Liselotte Kramer
(Lillian K. Lichtman)
von Louisa Laube
Am 30. Januar 1933 begann die Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland. Jüdische Bürgerinnen und Bürger wurden zunehmend ausgegrenzt und ihrer Existenzgrundlagen beraubt. Die antisemitische Politik bedrohte schließlich diejenigen, die nicht auswanderten oder im Untergrund abtauchen konnten, mit Deportation und Ermordung in den Vernichtungslagern.
Die systematischen Maßnahmen zur Ausgrenzung der jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus dem sozialen und wirtschaftlichen Leben traf auch jüdische Schülerinnen und Schüler in Köln. Lieselotte Kramer war eine dieser jüdischen Schülerinnen, die bis 1933 ein bis dahin sorgenfreies Leben in Köln geführt und einen unbeschwerten Schulalltag an der Königin-Luise Schule (KLS) verlebt hatten. Ihr Leben, ihre Träume und ihre Wünsche veränderten sich dramatisch. Konnte Lieselotte und ihre Familie vor dem nationalistischen Terror fliehen, wurden sie getrennt, konnten sie überleben?
Lieselottes Schicksal ist eines von vielen jüdischen Schülerinnen – die nachfolgende Projektarbeit beleuchtet ihr Leben in Köln und beschreibt, was später mit ihr geschah.
Ich bin Louisa Laube, eine Schülerin der KLS in Köln und Teil des Projektkurses Geschichte der Q2. Seit vielen Jahren beschäftigt sich der Projektkurs mit den Schicksalen jüdischer Schülerinnen der KLS, die unter den nationalsozialistischen Repressionen zu leiden hatten. Ziel des Projektkurses ist die Erstellung von Biographien dieser Schülerinnen, um an sie zu erinnern und zu verhindern, dass ihre Leben in Vergessenheit geraten.
Für mich war von Anfang an klar, dass ich dabei mitwirken möchte, die Geschichte der jüdischen Schülerinnen meiner Schule aufzudecken und einen Beitrag dazu zu leisten, dass ihre Schicksale in Erinnerung bleiben. Statistiken und Zahlen verdeutlichen zwar eindrucksvoll das gewaltige Ausmaß des Holocaust, bieten aber keinen Einblick in das Leben einzelner Opfer. Mein Ziel ist es, einen Einblick in das Schicksal von Lieselotte Kramer zu geben, um an ihr Leben zur Zeit des Nationalsozialismus zu erinnern.
Zu Beginn war mir nur ihr Name, ihr Geburtsdatum und die Nennung in zwei Zeugnislisten der KLS aus den Jahren 1936/37 und 1937/38 bekannt. Sogar ihre Konfession war zu Anfang nicht sicher bekannt, da es in den Zeugnislisten nur ein vages Indiz gab, aber keine explizite Nennung der Konfession. Somit hatte ich anfangs wenig Erwartungen auf Erfolg bei meiner Recherche. Doch schnell entwickelten sich, aus zunächst einem einzelnen Namen, immer mehr Rechercheergebnisse von einzelnen Daten bis hin zu einem Zeitzeugeninterview von Lieselotte selbst und Kontakt zu ihren Nachkommen.
Mit der Zeit begannen sich die einzelnen Ereignisse immer mehr zu einer Lebensgeschichte zusammenfügen - aus einem bloßen Namen wurde ein Schicksal, das mich sehr berührt hat.
Lieselotte Kramer (verheiratet Lillian Lichtman) hatte lockige dunkle Haare und dunkle Augen und war ein aufgewecktes Mädchen – so beschreibt sie ihre ebenfalls jüdische Mitschülerin Hilde Edith Levi in ihren Erinnerungen (nach Lieselottes Tochter waren ihre Augen allerdings grün-braun). Sie wurde am 2. Juni 1925 in Köln geboren als Tochter von Richard Julius Kramer und Nellie Elise Helene Kramer (geb. Gidion). Ihr Bruder Walter Kramer wurde am 30. Mai 1922 geboren.
Ihr Vater Richard wurde am 24. Dezember 1888 als Sohn von Bernhard Kramer (*6. Juni 1855 in Kampen, + 5. Juli 1942 im Deportationslager Köln-Müngersdorf) und Berta Levison (* 1. Juni 1861, + 3. Juni 1938 in Köln) geboren und starb am 3. Oktober 1971 in Michigan, U.S.
Richard hatte nach der Schulzeit von 1909 bis 1911 seinen Wehrdienst abgeleistet. Und wie so viele Männer seiner Generation und so viele Väter anderer Schülerinnen der KLS nahm auch er selbstverständlich am Ersten Weltkrieg 1914/1918 teil. Seine Dienstzeit begann am 4. August 1914, also unmittelbar mit Kriegsbeginn. Er diente vier Jahre lang bei der Artillerie, also der Waffengattung, die diesen schrecklichen Krieg am meisten geprägt hat, und kämpfte in fast allen großen Schlachten an der Westfront: an der Aisne, an der Somme, in Flandern. Im März 1916 erhielt er das Eiserne Kreuz 2. Klasse (EK II), später auch das EK I, im März 1917 wurde er zum Leutnant befördert. Seine Dienstzeit endete mit der Demobilisierung erst am 2. Dezember 1918.
Nach Köln zurückgekehrt arbeitete Richard zunächst als Dolmetscher für die britischen Alliierten, die damals die Stadt besetzt hatten. Danach kehrte er in seinen Beruf zurück. Er war von Beruf Kaufmann und arbeitete als Handelsvertreter (Neumarkt 1B) für Kurzwaren (Knöpfe, Nähzubehör etc.). Sein Vater war ebenfalls in derselben Branche tätig, doch Richard übernahm sein Geschäft nicht, sondern machte sich unabhängig und repräsentierte Firmen eigenständig, unter anderem Hutfabriken.
Richards Bruder, Ernst Walter Kramer (* 10. Januar 1885, + 1942), übernahm schließlich das Geschäft des Vaters. Ein weiterer Bruder von Richard, Albert Kramer (* 18. August 1887, + 6. August 1942 im Ghetto Litzmannstadt) arbeitete in Köln als Anwalt und war von 1920 bis 1933 unter Konrad Adenauer Stadtdirektor von Köln. Außerdem war er Repräsentant der Kölner Synagogen-Gemeinde.
Lieselottes Eltern lernten sich im Geschäft von Bernhard Kramer kennen, da Nellie dort arbeitete. Es war Liebe auf dem Ersten Blick, sodass sie einige Monate später, im Jahr 1920, heirateten. Lieselottes Mutter Nellie Elise Helene Kramer wurde am 21. November 1895 (+ 21 April 1990 in Los Angeles) als Tochter von Maximilian Emil Gidion (*13. September 1858, + 1931) und Alice Heyman (* 8. September 1863 in Manchester, England, + 3. Februar 1938 in Köln) geboren. Sie hatte einen Bruder, Robert Rafael Gidion. Er wurde am 6. Mai 1891 in Köln geboren (+ 1966 in Israel). Nellies Vater war von Beruf Kaufmann und besaß eine eigene Firma, einen Modewarengroßhandel, mit dem Namen M. Gideon & Sohn in der Benesisstraße 29. Zu Nellies Schulzeit lebte die Familie in der Beethovenstraße 8.
