Margot Rosenthal (verh. Schwartz)
von Wim Rühl
„I am so glad to hear of your project. Our family has a very long history in Germany, and so I very much appreciate your efforts to remember Margot Rosenthal.“
Mit diesem Zitat aus einer Korrespondenz zwischen mir und Deborah Felsenthal, einer Angehörigen von Margot Rosenthal, würde ich diese Biografie gerne beginnen. Denn es zeigt sehr gut, dass die folgenden Seiten weit mehr sind als ein einfaches Schulprojekt.
Mein Name ist Wim Rühl, ich bin 17 Jahre alt und Teil des Projektkurses des Jahres 2023 der Königin-Luise-Schule. Der Projektkurs beschäftigt sich mit der Geschichte der KLS im Nationalsozialismus und mit den jüdischen Opfern aus der Schulgemeinde, die unter dem nationalsozialistischen Regime gelitten haben. Das Ziel des Projektkurses ist es, die Erinnerung an jüdische Schülerinnen, welche die Königin-Luise-Schule während der NS-Zeit besuchten, zu bewahren.
Sätze wie die von Deborah Felsenthal zeigen, dass unsere Arbeit Wirkung zeigt, da wir Margot Rosenthal unseren Respekt zollen, indem wir ihren Angehörigen heute ermöglichen ihre Lebensgeschichte zu lesen, obwohl Margot Köln damals so früh unter grausamen Umständen verlassen musste.
Ich will aber gar nicht mehr verraten, lassen Sie sich auf ein ereignisreiches Leben mit vielen Tiefen, aber auch vielen Höhen ein.
Margot Cecilie Rosenthal wurde am 22.11.1922 in Köln geboren. 1918, im Geburtsjahr ihres vier Jahre älteren Bruders Alfred, der am 16.07.1918 geboren war, lebte die Familie am Deutschen Ring 16. Ab dem Jahr 1925 lebte sie in der Jakordenstraße 17 im Eigelstein-Viertel. Ob Margot ab ihrer Geburt in der Jakordenstraße 17 lebte oder ob sie vorher noch am Deutschen Ring gewohnt hat, ist leider nicht zu ermitteln.
Ihre Mutter Wilhelmine Rosenthal, nach ihrer späteren Flucht nach Amerika auch Wilhelmina genannt, war am 24.12.1880 in Hennef als Wilhelmine Levy geboren worden. Margots Vater Richard Rosenthal, geboren am 21.04.1886 in Köln, war Kaufmann, weshalb es der Familie möglich war, in einem komfortablen eigenen Haus mit Hinterhof zu wohnen. Margots Eltern und ihr Großvater mütterlicherseits, Hermann Levy, waren eingetragene Geschäftsführer der auf den Namen von Heinrich Grau eingetragen Kohlengroßhandlung „Grau“, die ebenfalls in der Jakordenstraße 17 gemeldet war.
Ihr Bruder, und dementsprechend wahrscheinlich auch sie selbst, besuchte die Grundschule am Gereonswall. Die Familie war sich ihrer weitreichenden jüdisch-deutschen Geschichte bewusst und der jüdische Glaube scheint eine Rolle im Alltag gespielt zu haben. Nachmittags nahmen die Kinder zum Beispiel jüdischen Unterricht.
Margots Großeltern mütterlicherseits, Hermann Levy, geboren am 21.06.1860 in Hennef-Geistingen, und Emilie Levy lebten in der Frankfurter Straße 67 in Hennef (etwa eine halbe Stunde von Köln entfernt), wo Hermann für über 50 Jahre Präsident der jüdischen Gemeinschaft war. Die Synagoge dieser Gemeinschaft befand sich in Geistingen, sie wurde 1862 erbaut und in der Reichsprogromnacht 1938 zerstört.
Nach Schilderungen von Margots Bruder spielte die jüdische Gemeinschaft dort auch für ihn und Margot eine große Rolle. In Köln besuchte die Familie die Synagoge in der Glockengasse. Aus Dokumenten über Margots Vater geht außerdem hervor, dass dieser im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war.
