdischen Friedhof Köln-Bocklemünd Flur 20 A/336 begraben.
Die genauen Gründe für seinen Freitod sind nicht bekannt. Allerdings war er - wie alle jüdischen Mitbürger - bereits seit Jahren immer weiter zunehmenden Diskriminierungen und Ausgrenzungen ausgesetzt, die schon längst alle Lebensbereiche erfassten, von Berufsverboten bis zum Verlust des Wahlrechts, dem Ausschluss aus Sportvereinen, dem Verbot, Gaststätten, Schwimmbäder, Parks und Kinos zu besuchen. Auch seine berufliche Existenz war schon längst zerstört worden, denn seit Mai 1933 durften Juden nicht mehr als Steuerberater arbeiten. Wodurch mag er in den folgenden Jahren sein Überleben gesichert haben und wie schwer mag dies gewesen sein?
Der Freitod als Ausweg aus der Judenverfolgung war tragischerweise nicht unüblich - auch der Bruder von Elsie Berg wählte 1937 mit gerade einmal 18 Jahren den Tod. Dass auch Ludolf Rhée die Demütigungen nicht mehr ertrug und den Freitod als Ausweg wählte, lässt sich zwar nicht beweisen, ist aber doch sehr wahrscheinlich.

1942 musste die Familie ihre Wohnung im Maarweg innerhalb von drei Tagen verlassen und in ein Judenhaus in der Geilenkircherstraße ziehen. Im Herbst 1944 sollten sie von dort in das "Judenlager" im Fort V in Müngersdorf gebracht werden. Dies war ein Sammellager für Juden aus Köln und Umgebung, die von dort in die Vernichtungslager deportiert wurden.
Die Familie konnte jedoch im Haus des Rechtsanwaltskollegen Vondenhoff in der Paulistraße, wieder in Braunsfeld, unterkommen. Somit entging sie der Trennung und Deportation nach Auschwitz. Als das Haus in der Paulistraße von Bomben zerstört wurde, flüchtete Dr. Max Rhée mit seiner Frau in ein Heim in Godesberg, welches von Vincentinerinnen geleitet wurde. Dort konnten sie bis zum Kriegsende verweilen. Nach dem Krieg zogen sie zunächst nach Junkersdorf und dann nach Ludlar, wo Dr. Max Rhée am 25. April 1956 verstarb.

Marie Rhée ist im September 1922 geboren. Demnach dürfte ihr Übertritt von der Grundschule auf die höhere Schule nach ihrem 10. Geburtstag, also zum Beginn des Schuljahres zu Ostern 1933 erfolgt sein. Zunächst besuchte sie allerdings die Kaiserin-Augusta-Schule und wechselte erst später auf die Königin-Luise-Schule. Wann und warum dieser Schulwechsel stattfand, ist nicht bekannt, es muss sich allerdings um eine Zeit nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten handeln. Ein solcher Schulwechsel vielleicht sogar erst zum Beginn der Oberstufe nach der Untersekunda (10. Klasse) war nicht unüblich. Vielleicht ging es um ein besseres Kursangebot, vielleicht gab es auch Schwierigkeiten mit bestimmten Fächern oder Lehrkräften, denen sie so entgehen wollte. Letzteres ist zum Beispiel für Elsbeth von Ameln bezeugt, eine andere jüdische Schülerin der KLS, die ebenfalls von der KAS kam und dort ihr Abitur durch das Fach Mathematik bzw. die unterrichtende Lehrerin bedroht sah. Marie Rhée konnte 1941 schließlich, aufgrund ihrer Klassifizierung als Kind einer „privilegierten Mischehe“, im letzten Jahrgang, in dem dies möglich war, ihr Abitur auf der KLS machen.

 

Klasse 8a, Abiturjahrgang 1941; Marie Rhée ist ganz rechts am Bildrand zu sehen (Bildquelle: Schularchiv)

Interessant ist, dass ihr sehr genau bewusst war, in welcher Gefahr sie und ihre Familie während dieser ganzen Zeit schwebte. Es ist ausdrücklich bezeugt, dass sie von den Deportationen nach Auschwitz wusste, und dass ihr auch bewusst war, dass die Deportation nach Auschwitz endgültig gewesen wäre, da von dort niemand zurückkehren würde. Deswegen ist es umso erfreulicher, dass niemand aus ihrer Familie deportiert wurde. Marie und ihre Brüder hatten eine Deportation zwar nicht so akut zu befürchten wie ihr Vater. Auch wenn es von einigen Nationalsozialisten angestrebt wurde, auch „Mischlinge 1. Grades“ zu deportieren, war darüber noch kein Gesetz oder ähnliches erlassen worden und ihre gesellschaftliche Ausgrenzung blieb der vorrangige Effekt des Regimes auf diese Menschen. Allerdings wurde im Protokoll der so genannten Wannseekonferenz - einer Konferenz von Vertretern aller beteiligten Behörden und Dienststellen zur Koordinierung der Judenvernichtung im Januar 1942 - ausdrücklich festgehalten: "Mischlinge 1. Grades sind im Hinblick auf die Endlösung der Judenfrage den Juden gleichgestellt". Langfristig war also die Deportation und Ermordung auch dieser Menschen geplant.