Die Familie Kramer war nicht besonders wohlhabend, aber sie konnten ihr Leben genießen. Das Familienleben war ihnen äußerst wichtig, sodass sie viel Zeit miteinander verbrachten, bspw. beim gemeinsamen Musizieren oder bei Spieleabenden. Abends saß die Familie auch oft um das Klavier versammelt und musizierte zusammen. Insbesondere die Musik war Lieselotte sehr wichtig. Sie nahm Klavierunterricht bis zu ihrem zehnten Lebensjahr und begann danach, genauso wir ihr Bruder Walter, Geige zu spielen. Sie nahmen zusammen Unterricht bei einer Freundin der Eltern.
Lieselottes Eltern waren sehr musikalisch, lebensfroh und glücklich. Sie verbrachten viel Zeit mit Freunden, gaben eigene Feiern, gingen auf Bälle und haben aktiv am Kölner Karneval teilgenommen. In der Karnevalszeit haben sie sich zusammen mit ihren Kindern verkleidet und Karnevalszügen zugesehen. An Wochenenden ist die Familie öfters zum Wandern in den Wald gefahren. Dort haben sie gemeinsam gepicknickt und auch Lieselottes Großmutter Alice war oft dabei. Die Mutter nahm dann eine Kamera mit und fotografierte die Familie.
Die Familie lebte bis zum Jahr 1935 in einer Wohnung in der Richard Wagner Straße 37. In der ersten Etage lebte eine andere jüdische Familie. Die anderen Nachbarn sind nicht bekannt. Laut Lieselotte lebten in der Gegend neben Familien unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten auch viele weitere jüdische Familien, da in der Nähe die liberale Synagoge in der Roonstraße gewesen ist. Das Verhältnis zwischen jüdischen und christlichen Familien beschreibt sie als unbekümmert.
Die Familie ging nur an den Feiertagen in die Synagoge und die Kinder wurden nicht religiös erzogen. Die gesamte Familie war nicht streng in der Befolgung religiöser Vorschriften, abgesehen von ihrem Großvater Bernhard, der regelmäßig Gottesdienste besuchte. Die einzigen jüdischen Festtage, die die Familie beachtete, waren Chanukka, Pessach und Jom Kippur. An Pessach fuhr die Familie immer zu den Großeltern und an Jom Kippur gingen sie in die Synagoge in der Roonstraße. Lieselotte saß dabei immer zusammen mit ihrer Oma Alice im oberen Teil der Synagoge, während die Männer, getrennt von den Frauen, die Plätze unten einnahmen. Während des Gottesdienstes sang ein Chor.
Ihr Bruder Walter wurde im Jahr 1935 Bar Mitzvah und wurde dadurch religiöser. Um ihn zu unterstützen, pflegte auch die Familie ab diesem Zeitpunkt mehr jüdische Gebräuche. Als Walter älter wurde, entschied er jedoch, Atheist zu werden, und auch die Familie beschloss, ebenfalls den religiösen Traditionen nicht mehr nachzugehen. Insbesondere Lieselotte war darüber erleichtert, da sie kein besonderes Interesse an der Religion hatte. Sie mochte es lieber, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen und zu musizieren.
Lieselotte war Mitglied in einem jüdischen Sportclub. Es handelte sich um eine nicht religiöse Gruppe, und zwar die Jugendgruppe des „Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (RjF). Ihr Vater war ebenfalls Mitglied im RjF. Dieser Verein war im Februar 1919 von Hauptmann Leo Löwenstein (1879-1956) gegründet worden, um über den Einsatz der Juden im Ersten Weltkrieg aufzuklären und die Leistungen jüdischer Soldaten anzuerkennen. Der Bund stand für ein ausgesprochen deutsch-nationalistisches Judentum, war jedoch ab 1936 nicht mehr politisch tätig, sondern kümmerte sich um die Betreuung jüdischer Kriegsopfer, bis er 1938 ganz aufgelöst wurde, da immer mehr Mitglieder auswanderten.
Lieselotte besuchte zunächst von der ersten bis zur vierten Klasse eine jüdische Grundschule, mit großer Wahrscheinlichkeit die religiös-liberale städtische Volksschule in der Lützowstraße. Dort lernte sie die meisten ihrer Freunde kennen. Als nach vier Jahren der Wechsel auf die höhere Schule anstand, gingen viele ihrer Freunde auf die Jawne. Lieselotte dagegen besuchte ab dem Frühling 1935 die Königin Luise Schule in der St. Apern-Straße, wo sie zunächst Englisch und ab der Klasse Va auch Französisch lernte.
Im Jahr 1933 war das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ in Kraft getreten, das die Neuaufnahme jüdischer Schülerinnen und Schüler an Schulen und Hochschulen auf 1,5% begrenzte und den Gesamtanteil jüdischer Schülerinnen und Schülern auf 5% beschränkte. Dadurch dass Lieselottes Vater Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg gewesen war und diese aufgrund des „Frontkämpferprivilegs“ von diesem Gesetz nicht betroffen waren, konnte es Lieselotte ermöglicht werden, die KLS zu besuchen.
Die KLS war auch die Schule ihrer Mutter Nellie gewesen. Sie hatte die KLS noch im Kaiserreich besucht und dort im Jahr 1913/14 die Prüfung für Kindergärtnerinnen abgelegt. Ob sie diesen Beruf später auch ausgeübt hat, ist allerdings unbekannt. Leider liegen dem NS-Dokumentationszentrum keine Informationen zu Nellie vor. Aus den vorliegenden Fakten kann man nur schließen, dass sie kein Abitur gemacht hat, aber trotzdem Möglichkeit zu einer höheren Bildung hatte.
An der KLS verbrachte Lieselotte wahrscheinlich die meiste Zeit mit ihren jüdischen Klassenkameradinnen Ingelore Silberbach, Hannelore Bier und Hilde Edith Levi, deren Väter ebenfalls Frontkämpfer gewesen waren, wodurch der Besuch der KLS für diese vier jüdische Mädchen ermöglicht wurde. Vor allem mit Ingelore Silberbach scheint eine engere Freundschaft bestanden zu haben, denn es gibt eine Reihe von Fotos, auf denen beide zusammen bei Freizeitaktivitäten zu sehen sind, z.B. beim Tennisspiel oder bei einem Ausflug in den Königsforst.
In ihrer Freizeit hatte sie aber auch weiterhin Kontakt zu ihren „alten“ Freundinnen aus der Grundschule. Und da sich das jüdische Gymnasium Jawne direkt neben der KLS befand, konnte Lieselotte oft die Pause mit ihren Freundinnen verbringen – wahrscheinlich an der Mauer, die beide Schulhöfe trennte. Das Verhältnis zu den nicht-jüdischen Schülerinnen war nach Lieselottes Aussage in Ordnung, allerdings hielt man sich eher für sich und hatte, insbesondere nach der Schule, sehr wenig Kontakt.
Natürlich bemerkte Lieselotte auch in der Schule Auswirkungen der politischen Entwicklung. So änderte sich zum Beispiel das Schulleben 1937 durch die Tatasche, dass sie anstelle des nationalsozialistischen Unterrichts, der samstags für nicht-jüdische Schüler in der Schule stattfand, nunmehr zusammen mit den anderen jüdischen Schülerinnen in die orthodoxe Synagoge in der St. Apern-Straße gehen musste.