Margots Einschulung in die Königin-Luise-Schule als weiterführende Mädchenschule erfolgte Ostern 1933 in die “Sexta”, die fünfte Klasse.
Dass einem Mädchen der Besuch einer höheren Schule ermöglicht wurde, zeugte zur damaligen Zeit vom Wohlstand und dem besonderen Interesse ihrer Eltern an der Bildung ihrer Tochter. Allgemein lässt sich ein verhältnismäßig hoher Anteil an jüdischen Schüler:innen in der höheren Bildung erkennen, an dem sich wiederum der hohe Stellenwert von Bildung im Allgemeinen und die eng daran geknüpfte Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg erkennen lassen. Auch jüdische Mädchen besuchten überdurchschnittlich häufig höhere Lehranstalten.
Am 25. April, kurz nach Margots Einschulung, wurde das “Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen” verabschiedet, nach dem höchstens 5 Prozent aller Schüler:innen einer Schule und höchstens 1,5 Prozent der neu aufgenommen Schüler:innen, „nicht-arischer“ Herkunft sein durften. Die Kinder von jüdischen Frontkämpfern des Ersten Weltkrieges durften öffentliche Schulen allerdings trotzdem uneingeschränkt besuchen, weshalb Margots Einschulung wie geplant verlief. Neben ihr wurde insgesamt noch sechs weiteren jüdischen Mädchen in ihrer Klasse durch diese Sonderregelung der Besuch der Königin-Luise-Schule ermöglicht.
Dass neben ihr noch sechs weitere jüdische Schülerinnen in die Königin-Luise-Schule eingeschult wurden, lässt sich damit erklären, dass sich eine Dynamik entwickelte, die Schulen, an denen bereits eine gewisse Anzahl jüdischer Schüler:innen angemeldet war, auch für neue attraktiver machte: Denn man traf hier auf Gleichgesinnte, und es konnte von einer gewissen Offenheit gegenüber dem Judentum ausgegangen werden. Diese Offenheit an der KLS zeigte sich allein schon daran, dass überhaupt noch jüdische Mädchen neu aufgenommen wurden – was nicht an allen höheren Schulen in Köln der Fall war.
Nach Schilderungen ihres Bruders erfuhr die Familie schon vor der Machtübernahme der Nazis Alltagsantisemitismus, der sich dann ab 1933 möglicherweise zu antisemitischen Anfeindungen und Schmähungen entwickelte. Auch in offiziellen Dokumenten der Schule werden Margot und ihre jüdischen Mitschülerinnen als „nicht-arisch“ bezeichnet und damit von den anderen Schülerinnen abgegrenzt.
Das Klima für jüdische Schülerinnen an der Königin-Luise-Schule scheint allerdings trotzdem erträglich gewesen zu sein, es gibt keine Hinweise auf wesentliche Diskriminierung von Seiten der Lehrer:innen und Mitschülerinnen, auch in Bezug auf die Benotung. Lieselotte Kramer und Hilde Edith Levi, die zwei Jahre nach Margot eingeschult worden waren, berichten von einer “sorgenfreien Zeit” und einem “guten Verhältnis zu Lehrern”. Auch die Ausgrenzung von jüdischen Schülerinnen führte die Königin-Luise-Schule nicht so akribisch durch wie andere Schulen, die schon ab 1933 fast alle “nicht-arischen” Schüler:innen auswiesen. Obwohl die Gesamtzahl jüdischer Schülerinnen in den Folgejahren aufgrund von Verschärfungen in der antijüdischen Schulpolitik weiterhin sank, konnten vor allem in Margots Jahrgang und den zwei Folgejahrgängen eingeschulte Jüdinnen weiterhin auf der Königin-Luise-Schule bleiben, was diese zum Schuljahr 1937/38 zur höheren Kölner Schule mit den meisten jüdischen Schüler:innen machte.
Im Unterricht erzielte Margot recht gute Noten. Ihr Gesamterfolg wurde als „ausreichend“ bis “voll ausreichend” bezeichnet. Entgegen der Annahme, dass sich eine solche Beurteilung heutzutage im schlechteren Notenbereich bewegt, bezeugte diese Bezeichnung zu Margots Schulzeit noch eine gute Leistung. Besonders gute Leistungen zeigte sie in den Fächern „Leibesübungen“, dem heutigen Fach Sport entsprechend, und „Nadelarbeit“.