Marie Rhée und ihre gesamte bekannte Familie konnten allerdings dem Einfluss der Nationalsozialisten entkommen und auf die Unterstützung anderer in den Krisenjahren Deutschlands bauen.
Maries älterer Bruder Paul wurde am 27. Mai 1916 geboren und verstarb am 6. Januar 1997, er liegt auf dem Melatenfriedhof in Köln begraben. Er war zeitweise Hockeyspieler im jüdischen Sportclub Hakoah und lebte nach Kriegsende als Kaufmann in Köln.
Ihr anderer Bruder Max lebte in den 1930er Jahren und nach dem Krieg in Berlin. Mehr ist über ihn derzeit nicht bekannt. In den uns vorliegenden Schülerlisten der Kreuzgasse stehen die Namen von Paul und Max Rhée zwar nicht, aber es ist vorstellbar, dass sie dort zur Schule gegangen sind.
Über Maries weiteres Leben ist wenig bekannt. Sie scheint noch eine Zeit in Köln gewohnt zu haben, ist zu einem späteren Zeitpunkt aber nach Stuttgart gezogen. Über die Gründe ist nichts bekannt, mit einer Heirat hat es aber nichts zu tun, da sie nach Auskunft von Maries Nichte, der Tochter ihres Bruders Paul, nie geheiratet hat. Im Alter von 90 Jahren ist sie schließlich am 8. Juni 2013 in Stuttgart verstorben.
Dass so wenig über Marie Rhées weiteres Leben bekannt ist, ist also keineswegs auf den Erfolg der Nationalsozialisten zurückzuführen, dass sie ein Leben und die Erinnerung daran komplett ausgelöscht haben, sondern vielmehr darauf, dass Marie nach dem Ende der Diktatur ein ruhiges und vor allem freies Leben führen konnte.

 

Nachtrag

Inzwischen wissen wir sicher, dass Marie Rhée erst zum Beginn der Oberstufe zu Ostern 1938 von der KAS auf die KLS wechselte. Dort kam sie in die „alte“ Obersekunda – nach der nationalsozialistischen Schulreform mit Umstellung auf G 8 hieß diese nun „Klasse 6“. Während zu diesem Zeitpunkt alle noch verbliebenen Schülerinnen jüdischer Konfession an der KLS auf einen Schlag entlassen wurden, gab es offenbar keine Schwierigkeiten bei der Neuaufnahme von „Mischlingen 1. Grades“ (christlich getaufte Mädchen aus Ehen, in denen ein Elternteil jüdisch war).

Marie war nicht die einzige. Gleichzeitig wurde eine weitere „halbjüdische“ Schülerin aufgenommen, die vom Lyzeum Lindenthal kam (Helga O.). Und in der Klasse befand sich bereits eine dritte, die schon immer die KLS besucht hatte (Inge D.). Diese drei Mädchen wurden enge Freundinnen, standen ihre Schulzeit gemeinsam durch und machten zu Ostern 1941 gemeinsam das Abitur an der KLS.

Auch wenn sie selbst bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht unmittelbar bedroht waren, so wurde die Lage für alle Familien doch immer schwieriger, insbesondere für die jüdischen Familienmitglieder. Da sich in allen drei Fällen die christlichen Elternteile nicht von ihren jüdischen Ehepartnern trennen wollten, trafen Druck und Drohungen die gesamten Familien. Inge musste mit ihrer Familie schließlich untertauchen. So entging sie zwar der Verfolgung durch die Nazis – tragischerweise kam die Familie aber 1944 bei einem alliierten Bombenangriff ums Leben. Nur Inges jüngere Schwester Ellen überlebte. Auch sie hatte von der Sexta an die KLS besucht und dort im Schuljahr 1942/43 noch die mittlere Reife erlangen können, bevor auch „halbjüdischen“ Kindern der Besuch höherer Schulen verboten wurde.

Helga O. entkam mit ihrer Familie auf Umwegen in die USA. Nach dem Krieg kehrte sie zurück und lebte dauerhaft in ihrem Elternhaus in Braunsfeld. Dort konnten wir im Jahr 2016 ein persönliches Gespräch mit ihr führen, und sie nahm 2018 im Alter von 96 Jahren noch mit großem Interesse an der ersten Stolpersteinverlegung an der KLS teil.

Quellen

Michael Löffelsender, Kölner Rechtsanwälte im Nationalsozialismus: Eine Berufsgruppe zwischen „Gleichschaltung“ und Kriegseinsatz, Tübingen 2016, S. 23, 32, 42f, 48, 183, 186;

Klaus Luig, Weil er nicht arischer Abstammung ist: Jüdische Juristen in Köln während der NS-Zeit, Köln 2004, S. 309ff.;
https://www.wirtrauern.de/traueranzeige/marie-rhee;

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