Grundsätzlich aber – sagt Lieselotte – hatte sie eine unbeschwerte, eine sorgenfreie Schulzeit. Für ein jüdisches Mädchen an einer nichtjüdischen Schule war das im Jahr 1937 keineswegs selbstverständlich. Auch ihre Mitschülerin Hilde Edith Levi vermittelt uns in ihren Erinnerungen den Eindruck, dass das Schulklima an der KLS auch für jüdische Mädchen zumindest erträglich war (siehe dazu ihre Biographie in diesem Gedenkbuch).
Lieselotte blieb drei Jahre lang auf der KLS, und wie ihre drei jüdischen Mitschülerinnen wurde sie nach Aussage einer Zeugnisliste zu Ostern 1938 noch ohne Einschränkungen in die nächste Klasse, also die Untertertia (8.Klasse) versetzt.
Dann aber kam das Ende der Schulzeit an der KLS – ohne Vorwarnung und nicht freiwillig. Bis dahin besuchten noch insgesamt 13 Mädchen jüdischer Konfession die Schule – angesichts dieses späten Zeitpunkts eine vergleichsweise sehr hohe Zahl. Zu Beginn des neuen Schuljahres jedoch scheinen sie alle auf einen Schlag entlassen worden zu sein, denn im Schuljahr 1938/39 sind überhaupt keine jüdischen Mädchen mehr an der KLS bezeugt. Lieselotte berichtet von einem Brief – freundlich im Ton, aber dennoch unmissverständlich – in dem die Entlassung mitgeteilt wurde. Und der Vater von Hilde Edith versuchte in einem persönlichen Gespräch diese Entscheidung zu revidieren – aber ohne Erfolg (siehe auch dazu ihre Biographie hier im Gedenkbuch). Die Gründe für diese Entlassung sind uns unbekannt, einen gesetzlichen Zwang dürfte es aber noch nicht gegeben haben (anders als nach der Reichspogromnacht durch den „Erlass über Schulunterricht an Juden“).
Gemeinsam mit ihrem Bruder, der zuvor das Gymnasium Kreuzgasse besucht hatte, wechselte Ingelore nun auf die Jawne, das jüdische Gymnasium in unmittelbarer Nähe zur KLS. Dies ergibt sich aus dem Poesiealbum von Ingelore Silberbach, in dem sich alle ihre Mitschülerinnen gemeinsam als Klasse verewigt haben.
Auf diesen Seiten finden wir auch die Namen ihrer Klassenkameradinnen von der KLS – Hannelore Bier, Hilde Edith Levi und Lieselotte Kramer – auch sie waren also zum selben Zeitpunkt auf die Jawne gewechselt. Sie müssten auch auf einem Klassenfoto zu sehen sein, dass wir von den Familien sowohl von Lieselotte als auch von Ingelore bekommen haben. Es zeigt die letzte Klasse der beiden auf der Jawne 1938.
Die neue Klassengemeinschaft fiel allerdings schnell auseinander, denn alle versuchten nun ins Ausland zu entkommen. Ingelore war die erste aus der ehemaligen KLS-Klasse, der dies gelang: Am 21. September 1938 wechselte sie auf das Internat in England, das bereits ihre Schwester besuchte. Lieselotte war die zweite, die bald das Land verlassen sollte.
Dieser Schulwechsel hatte auf Lieselotte erheblichen Einfluss. Sie realisierte, dass sie lediglich aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit die KLS verlassen musste, was sie sehr schockierte, da sie bisher eine sehr sorgenlose Zeit auf der Schule verbracht hatte. Dieses unbeschwerte Leben sollte sich nun schlagartig ändern. Und erst jetzt öffnete sich auch ihr Blick für die Veränderungen, die sich seit 1933 vollzogen hatten.
Bereits vor dem 30. Januar 1933, als Hitler an die Macht kam, verfolgte Lieselotte die Wahlen im Jahr 1932, wusste aber nur, dass die Nationalsozialisten eine große Gruppe an Befürwortern hatten und sich wie eine Armee verhielten. Unmittelbar nach der Machtergreifung bekam die Familie dann die ersten antisemitischen Maßnahmen des neuen Regimes zu spüren.
Aufgrund der Maßnahmen zur „Arisierung“ im Jahr 1933 durfte der Bruder der Mutter, Robert Gidion, nicht mehr als Anwalt arbeiten, sodass er mit seiner Familie nach Palästina flüchtete. Auch Lieselottes Onkel Albert Kramer durfte seinen Beruf nicht mehr ausüben und wurde bereits 1933 als Stadtdirektor entlassen. Lieselottes Vater konnte dagegen zunächst unter bestimmten Auflagen sein Geschäft fortführen.
Im Jahr 1935 wurden die Nürnberger Gesetzte verabschiedet, sodass es jüdischen Familien beispielsweise nicht mehr erlaubt war, alleinstehende Kindermädchen zu beschäftigen. Die Familie hatte ein Kindermädchen namens Lisbeth. Lieselotte nannte sie allerdings Bibi, da sie das „th“ als kleines Mädchen nicht aussprechen konnte. Lisbeth begann ihre Arbeit bei der Familie kurz bevor Lieselotte auf die Welt kam. Das Kindermädchen war in erster Linie für die Erziehung von Walter und Lieselotte verantwortlich. Abgesehen von gemeinsamen Essen und Besuchen bei den Großeltern hielten sich die Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder sehr zurück, was dazu führte, dass es innerhalb der Familie wenig Auseinandersetzungen mit politischen Themen gab.
Lisbeth war ein „Mädchen vom Land" und glücklich, bei der Familie arbeiten zu können. Sie war Teil der Familie, sodass die Familie sie aufgrund des Gesetzes nicht entließ, sondern entschied umzuziehen. Sie wollten sich einerseits räumlich verkleinern, aber andererseits auch das Kindermädchen behalten. Sie zogen in die Mohrenstraße 35 und Lisbeth blieb bei ihnen. Allerdings wohnte sie nicht mehr in der Wohnung der Familie, sondern auf dem Dachboden. Sie kümmerte sich tagsüber um die Kinder und ging abends in ihre eigene Wohnung auf den Dachboden zurück. Auf diese Weise wusste niemand, dass sie noch bei der Familie beschäftigt war. Lisbeth blieb bei Kramers bis zu deren Flucht.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November fand die Reichspogromnacht statt, in der überall im Deutschen Reich Synagogen brannten, Schaufenster zertrümmert, Geschäfte geplündert wurden und tausende Juden gedemütigt, verhaftet und sogar ermordet wurden. Lieselotte konnte die Geschehnisse dieser Nacht zunächst nicht begreifen und ging am nächsten Morgen wie jeden Tag zur Schule. Bei ihrer Ankunft wurde den Schülern von der Polizei mitgeteilt, dass die Schule geschlossen sei. Der Grund wurde nicht genannt, doch als Lieselotte in die Schule blickte, sah sie, dass die Synagoge der Gemeinde Adass Yeshurun, die neben der Jawne lag, stark verwüstet war. In diesem Moment begriff sie, dass es um mehr ging als nur um die Zerstörung von Gebäuden.