Ostern 1938 wurde sie in die "Untersekunda” versetzt, die zehnte Klasse, nach der sie die mittlere Reife erreicht hätte. Zum neuen Schuljahr 1938/39 wurden sie und all ihre jüdischen Mitschülerinnen allerdings auf einen Schlag von der Königin-Luise-Schule entlassen. Margot verließ die Schule also ohne Abschluss. Versuche von Eltern ihrer Mitschülerinnen, diese Entlassung zu revidieren, blieben erfolglos. Etwa zwei Monate vorher, am 27. März 1938, war Margots Familie bereits aufgefordert worden, die “Umschulung der Tochter auf die jüdische höhere Schule” zu vollziehen.
Mit der „jüdischen höheren Schule“ war das private jüdische Realgymnasium „Jawne“ gemeint. Vor der NS-Machtübernahme wurde sie vor allem für Kindern aus orthodoxen, strenggläubigen Familien bevorzugt. Durch den zunehmenden Ausschluss jüdischer Schüler:innen aus regulären Schulen wurde sie allerdings zunehmend auch von jeglichen Schüler:innen besucht, die vom NS-Regime als jüdisch erachtet wurden, was im Vergleich zur Anzahl an Menschen mit tatsächlichem jüdischen Glauben eine große Menge war.
Anders als viele andere ihrer ausgewiesenen Mitschülerinnen vollzog Margot allerdings wahrscheinlich nicht den Schritt auf die Jawne.
Zunehmende Einschränkung des Privatlebens
Auch an ihrem Privatleben gingen die zunehmenden Diskriminierungen nicht spurlos vorbei. Ab dem Jahr 1933 begannen im Zuge der "Arisierung" die Boykotte jüdischer Geschäfte und Unternehmen. Darunter wird auch das Kohleunternehmen von Margots Vater und Großvater und damit einhergehend die finanzielle Situation der Familie gelitten haben. Auch Dinge, die für ein Kind in Margots Alter selbstverständlich sein sollten, wie beispielsweise das Betreten städtischer Sportanlagen oder das Sitzen auf öffentlichen Parkbänken, waren ihr als Jüdin untersagt und drängten sie aus dem deutschen Gemeinschaftsleben.
Am 6. Juli 1935 wurde festgelegt, dass „für die Aufnahme in die Reichsschaft der Studierenden an den deutschen Hoch- und Fachschulen die arische Abstammung Bedingung“ ist. Dieser Aufnahmestopp jüdischer Studenten an allen deutschen Hochschulen betraf langfristig vielleicht auch Margot, die nicht ohne Grund eine höhere Schule mit dem Abitur als Ziel besuchte. Kurzfristige Folge war zudem, dass ihr älterer Bruder Alfred noch im selben Monat nach Prag floh, um dort zu studieren. Sowohl für ihn, der nach eigenen Aussagen in Prag durch seine fehlenden Sprachkenntnisse keine schöne Zeit hatte, als auch für seine Familie, die ihn gezwungenermaßen mit erst 17 Jahren alleine in eine fremde, weit entfernte Stadt ziehen lassen musste, stellte diese Zeit wahrscheinlich eine Belastung dar.
Zwar wurden eigentlich erst 1938 durch die „Verordnung über Reisepässe von Juden“ die Pässe von Juden für ungültig erklärt oder eingezogen. Nach Schilderungen Alfreds wurde aber bereits 1936 sein Pass eingezogen, als er vorübergehend nach Köln gekommen war, um die Familie zu besuchen. Der Grund für dieses anachronistisch erscheinende Ereignis lässt sich nur vermuten. Entweder handelte es sich um eine, durchaus nicht unübliche, willkürliche Repressalie eines Beamten oder um eine Ungenauigkeit in Alfreds Zeitzeugenaussage, was in Anbetracht des zeitlichen Abstands von 60 Jahren zwischen dem Ereignis und der Nacherzählung auch durchaus denkbar wäre. Er lebte daraufhin jedenfalls wieder im Haus der Familie.
Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz und Selbstmord von Vater und Großvater
Im selben Jahr, am 30.04.1936, beging Margots Großvater Hermann Levy Selbstmord. Auf dem Papier wird als ausschlaggebender Grund dafür die mehr und mehr miserable Situation des Kohlegeschäfts der Familie durch den immer stärker praktizierten Boykott jüdischer Geschäft angegeben. Doch auch mit der „Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ 1935 einhergehende Einschränkungen für Juden, wie der Entzug des Wahlrechts und das Verbot, ein öffentliches Amt zu bekleiden, werden ihn möglicherweise zu diesem Schritt getrieben haben. Denn gerade als Gemeindevorsteher mit Einfluss in seiner Gemeinschaft wird ihn dieser vollkommene Verlust politischen Einflusses getroffen haben.
Der Selbstmord des Großvaters Hermann muss für die Familie ein schwerer Schicksalsschlag gewesen sein, denn sie scheint ein enges Verhältnis zu diesem gepflegt zu haben. Sie besuchte regelmäßig das Haus der Großeltern sowie die dortige Synagoge und verbrachte gerne Zeit in der von Hermann geleiteten Religionsgemeinschaft. Gerade für die zu diesem Zeitpunkt erst 14 Jahre alte Margot war es wahrscheinlich eine emotional sehr belastende Situation, den Selbstmord des eigenen Großvaters betrauern zu müssen.
Nach ihrer Entlassung von der Königin-Luise-Schule im April 1938 sah Margot einer ungewissen Zukunft entgegen. Sie musste die Schule ohne Abschluss verlassen und es war für Juden immer schwieriger, einen regulären Beruf auszuüben. Es liegt die Vermutung nahe, dass sie die Familie durch unter der Hand durchgeführte Näharbeiten finanziell unterstützte. Dafür spricht, dass Nadelarbeit ihr stärkstes Fach in der Schule gewesen war, dass sie Deutschland bei ihrer späteren Ausreise mit einer tragbaren Nähmaschine verließ und dass ihr bei ihrer späteren Einreise nach Amerika in den Einreisedokumenten der Beruf „Dress Designer“ (Schneiderin) zugeschrieben wurde.
Am 16.10.1938 beging auch Margots Vater Richard Rosenthal Selbstmord, weil sein Geschäft beschlagnahmt worden sein soll. Die zwangsweise Schließung jüdischer Geschäfte erfolgte im Wesentlichen erst nach der Reichspogromnacht vom 9./10.11.1938. Entweder handelte es sich hier also um eine Ausnahme, oder die Erinnerung trügt auch in diesem Fall. Dann wäre es aber zumindest ein Beispiel dafür, wie verzweifelt die Lage für manche schon vorher war.
Richards Selbstmord wird die Familie sowohl mental als auch finanziell in eine Krise gestürzt haben. Dadurch, dass Hermann und Richard, die Geschäftsführer des Unternehmens, beide tot waren, war die Zukunft der Familie finanziell nicht gesichert.
Reichspogromnacht und Verschleppung des Bruders ins KZ Dachau
Etwa einen Monat später, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, fanden die Novemberpogrome statt. Dies waren vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Juden im Deutschen Reich. Dabei wurden im ganzen Reichsgebiet mehrere hundert Juden ermordet, mindestens 300 nahmen sich das Leben. Um die 1400 Synagogen sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden gestürmt und zerstört. Nach Instruktionen des Reichsführers SS Heinrich Himmler sollten dabei „vor allem vermögende Juden“ für die Überfälle ausgewählt werden, weshalb wenig überraschend auch die Wohnung der vergleichsweise wohlhabenden Familie Rosenthal nicht verschont blieb.