Nach diesem Tag entschied die Mutter, dass Lieselotte nicht länger in Köln bleiben sollte, weil sie die sich zuspitzende Situation nicht miterleben sollte. Daher schickte sie sie zunächst zu einem früheren Kindermädchen der Familie mit dem Namen Hilde. Diese hatte bereits geheiratet und wohnte 40 Minuten entfernt von Köln. Dort verbrachte Lieselotte zwei Tage. Die Familie entschied ebenfalls, dass Richard tagsüber nicht zu Hause sein sollte, da zu der Zeit viele jüdische Männer in den Wohnungen verhaftet wurden. Daher fuhr er den ganzen Tag mit der Straßenbahn und kam erst spät am Abend wieder nach Hause.
Walter wurde zu seinem Großvater Bernhard geschickt, in der Annahme, dass ältere jüdische Männer zunächst sicher seien. Dieser lebte in der Bismarckstraße 46. Nellie blieb zunächst zuhause und begleitete später Richard tagsüber in der Straßenbahn. Später erfuhr die Familie, dass die SA in diesen Tagen vergeblich versucht hatte, sie in ihrer Wohnung anzutreffen. Sie hatten also großes Glück, dass sie entschieden hatten, alle tagsüber außer Haus zu sein.
Ein paar Tage später kamen alle wieder nach Hause und die Schule öffnete wieder, jedoch war der Alltag nicht der gleiche wie zuvor und die Eltern redeten häufig darüber, ihre Kinder aus dem Land zu schicken. Gemeinsam wollten sie in die USA flüchten, doch ihre Bemühungen um ein Visum waren nicht erfolgreich. Daher arrangierten die Eltern Ende November 1938 zusammen mit anderen Eltern die Flucht ihrer Kinder nach Belgien.
Die Möglichkeit dazu ergab sich durch einen Kindertransport, der von der Jewish Agency of Brussels organisiert wurde. Diese schickte Personen vom Rotem Kreuz nach Köln und in umliegende Orte, um die Kinder abzuholen. Lieselotte wusste nichts von alledem, bis zu dem Tag, an dem ihre Eltern sie informierten, dass sie ihre Sachen packen sollte, da sie noch an diesem Abend die Stadt verlassen würde. Sie hatte nicht viel Zeit darüber nachzudenken und durfte nur einen kleinen Koffer mitnehmen, in den nur das Nötigste hineinpasste. Unter anderem nahm sie aber ihre Geige mit, da sie hoffte, weitere Unterrichtsstunden nehmen zu können. Außerdem packte sie ein Armband ein, dass sie von der Cousine ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte, die einige Monate zuvor in die USA geflüchtet war.
Als die Familie am Bahnhof in Köln ankam, verabschiedete Lieselotte sich außerhalb des Gebäudes auf einem großen Platz von ihrem Vater, denn dieser wollte nicht mit zum Gleis kommen, da er den Abschied dort nicht ausgehalten hätte. Erst nach dem Krieg realisierte Lieselotte, dass dieser Abschied der letzte Moment hätte sein können, in dem sie ihren Vater sah – so wie es bei Hilde Edith Levi in derselben Situation tatsächlich der Fall sein sollte. Nellie begleitete sie bis ans Gleis, wo Lieselotte zusammen mit den anderen Kindern den Zug bestieg. Viele Kinder im Alter von 3 bis 17 Jahren teilten sich einen gesamten Wagon und alle waren aufgeregt, was als nächstes passieren würde.
Am 13. Dezember 1938 traf der Kindertransport um 18:12 am Bahnhof von Herbesthal ein, welcher der erste Bahnhof auf belgischem Staatsgebiet war. Die Zöllner zählten 59 Kinder. In dem Zug befanden sich auch ihr Bruder Walter und sechs weitere Kölner Kinder. Lieselotte wurde als 17. Kind auf den Transportlisten des Comité d’Assistance aux Enfants Juifs Réfugiés (CAEJR) in Brüssel geführt. Damit war sie eines der ersten Kinder überhaupt und das zweite Kind aus Köln, welches die Ausreisegenehmigung erhalten hatte.
Als sie in Brüssel ankamen, wurden sie von der jüdischen Gemeinde in Empfang genommen. Diese hatten ein Essen für die ankommenden Kinder vorbereitet. Danach wurden sie in ein ungenutztes Sanatorium gebracht, wo sie bis zum Wochenende blieben. Der einzige Kontakt, den sie zu ihren Eltern zu diesem Zeitpunkt hatte, waren Briefe, die sie von ihnen bekam.
Am Wochenende bekamen sie Besuch von in Belgien lebenden Juden, die sich Kinder aussuchten, um sie als Pflegekinder aufzunehmen. Lieselotte wurde zusammen mit Elsa Brünell (?), einem siebzehnjährigen Mädchen, von einem Geschwisterpaar ausgesucht. Der Bruder Leon Vorobeitchik kam ursprünglich aus Russland und war geschieden, seine Schwester war verheiratet. Zusammen übernahmen sie die Verantwortung für die beiden Mädchen. Elsa und Lieselotte zogen zu Mr. Vorobeitschik in die 44 Rue, G. Moreau E.V in Brüssel. Walter wurde ebenfalls von einer Pflegefamilie aufgenommen. Zusammen mit zwei anderen Jungen zog er zu einer Familie, die ebenfalls russischen Ursprungs war.
In der Wohnung teilte sich Lieselotte mit Elsa ein Zimmer auf dem Dachboden und beide hatten noch einen eigenen Spielraum. Elsa war eine Klassenkameradin von Walter (wahrscheinlich von der Jawne), vielleicht kannten sich die beiden Mädchen also bereits. Ihr Verhältnis war aber nicht sonderlich eng, da sie wenig gemeinsame Interessen hatten. Elsa wurde nicht zur Schule geschickt. Sie begann in der Branche der Eltern des Pflegevaters zu arbeiten, welches der Handel mit Pelzen war. Die Pflegeeltern besaßen ein Geschäft. Auch Leon Vorobeitchik arbeitete dort, seine Aufgabe war es, die Pelze zu färben.
Das Verhältnis zu ihrem Pflegevater beschreibt Lieselotte wie das zu einem Onkel. Sie nannte ihn Monsieur und beschreibt ihn als sehr nett. Er hatte eine Tochter Emma (16), die ein Internat besuchte, sodass nur sie und Elsa in der Pflegefamilie lebten. Der Pflegevater kümmerte sich gut um die beiden. Gelegentlich gingen sie zusammen ins Kino oder besuchten seine Eltern. Die Familie war wenig religiös und war 20 Jahre zuvor aus Russland nach Brüssel geflüchtet.
Im nächsten Jahr 1939 ging Lieselotte erneut zur Schule in Brüssel. Es war eine Mädchenschule, die sich in Vorst, einer Region im Umland von Brüssel, befand. An ihrem ersten Schultag in Brüssel fühlte sie sich etwas seltsam, aber es fiel ihr schnell leicht, auf französisch zu kommunizieren, da sie zuvor Französisch in der Schule gelernt hatte. Der erste Schultag war ein Ferientag, sodass nur bis zum Mittag Unterricht stattfand. Da Lieselotte dies nicht wusste, hatte sie nun das Problem, wie sie nach Hause kommen sollte. Ein Mädchen sprach sie auf Deutsch an und sagte, dass ihr Vater ihren Vater kenne. Lieselotte ging mit ihr nach Hause und es stellte sich heraus, dass der Vater Paul Maier in der Tat ein guter Freund von Richard war. Die Familie war einige Monate zuvor aus Köln nach Brüssel gezogen. Von dort konnte Lieselotte ihren Pflegevater anrufen, der sie dann abholte. Ab diesem Zeitpunkt bekam sie ein Fahrrad, mit dem sie immer alleine zur Schule und wieder nach Hause fahren konnte.