Die Plünderer der Wohnungen waren mit Revolvern, Dolchen, Äxten und Brechstangen ausgestattet. Geld, Schmuck, Fotos und sonstige Wertgegenstände wurden entwendet. Glastüren, Spiegel und Bilder wurden eingeschlagen, Betten, Schuhe und Kleider aufgeschlitzt. „Es wurde alles kurz und klein geschlagen.“ Im Rahmen des Pogroms verhafteten Einheiten von SS und Gestapo bis zu 30.000 jüdische Männer, worunter auch Margots Vater Richard sein sollte. Als den Plünderern allerdings von Margots Familie mitgeteilt wurde, dass dieser bereits tot war, verhafteten sie stattdessen ihren Bruder Alfred. Dieser wurde von SA-Mitgliedern in das Kölner Gestapogefängnis am Appelhofplatz gebracht, während er auf dem Weg dorthin wahrscheinlich ständigen Misshandlungen und dem Gejohle der Menge ausgesetzt war, wie es von anderen Zeitzeugen beschrieben wird.
Nach seinem Aufenthalt im lokalen Gestapogefängnis wurde er erst vorübergehend im Zuchthaus festgehalten und dann, so wie 11.000 weitere in der Progromnacht verhaftete Männer, in das KZ Dachau deportiert. Nachdem die beiden ersten Aufenthalte schon unter menschenverachtenden Bedingungen stattgefunden hatten, muss der Aufenthalt im KZ Dachau der Gipfel der psychischen und physischen Belastung gewesen sein. „Die Strafmaßnahmen [...] umfassten u. a. Essensentzug, […], schwere Strafarbeit in eigenen Strafkommandos, Arreststrafen im Lagergefängnis (Bunker) [...], körperliche Züchtigungen und letztlich die Todesstrafe.“ So schildern es andere Häftlinge, die zu dieser Zeit nach Dachau verschleppt wurden.
Alfred selbst beschreibt ein psychologisches Phänomen, das er während seines Aufenthalts in Dachau erlebt hat, bei dem ein Verteidigungsmechanismus ausgelöst wird, der eine vollständige Distanz zwischen sich und dem Erlebten herstellt: "I know exactly what happened but it didn't happen to me, it happened to others I looked on, very strange." Die Verhaftungen und Einweisungen in die KZs nach den Novemberpogromen 1938 dauerten allerdings nicht sehr lange und hatten das Ziel, die Inhaftierten zur Ausreise zu zwingen. Deshalb wurde auch Alfred nach sechs Wochen wieder entlassen und kehrte nach Köln zurück.
Flucht des Bruders nach Trinidad
Nach Hause zurückgekehrt wurde Alfred von seiner Mutter Wilhelmine mitgeteilt, dass sie für ihn ein Ticket nach Trinidad organisiert habe und dass er Deutschland innerhalb von drei Tagen verlassen müsse. Dass es Wilhelmine gelang, Alfred innerhalb von etwa zwei Monaten eine Ausreise nach Trinidad zu organisieren, war durchaus nicht selbstverständlich. Nach der Reichspogromnacht entstand nämlich eine (von der NS-Führung forcierte) Emigrationswelle von Juden, die aus Deutschland zu fliehen versuchten. Allerdings stellte die horrende Reisefluchtsteuer und das Erlangen eines Visums für das geplante Einreiseland für viele ein unüberwindbares Hindernis dar. Alfreds Flucht wurde durch das Fehlen seines Reisepasses, der 1936 eingezogen worden war, sogar noch zusätzlich erschwert. Dass es Wilhelmine trotzdem gelang, die Flucht zu ermöglichen, kann mehrere Gründe haben. Wahrscheinlich konnte sie durch die immer noch vergleichsweise komfortable finanzielle Lage der Familie die Reisefluchtsteuer und die finanziellen Hürden bei der Beantragung eines Visums in Trinidad stemmen. Außerdem könnte ihr geholfen worden sein, da ein übergeordnetes Interesse daran bestanden haben könnte, die Familie ihres Vaters Hermann Levy, der als jüdischer Gemeindenvorsteher eventuell einflussreiche Kontakte geplegt hatte, zu retten. Auch dass ihr Mann in den frühen 1930er Jahren im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) aktiv gewesen war könnte für Unterstützung bei Alfreds Flucht gesorgt haben.