Während der Zeit bei ihrem Pflegevater sah Lieselotte ihren Bruder zwei- bis dreimal. Einmal hatte sie ihn bei ihm zu Hause besucht und seine Familie kennengelernt und andere Male gingen sie im Park spazieren. In Brüssel erfuhr Lieselotte nur sehr wenig Antisemitismus. Sie hatte aber wenig Kontakt zu nicht-jüdischen Personen, außer in der Schule. Der Kontakt zu den Eltern war reduziert auf Briefe. Dadurch blieben die Kinder aber informiert und die Hoffnung erhalten, sich wiederzusehen.
Am 31. August 1939 erhielten die Eltern einen Brief vom Stadtrat in Köln, dass ihre Visa für die USA bereit lägen. Sie wurden aufgefordert, diese am 3. September abzuholen. Sie schafften es zur Visastelle zu gelangen, obwohl der Krieg am 1. September begonnen hatte. Ursprünglich hatten sie geplant, die Kinder zurückzuholen, um dann gemeinsam in die USA zu fliehen. Die Eltern erkannten allerdings, dass es für ihre Kinder zu gefährlich sein könnte, nach Deutschland zurückzukehren. Deshalb beschlossen sie vielmehr, zuerst zu fliehen und die Kinder dann in die USA nachzuholen.
Sie packten und sandten ihre Koffer schon vorab nach Amerika. Der Plan war es, dass die Sachen möglichst nach San Francisco geschifft werden sollten. Doch das Schiff erreichte nie die amerikanische Küste. Es gelangte nur bis Rotterdam, wo es vermutlich ausgebombt wurde, sodass sie alle ihre persönlichen Gegenstände verloren. So berichtet es Lieselotte im Interview, allerdings kann dies wohl nur für einen Teil der Besitztümer der Familie zutreffen. Ein anderer Teil konnte nicht mehr vor der Eroberung der Niederlande durch die Wehrmacht verschifft werden, wurde von den Besatzungsbehörden beschlagnahmt und vermutlich versteigert. Dies ergibt sich aus den Akten des Rückerstattungsverfahrens – ebenso wie eine ganze Reihe anderer Prozeduren, die die Eltern vor ihrer Ausreise zu bewältigen hatten (s. unten).
Die Flucht aus Deutschland planten Nellie und Richard mit dem Schiff „Statendam“, welches ein Schiff der „Holland-Amerika-Linie“ war. Sie reisten in die Niederlande, doch das Schiff war verspätet, sodass sie einen Monat warten mussten. Sie hielten sich also einen Monat illegal in den Niederlanden auf. In diesem Zeitraum arrangierten die Eltern ein Treffen mit ihren Kindern. Sie trafen sich in der Mitte der belgischen und holländischen Grenze auf einem Feld in einem Restaurant. Die Wiedervereinigung beschreibt Lieselotte als großartig. Sie war froh und glücklich, ihre Eltern wiederzusehen. Alle waren froh, dass es alle geschafft hatten, aus Köln zu fliehen, und sie unterhielten sich über die zukünftigen Pläne. Die „Statendam“ traf dann schließlich mit den Eltern an Bord am 31.Oktober 1939 in New York ein.
Im September 1939 konnte Lieselotte nicht mehr bei Leon Vorobeitchick bleiben, weil das französische Kindermädchen Francoise nicht mehr bei der Familie war. Als alleinstehendem Mann war es ihm nicht gestattet, als Pflegevater für zwei jugendliche Mädchen zu fungieren. Walter konnte bei seiner Familie bleiben, aber Lieselotte wurde in ein Kinderheim geschickt. Dies gefiel ihr überhaupt nicht, da sie sich bei Leon sehr wohlgefühlt hatte und sie es nicht mochte, ins Ungewisse zu gehen.
Sie kam nun in das Heim „Général Bernheim“. Dies war ein Kinderheim für Kinder von Kindertransporten und war vom Kinderhilfswerk Comité d‘Assistance aux Enfants Juifs Réfugiés (CAEJR) gegründet worden. Es lebten dort die Kinder, die nicht bei einer Pflegefamilie untergebracht werden konnten. Im Heim „Général Bernheim“ lebten etwa 40 Mädchen. Es befand sich in Zuen bei Brüssel neben einer Eisenbahnstrecke in der 21, Chaussée de Leeuw St. Pierre. Heimleiterin war Elka Frank. Die Mädchen besuchten die umliegenden Schulen. Auch Lieselotte besuchte dort die nächstgelegene Schule.
Lieselotte blieb dort bis Januar 1940. Bis zu diesem Zeitpunkt erfuhr sie keine Auswirkungen des Krieges und hatte keine Angst, dass die Möglichkeit bestand, dass die Deutschen nach Belgien einmarschieren könnten.
Im Januar 1940 erhielten die Eltern in New York die Visa für Lieselotte und Walter und schickten ihnen diese zu, sodass die Geschwister ausreisen konnten. Am 15. Januar 1940 packte Lieselotte ihre Sachen, traf ihren Bruder und gemeinsam wurden sie zum Bahnhof gebracht, um Brüssel mit einem Zug nach Antwerpen zu verlassen. Sie schlossen sich einer Gruppe anderer Flüchtlinge an und fuhren zur Küste, um mit dem Boot nach Dover zu fahren. In London blieben sie eine Woche in einem Hotel. Sie nutzen die Chance, London zu erkunden. Unter anderem trafen sie eine Tante ihrer Mutter namens Thekla, die in London lebte. Sie war die Schwester von Lieselottes Großmutter Alice und hatte englische Wurzeln.
Von London aus stiegen sie in den Zug nach Liverpool und fuhren von dort aus 11 Tage mit dem Schiff „Lancastria“ nach New York. Die Fahrt dauerte so lange, da das Schiff im Zickzackkurs den Atlantischen Ozean überquerte, um Minen und U-Booten auszuweichen. Am 6. Februar 1940 erreichten sie New York und ihre Eltern standen am Hafen, um sie in Empfang zu nehmen. Es war erneut eine großartige Wiedersehensfreude.
Die Eltern waren in einer Wohnung von Freunden in Upper Manhattan untergebracht, wo nun auch Lieselotte und Walter die kommende Wochen mit ihnen verbrachten. Richard hatte bereits einen befristeten Job gefunden. Er verpackte in der Vorweihnachtszeit Weihnachtsgeschenke, doch er war auf der Suche nach einem neuen Job. Dann bekam er die Möglichkeit, Repräsentant für Käse-Importe aus Holland zu werden, und die Familie zog nach Michigan, wo sie zwei Cousinen der Mutter kannten.
Das belgische Kinderheim schickte Lieselotte im April 1940 ihre Sachen, die sie bei ihrer Flucht zurücklassen musste. Im Mai 1940 besetzen die Deutschen Belgien. Lieselotte hatte somit großes Glück, noch gerade rechtzeitig vor der Besetzung fliehen zu können. Sie sorgte sich allerdings sehr um die Personen, die noch in Belgien geblieben waren. Während des Krieges verfügte die Familie nur über soviel an Information zur Situation der Juden in Europa wie jeder andere Amerikaner auch. Sie lasen die Zeitung und informierten sich soweit es ihnen möglich war. Erst nach Ende des Krieges erfuhren sie die tatsächliche Dimension des Holocaust in Europa.