Alfred erreichte Trinidad schließlich im Frühjahr 1939 per Schiff über den Hafen von Amsterdam nach einer etwa 20-tägigen Überfahrt auf dem Schiff „HNLMS Abraham Crijnssen“. Währenddessen verschärfte sich die Situation von Margot und Wilhelmine in Deutschland zunehmend. Wilhelmine befand sich in keinem guten gesundheitlichen Zustand und im November und Dezember 1938 erfolgte eine Welle von Maßnahmen, die Juden endgültig aus dem Wirtschaftsleben drängten. Die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ (12.11.38), nach der Juden keinerlei Geschäfte mehr betreiben durften, die „Durchführungsverordnung über die Sühneleistung der Juden“, nach der Juden mit einem Vermögen über 5000 Reichsmark 20% ihres Vermögens an den Staat abgeben mussten (21.11.38) und die „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“, nach der Juden ihre Gewerbebetriebe und ihren Grundbesitz verkaufen mussten, raubten Wilhelmine endgültig ihre finanzielle Grundlage. Besonders weil das Budget der Familie durch die kostspielige Finanzierung von Alfreds Flucht zur gleichen Zeit schon vorbelastet war. Die prekäre finanzielle Lage, die Aussicht ihre Wohnung im Herbst 1939 verlassen zu müssen und der nahezu vollständige Ausschluss aus dem deutschen Gemeinschaftsleben machten eine Flucht nun auch für Margot und Wilhelmine unumgänglich.
Flucht nach Venezuela und Trinidad
Um ihnen diese Flucht zu finanzieren, hatte Alfred sich in Trinidad sowohl Geld geliehen als auch Geld verdient. Da er während seines Studiums in Prag nebenberuflich als Fotograf gearbeitet hatte, liegt die Vermutung nahe, dass er dafür auch in Trinidad Fotografierarbeiten ausübte. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs verließen Margot und Wilhelmine Deutschland schließlich „with only hand luggage and a portable sewing machine“. Auf einem italienischen Schiff gelangten sie über den Hafen von Genua nach La Gueira, einer Hafenstadt in Venezuela. In der nahegelegenen Haupstadt Caracas blieben sie für etwa 3 Monate, um Geld für die weiterführende Flucht zu verdienen. Die geplante Zusammenkunft mit Alfred stellte sich in der Umsetzung allerdings als kompliziert heraus, da Margot und Wilhelmine mit Ausbruch des Krieges aufgrund ihrer deutschen Nationalität als Feinde angesehen wurden und deshalb nicht in Trinidad einreisen konnten.
Die Einreise gelang aber letztendlich doch mithilfe der Beziehungen einer Freundin, die Alfred in Trinidad kennengelernt hatte. In Trinidad wohnte die Familie, so wie 150 weitere geflüchtete jüdische Familien aus Deutschland und Österreich, in Kasernenanlagen. „We lived in baracks which under the circumstances were alright“. Am folgenden Thanksgiving, dem 23.10.1939, reiste Alfred alleine per Schiff nach New York aus. Da er bei der Ausreise einen neuen, nicht-deutschen Pass benutzte, lässt sich die Ausreise nicht anhand der Passagierlisten, sondern nur anhand seiner Zeitzeugenaussage ermitteln. In Texas in Amerika lebte ein ehemaliger Kamerad von Alfreds Vater aus dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten namens Heiman, der ein paar Jahre zuvor angeboten hatte, Alfred zu einer Familie, die in aufnehmen könne, zu vermitteln, wenn dieser nach Amerika hätte ziehen wollen. Der darüber geknüpfte Kontakt mit dem kommerziellen Künstler Harold Eichenbaum und einer weiteren Person halfen Alfred erheblich dabei, alle benötigten Dokumente für die Einreise nach Amerika organisieren zu können.