Von New York aus nahmen sie einen Bus nach Michigan, der allerdings oft im Schnee fest steckte, sodass sie viel vom Land sehen konnten. Als sie in Detroit ankamen, verbrachten sie einige Tage bei den Verwandten, bis sie in ein möbliertes Apartment in der Tupeda Avenue 2410 zogen, das sich direkt gegenüber einer High School befand. Lieselotte besuchte sofort wieder die Schule. Zunächst verbrachte sie ein Semester auf der Middle School und wechselte dann im nächsten Schuljahr auf die High School, die ihr Bruder ebenfalls besuchte. In dieser Zeit änderte sie ihren Namen in Lillian, da dieser Name im englischsprachigen Raum sicher sehr viel leichter und praktikabler war als der deutsche Name Lieselotte.
Nach dem Schulabschluss 1943 arbeitete Lillian zunächst zwei Jahre lang in Detroit als Schaufensterdekorateurin, um Geld zu verdienen. In dieser Zeit, am 24. März 1944, wurde sie auch amerikanische Staatsbürgerin. Anschließend ging sie nach New York, um am Pratt Institute zu studieren. Am Tag des Endes des Zweiten Weltkrieges war Lillian mit ihrem Vater in New York, um die Aufnahme am Pratt Institute zu erhalten und sich das Gelände anzuschauen. Sie wohnte in einem Hotel direkt neben dem Times Square, als sie laute Geräusche von draußen hörte. Sie lief auf die Straße und sah tausende von Menschen, die sich versammelten, um das Ende des Krieges zu feiern. Sie lief durch die vollen Straßen und traf eine alte Freundin, die ebenfalls nach Amerika emigriert war. Danach sahen sich die beiden gelegentlich in New York.
Lillian belegte Kurse für Innenarchitektur und war sehr interessiert an Kunst. Ihren Abschluss in Innenarchitektur machte sie 1948. Danach blieb sie in New York und arbeitete als Innenarchitektin. In ihrer Freizeit spielte sie Tennis, fuhr Ski und fotografierte gerne.
Sie integrierte sich sehr schnell, fand jüdische Freunde und war Mitglied in einer jüdischen sozialen Gruppe, die sich einmal im Monat im jüdischen Zentrum traf. Auch ihre Eltern fanden schnell viele Freunde. Ihr Vater startete mit seinem zunächst kleinen Geschäft, welches mit der Zeit aber immer etablierter wurde, sodass er sich ein Auto leisten konnte, um den Käse in Supermärkte auszuliefern.
Lillian lernte ihren zukünftigen Mann Gabriel Lichtman in New York bei einem Ski-Ausflug kennen. Sie war Mitglied in einem Skiclub, genauso wie ein gemeinsamer Freund von beiden. Eines Abends wollte die Gruppe gemeinsam bowlen gehen, aber keiner außer Lillian und Gabriel kam, sodass sie zum Times Square etwas trinken gingen. Von da an trafen sie sich regelmäßig.
Gabriel Lichtman war am 13. April 1929 in Moldava nad Bodvou in der Tschechischen Republik geboren worden als Sohn von Ernst Lichtman (geb. 1891) und Jolana Lichtman (geb. 1908), als zweitältester von fünf Söhnen. Auch er war Überlebender des Holocaust. Seine Heimatstadt wurde 1938 Ungarn zugeteilt. Die Kinder mussten nun ungarische Schulen besuchen, an denen in ungarischer Sprache unterrichtet wurde. Wie in Ungarn nahm auch in Moldava der Antisemitismus immer mehr zu. Im Frühling 1944 wurden Gabriels Familie und alle anderen aus der Region in das Ghetto Košice in der Slowakei geschickt und schließlich nach Auschwitz deportiert. Seine drei jüngeren Brüder wurden im Konzentrationslager ermordet und seine Mutter, die mehrere Arbeitslager überlebte, kam vermutlich auf einem der Todesmärsche am Ende des Krieges ums Leben. Sein Vater wurde im Winter 1945 im Konzentrationslager Ebensee ermordet. Auch sein Großvater, mehrere seiner Onkel und Tanten sowie Cousins und Cousinen überlebten den Holocaust nicht – insgesamt wurden mindestens 28 Personen aus dem engeren Familienkreis ermordet.
Gabriel selbst überlebte das Ghetto Košice und die Konzentrationslager Auschwitz, Falkenberg und Ebensee, wo er dann im Mai 1945 zusammen mit seinem älteren Bruder Andre und einem Cousin befreit wurde.
Nach dem Krieg kehrte Gabriel zunächst in seine Heimatstadt zurück und ließ sich dann in Košice nieder, wo er Arbeit und Unterkunft bei den wenigen überlebenden Verwandten bekam. Er setzte seine schon zuvor begonnenen zionistischen Aktivitäten fort. So kam er in Kontakt mit Menachem Begin, trat in dessen Untergrundorganisation Irgun ein und wurde dort Waffenexperte und Ausbilder. 1948 ging er nach Israel. Dort kämpfte er im israelischen Unabhängigkeitskrieg und später im Sinai-Feldzug. Danach arbeitete er als Lebensmittelhändler, als Juwelier und als Taxifahrer. Er protestierte gegen die Verhandlungen mit Deutschland über finanzielle Reparationen. Am 4. Januar 1957 kam er schließlich nach New York und wohnte bei seinem älteren Bruder. Er wurde am 23. März 1962 amerikanischer Staatsbürger.
Ende 1959 zog Lillian nach Los Angeles, Kalifornien, da sie nach einem Besuch entschieden hatte, lieber dort als in New York leben zu wollen. Sie fand eine Anstellung und fertigte Zeichnungen für gewerbliche Räume und Büros an. Gabriel folgte ihr 1960 und startete seine Karriere in der Immobilienbranche. Beide verlobten sich im Frühling und heirateten am 25. Juli 1961 in Las Vegas. Lillian behielt ihren Familiennamen bei und nannte sich seit der Hochzeit (und unterschrieb immer als) Lillian K(ramer). Lichtman.
Aus Gabriels Tätigkeit in der Immobilienbranche ergab sich im Lauf der Zeit eine Beschäftigung als Wohnungsbauunternehmer, Lillian war als Designberaterin beteiligt. Ihr letztes Projekt waren eine kleine Straße (Yolie Lane – benannt zu Ehren von Gabriels Mutter Jolanna) und sechs Luxushäuser in einem Stadtteil von Los Angeles namens Tarzana. Benannt war dieser Stadtteil nach Edgar Rice Burroughs, dem Erfinder der Tarzan-Geschichten, der dort einmal große Ländereien besessen hatte. Als Lillian und Gabriel in den Ruhestand gingen, zogen sie in eines dieser Häuser und verbrachten dort die letzten Jahre.
Lillian und Gabriel bekamen zwei Töchter: Judy Alice, * 1963 (benannt nach Gabriels Mutter Jolanna und Lillians genau 100 Jahre zuvor geborener Großmutter Alice), und Karen Joy, * 1965. Beide Töchter machten ihren Abschluss an der University of California, Los Angeles. Judy heiratete 1995 Steve Jeffries. Sie zogen zwei Kinder, Rosalyn und Jacob, in der San Francisco Bay Area groß und waren Mitglieder in der konservativen Synagogengemeinde. Karen heiratete 1990 Matt Stahl. Sie haben keine Kinder und leben in Woodland Hills, einem Vorort von Los Angeles.