Erneut trat er diese Flucht zuerst alleine an, während Margot und Wilhelmine erst etwa zwei Jahre später folgten. Dieses Muster lässt sich damit erklären, dass das Budget der Familie vorerst immer nur für die Flucht einer Person ausreichte. Nachdem Alfred nach seiner Ankunft in New York für eine Woche bei seinem Cousin mütterlicherseits gewohnt hatte, gelangte er mit dem Bus nach Austin in Texas. In Austin profitierte Alfred erheblich von der Gastfreundschaft von Harold Eichenbaum und seiner Familie. Harold, der am 13.10.1909 geboren war, war zu dem Zeitpunkt etwa 30 Jahre alt. Austin, Alfreds neue Heimat, war eine Studentenstadt und lässt sich als kulturelles Zentrum von Texas bezeichnen. Er führte seine Arbeit als Fotograf fort und arbeitete für eine Zeitung. Später studierte er auch.
Zwar folgten Margot und Wilhelmine Alfred nach dessen Aussagen schon 4 bis 5 Monate später nach Austin, laut Passagierlisten kamen sie allerdings erst nach etwa zwei Jahren, am 26.11.1941, an Bord des Schiffes „Brazil“ in New York (Ellis Island) an, was sich als verlässlichere Quelle bezeichnen lässt. Aus Margots Berufsbezeichung in den späteren Einreisedokumenten nach Amerika geht hervor, dass sie in Trinidad als „Dress Designer“ (Schneiderin/Mode-Designerin) gearbeitet hat.
Sie zogen zu Alfred nach Austin. Das vermeintliche Entkommen vor dem Krieg durch die Ausreise nach Amerika stellte sich allerdings als Irrtum heraus, nachdem etwa zwei Wochen nach ihrer Ankunft durch den Angriff auf Pearl Harbour am 07.12.1941 auch Amerika in den Zweiten Weltkrieg involviert wurde. Um die durch den Kriegsausbruch drastisch vergößerte Zahl an Soldaten versorgen zu können, wurde am 04.02.1941 die USO, ein Zusammenschluss aus zivilen Hilfsorganisationen, gegründet. Sie half den amerikanischen Soldaten „with only coffee, doughnuts and goodwill“.
Auch Margot half im Rahmen des jüdischen Zweigs der USO als „Junior-Hostess“, indem sie den Soldaten zum Tanzen und zur Geselligkeit zur Verfügung stand. Die „Junior-Hostesses“ unterlagen strengen Sittlichkeitskontrollen, viele sahen die USO als einen von den Eltern akzeptierten Ort, an dem sie sich unter Männer mischen konnten. Doch Margot wird wahrscheinlich auch die Intention gehabt haben, dabei zu helfen, das grausame und von ihr wahrscheinlich besonders verachtete NS-Regime in die Knie zu zwingen.
Im Rahmen der USO lernte sie auch ihren zukünftigen Ehemann Paul Paisach Schwartz kennen, einen in San Marcos stationierten Offiziersanwärter. Er war am 24. November 1920 in Vitznitz, Rumänien geboren worden und war das einzige Kind von Ben und Betty Schwartz, die 1928 nach New York City ausgewandert waren. Er hatte 1938 seinen Abschluss an der Stuyvesant High School gemacht und besuchte das City College of New York, bis er im Oktober 1941 zur Luftwaffe eingezogen wurde. Margot und Paul heirateten am 03.04.1944.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs blieben die beiden vorerst in Austin, wo Paul 1948 erfolgreich seinen Hochschulabschluss in Maschinenbau absolvierte. Er arbeitete daraufhin für das U.S. Army Corps of Engineers, Galveston District. Im November 1950 fand auch die Hochzeit von Margots Bruder Alfred und Bess Beatrice Klein, die am 24.08.1913 in Galveston geboren worden war, statt.
Im selben Jahr zogen Margot und Paul in das etwa drei Stunden von Austin entfernte Fort Worth, da Paul dorthin versetzt wurde. Fort Worth wird der Charme einer „Cowboy-Stadt“ nachgesagt, ihre Atmosphäre soll altmodisch und entspannt sein. Im Laufe seines Berufslebens war Paul an der Entwicklung fast aller Staudämme in der Region, der Planung der Schleusen für den Arkansas River, des NASA Manned Spacecraft Center in Houston, mehrerer großer Krankenhäuser und einer Reihe von militärischen Bauprojekten beteiligt.
Margot engagierte sich währenddessen aktiv in mehreren Organisationen für Ehefrauen von Ingenieuren, war in deren Vorständen und als Präsidentin tätig. Sie war auch im National Council of Jewish Women aktiv und hatte große Freude am Gemeinschaftsleben der Beth-El-Gemeinde und ihrer „Sisterhood“, deren Präsidentin sie von 1967 bis 1969 war. Mit der Präsidentschaft in der Gemeinde führte sie zudem auch die Leidenschaft ihres von den Nationalsozialisten in den Selbstmord getriebenen Großvaters fort. Auch Paul war in der Beth-El-Gemeinde aktiv, er war 1958 und 1959 Präsident der „Brotherhood“ und von 1973 und 1975 Präsident des „Temple“.
„Her family always took priority; she was so proud of her husband's and children's accomplishments.“ In den Folgejahren bekam das Paar eine Tochter und einen Sohn, Faye Slater und Richard Schwartz, die beide in Fort Worth aufwuchsen und noch heute dort leben. Faye ist heute Vizepräsidentin des Unternehmens „Slater Flooring & Design“, Richard arbeitet in einer renommierten Anwaltskanzlei namens Whitaker Chalk. Im Januar 1973 starb Margots Mutter Wilhelmine Rosenthal, die gegen Ende ihres Lebens sehr krank gewesen war, in Washington D.C., wurde aber in Fort Worth bestattet.
„Margot loved sharing their home with friends and family. She loved dancing, arts and crafts and cooking and entertaining.“ Eine besondere Vorliebe teilten Margot und ihr Mann Paul für die Musik. Margots Aktivitäten in der Symphony League, ein Orchester, dass „cultivate[s], promote[s], support[s] and develop[es] the love of music for children and adults alike“, werden als „most meaningful and close to her heart“ beschrieben. Auch Paul war in dem Orchester aktiv, er spielte Orgel und Harmonika, außerdem produzierte er digitale Musik. Von 1972 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1979 war er im Berufsleben schließlich Leiter der Planungsabteilung des Korps für den Bezirk Fort Worth. Nach seinem Rücktritt aus dem Bundesdienst war er bis 1984 als Berater für das Architekturbüro Lawrence D. White tätig. Die Texas Society of Professional Engineers ernannte ihn 1977 außerdem zum Ingenieur des Jahres.
Am 31.12.2006 starb Margot Rosenthal schließlich „peacefully“ an einem Sonntagmorgen in Fort Worth. Ihr Bestattungsgottesdienst fand zwei Tage später im Altarraum der Beth-El-Gemeinde, 4901 Briarhaven Road unter der Leitung von Rabbiner Ralph Mecklenburger statt. Nach dem Trauergebet wurde sie in der Beth-El Section des Greenwood Memorial Park beigesetzt. Auf der Website Legacy.com wurde anlässlich ihres Todes ein kurzer Umriss ihres Lebens veröffentlicht, unter dem 16 Verwandte und Bekannte ihre Erinnerungen und Beileidsbekundungen hinterließen. Ihr Mann Paul Paisach Schwartz starb am 19.09.2015, ihr Bruder Alfred Rosenthal am 07.11.2016. Margot hinterlässt neben ihren beiden Kindern Faye und Richard sechs Enkelkinder.
Quellen:
Erkelenz, Dirk / Kahl, Thomas (Hrsg.): Jüdische Schülerinnen und Schüler an Kölner Gymnasien; Ihre Geschichte(n) zwischen Integration, Ausgrenzung und Verfolgung, Berlin: 2023.
Nachruf zu Margot Rosenthal Schwartz: https://www.legacy.com/us/obituaries/dfw/name/margot-schwartz-obituary?id=15914939.
Nachruf zu Paul Paisach Schwartz: https://www.robertsonmuellerharper.com/obituaries/Paul-Schwartz-3.
Interview mit Alfred Rosenthal, durchgeführt von Debra Kulik und Bill Goderre und veröffentlicht am 20.08.1996 im Visual History Archive der USCShoah Foundation: https://vha-1usc-1edu-1vd5a2viq00e5.proxy.fid-lizenzen.de/testimony/18806?from=search&seg=51