Lillian übte zunächst auch in Amerika nicht aktiv den jüdischen Glauben aus und ging, bis zu ihrer Heirat, nicht in Gottesdienste. Gabriel dagegen stammte aus einer orthodoxen Familie. Das stellte aber kein Problem dar. Wie Lillians Tochter Judy es formuliert: Angesichts ihrer gegensätzlichen religiösen Erziehung trafen sich beide in der Mitte und wurden Mitglieder in der Konservativen Jüdischen Gemeinde. Ihre Töchter besuchten dort auch die Vorschule und die Jüdische Schule, beide wurden Bat Mitzvah und wuchsen in einer Familie auf, in der die Religion eine größere Rolle spielte als in der Familie Kramer. Judy beteiligte sich auch aktiv an der Planung der „Annual Regional Holocaust Commemoration“, an der ihre Kinder häufig teilnahmen – im Gedenken an ihre Großeltern.
Lillian träumte und zählte ihr Leben lang auf Deutsch. Sie besaß Kanarienvögel als Haustiere und liebte die Arbeit in ihrem Garten, insbesondere die Zucht von Rosen. Der Zusammenhalt in ihrer Familie und das gemeinsame Beisammensein war das Wichtigste für sie. Für ihre Enkelkinder war sie eine liebevolle Großmutter, sie freute sich jedes Mal, wenn ihre Enkelkinder sie in den Schulferien und an Feiertagen besuchten.
Lillian starb am 10. März 2014 im Alter von fast 89 Jahren in Tarzana, Kalifornien. Zuvor hatte sie noch erleben können, dass ihre Enkelin Rosalyn 2010 Bat Mitzvah wurde, ihr Enkel Jacob 2013 Bar Mitzvah. Gabriel folgte ihr am 25. April 2019, kurz nach seinem 90. Geburtstag.
Lillians Vater Richard starb am 3. Oktober 1971 in Michigan, U.S. Seine Enkelin Judy war zu diesem Zeitpunkt erst sieben Jahre alt. Sie erinnert sich nicht, dass er je über Deutschland oder sein Leben vor dem Krieg gesprochen hätte. Dennoch schien es ihr – soweit sie sich erinnert – dass er sich trotz allem und immer noch stolz als Deutscher verstand, mehr denn als Jude.
Lillians Mutter Nellie Kramer zog nach dem Tod ihres Mannes Richard in den 1970er Jahren von Michigan nach Kalifornien. Dort lebte sie in einem Apartment mit Pool, wo sie immer ihre Enkel verwöhnte. Sie liebte es zu reisen und besuchte Orte wie Hawaii, Asien, Israel und Afrika. Sie war außerdem in verschiedenen Organisationen tätig und besuchte ihre Familie jeden Freitag Abend zum Shabbat. Sie starb 1989 in North Hollywood im Alter von 94 Jahren.
Walter Kramer, Lillians Bruder, heiratete Else Anne Markus (* 13. August 1921 in Düsseldorf, +3. September 2012 in Michigan). Beide kannten sich bereits aus der Zeit vor dem Krieg in Deutschland, bevor Walter nach Belgien und Anne nach Großbritannien geflohen war. Zusammen bekamen sie zwei Kinder mit den Namen Ruth (* 1956) und Mark (* 1958). Mark hat mittlerweile ebenfalls zwei Kinder, Colette und Owen.
Doch nicht alle Mitglieder der Familie hatten dem Holocaust entkommen können. Lillians Onkel Albert Kramer, der unter Adenauer Stadtdirektor gewesen war, versuchte nach seiner Entlassung so viele Juden wie nur möglich zu überzeugen, aus Deutschland zu flüchten. Er selbst schaffte es aber nicht mehr zu fliehen. Er wurde am 30. Oktober 1941 zusammen mit seiner Ehefrau Irma Kramer (geb. David) in das Ghetto Litzmannstadt deportiert. Er starb dort am 6. Oktober 1942. Seine Frau Irma wurde im Juli oder August 1944 aus dem Ghetto in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort im August 1944 ermordet. Auch Ernst Walter Kramer, der das Geschäft von Lillians Großvater übernommen hatte, gelang die Flucht nicht. Er wurde am 7. Dezember 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet. Richards Vater Bernhard Kramer wurde, inzwischen 87 Jahre alt, in das Sammellager Fort V in Köln Müngersdorf verschleppt. Dort starb er vor der Deportation im Juli 1942, wahrscheinlich aufgrund der unmenschlichen Lebensbedingungen. Was muss es für Richard bedeutet haben, seinen alten Vater bei der Flucht zurücklassen zu müssen?
In den 1950er Jahren hatte Richard Kramer einen Antrag auf Wiedergutmachung für entzogene Vermögenswerte an die zuständigen bundesdeutschen Behörden gestellt. Die zugehörigen Akten bieten uns nicht nur exemplarisch Einblick in ein solches Verfahren. Wir bekommen hier auch interessante Informationen über die Lebenssituation der Eltern in den letzten Monaten vor ihrer Flucht, die sich in Lillians Erinnerung nicht finden.
Die Familie hatte die Reichspogromnacht in Köln erlebt und zumindest unbeschadet an Leib und Leben überstanden; Lillian war kurze Zeit später nach Belgien entkommen. Die Eltern sahen sich aber nun den drastisch verschärften Zwangsmaßnahmen des Regimes ausgesetzt, während sie ihrerseits die Flucht zu bewerkstelligen suchten.
Mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12.11.1938 wurde Juden das Betreiben eines eigenen Geschäfts verboten. Bisher hatte Richard wirtschaftlich wohl noch irgendwie überleben können, jetzt aber musste er seine Tätigkeit einstellen und verfügte spätestens ab diesem Zeitpunkt über kein Einkommen mehr. Am 21.11.1938 folgte die „Durchführungsverordnung über die Sühneleistung der Juden“, mit der ihnen die Kosten des Pogroms, dessen Opfer sie geworden waren, aufgebürdet wurden. Sollten Richard und seine Frau noch ein Vermögen von mehr als 5000 Reichsmark besessen haben, mussten sie davon nun 20% (später erhöht auf 25%) an den Staat abgeben. Ob bzw. inwieweit die Kramers von dieser Maßnahme betroffen waren, ist zur Zeit aber noch unklar.
Mit der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 03.12.1938 mussten Juden nun ihre Sachwerte – Immobilien und Betriebe, Schmuck, Edelmetalle und Kunstwerke – zwangsweise verkaufen; letztere waren bis März 1939 bei staatlichen Ankaufstellen abzuliefern. Davon waren Kramers auf jeden Fall betroffen. Zwar verfügten sie wohl nicht über Immobilienbesitz, aber Schmuck und Familiensilber mussten sie abliefern, und zwar im Leihhaus der Stadt Köln. Es ging um eine goldene Uhrkette, einen Brillantring, einen Topasring, eine Platinhalskette mit Perlen und Silberbesteck für 12 Personen aus 925er Sterlingsilber (mehr als 90 Teile). Behalten durften sie nur ihre Eheringe, eine silberne Uhr und 4 Bestecksätze zum eigenen Gebrauch. Insgesamt lieferten Kramers Wertgegenstände aus Edelmetall im Gewicht von 4200 Gramm ab. Dafür erhielten sie die lächerliche Summe von 180 Reichsmark – schätzungsweise ein Zehntel des tatsächlichen Werts.
Über ihre Bankguthaben und Wertpapiere durften sie nicht mehr frei verfügen, diese mussten auf Sperrkonten transferiert werden und konnten, wenn überhaupt, nur unter hohen Abschlägen ins Ausland überwiesen werden. Mit der Ausreise fielen diese Werte zwangsweise an den Staat. Bei Kramers ging es dabei um ein Guthaben von 530 Reichsmark bei der Commerzbank, um Pfandbriefe und Schatzanweisungen jeweils im Wert von 2000 Reichsmark, die ihnen gestohlen wurden.
Mit dem „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30.04.1939 wurde der Kündigungsschutz für jüdische Mieter gelockert. Viele wurden bereits jetzt aus ihren Wohnungen vertrieben, lange bevor die Gestapo ab Mai 1941 in Köln dazu überging, Juden zwangsweise in so genannten „Ghettohäusern“ zu konzentrieren. Offensichtlich sind auch Richard und Nellie vor ihrer Ausreise noch einmal umgezogen, denn als letzte Adresse wird die Paulistraße 6 in Braunsfeld genannt. Wahrscheinlicher ist aber, dass es sich hier um einen Fehler handelt und dass die beiden in den Pauliplatz 6 zogen – denn dieses Haus gehörte Richards Bruder Albert. Die genauen Gründe kennen wir nicht. Wurden sie aus der Mohrenstraße vertrieben? Hatte sich die wirtschaftliche Lage so verschlechtert, dass sie die Miete nicht mehr zahlen konnten? Oder handelte es sich um einen „Umzug auf Zeit“ als letzten Schritt vor der Auswanderung? Denn die beiden bemühten sich nun, den ihnen verbliebenen Besitz als Grundlage für ein neues Leben ins Ausland zu verschicken.
Guthaben und Wertgegenstände unterlagen den oben beschriebenen Beschränkungen, für die Ausfuhr von Bargeld galt eine Höchstgrenze von 10 Reichsmark. Sonstiges Hab und Gut „durfte“ aber ins Ausland mitgenommen werden. Unbeschränkt war aber nur gebrauchtes bzw. altes Umzugsgut, das für den persönlichen Gebrauch unverzichtbar war. Für Anschaffungen nach dem 01.01.1933 musste die so genannte Dego-Abgabe gezahlt werden, und zwar in Höhe des Neupreises (manchmal sogar darüber).
Dazu war außerdem eine Vielzahl von Formalitäten zu bewältigen: Kramers mussten die Devisenstelle rechtzeitig informieren, Wert und Anschaffungszeitpunkt aller Gegenstände in einem Verzeichnis angeben, alles im Beisein von Zollbeamten in Liftvans (hölzerne Überseekisten für die Verschickung) verpacken lassen und schließlich eine „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ des Finanzamtes besorgen, in der die Zahlung der „Reichsfluchtsteuer“, der „Dego-Abgabe“ und die Erledigung aller anderen Voraussetzungen bestätigt wurde.
Richard konnte das Verzeichnis des Umzugsgutes bewahren – für das spätere Rückerstattungsverfahren sicherlich ein Glücksfall. Auf uns wirkt diese Liste zunächst einmal erschütternd, durch die Akribie oder eher die Kleinlichkeit, mit der hier der gesamte private Besitz zweier Menschen aufgeführt werden musste – von der kompletten Ausstattung mehrerer Zimmer über das Hutschenreuther-Service und Kleidungsstücke jeder Art bis hin zu Putzlappen und Kinderspielen. Penibel war zudem vermerkt, welche Dinge Kramers noch neu hatten anschaffen müssen als Grundlage für ihr neues Leben im Ausland.
All diese Dinge kamen aber nie in den USA an, sie gingen entweder mit dem Schiff in Rotterdam verloren oder wurden von den Besatzungsbehörden beschlagnahmt und versteigert. Kramers müssen also wahrscheinlich nur mit ihrem Handgepäck und 10 Reichsmark in bar auf die Reise gegangen sein.
Aus den Unterlagen ergibt sich, dass die Bemühungen der Kramers bis ins Jahr 1953 zurückreichten; 1958 waren alle Unterlagen beschafft und der Antrag wurde eingereicht, 1960 fiel die Entscheidung des Gerichts. Die Rückerstattung von Geld und Wertpapieren war unproblematisch, sie erfolgte nach allgemeingültigen Umrechenkursen und Kramers erhielten so gut 800 D-Mark. Schwieriger war es bei den Wertgegenständen und dem Umzugsgut. Richard Kramer hatte hier – auf der Basis des geschätzten Wiederbeschaffungswertes in den USA zum Zeitpunkt der Antragstellung – eine Summe von 31650 DM geltend gemacht. Das Gericht akzeptierte dies im Wesentlichen, hatte jedoch Einwendungen. So wurde beispielsweise bemängelt, dass – wenn auch „verständlicherweise“ – keine „genaue Beschreibung nach Gewicht, Alter oder Schliff“ der Schmucksachen vorgelegt werden konnten, dass für Ölgemälde „weder der Maler noch die Darstellung bekannt sind“, oder dass für eine Briefmarkensammlung eine genaue Taxierung aus der Vorkriegszeit nicht nachgewiesen werden konnte. In einer Reihe anderer Fälle hielt man die „angegebenen Werte in mehreren Posten doch [für] wesentlich übersetzt“ (= zu hoch), z.B. für den Kühlschrank oder die Herrenbekleidung, aber auch etwa für ein Arzneischränkchen. Auf der Basis eigener Schätzungen des Wiederbeschaffungswertes in Deutschland sprach das Gericht Richard Kramer schließlich eine Summe von 24500 D-Mark zu.
Es fällt schwer, sich aus heutiger Sicht ein Urteil über diesen Fall zu bilden. Zunächst einmal muss man bedenken, dass es hier nur um die „Wiedergutmachung“ geraubter Werte ging – entzogenes Einkommen, geraubte Bildungschancen, persönliche Einschränkungen waren Gegenstand anderer Verfahren, über die uns noch keine Informationen vorliegen.
Die Entscheidung des Gerichts erfolgte – vergleichsweise – schnell und unproblematisch. Kramers erhielten einen nennenswerten Betrag und ein erheblicher Teil ihrer Forderungen wurde bewilligt (knapp 80%). Das Gericht zeigte Verständnis für die Schwierigkeiten etwa bezüglich der Nachweise, und mindestens in einem Fall ging es in seiner Wertfindung über den Antrag hinaus (bei dem Silberbesteck). Und dass Gerichte unbelegte Ansprüche nicht ohne weiteres akzeptieren, ist grundsätzlich auch nachvollziehbar.
Andererseits ging es in diesem Prozess nicht um einen Autounfall mit Blechschaden. Es ging hier um Menschen, denen ein verbrecherisches Regime alles genommen hatte, die aus ihrer Heimat vertrieben worden waren und fast völlig mittellos ins Ausland hatten fliehen müssen. Sie mussten nun erhebliche Mühen (und wahrscheinlich Kosten) auf sich nehmen, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Das ganze Verfahren erstreckte sich dann doch über mehrere Jahre, und als die Rückerstattung bewilligt wurde, hatten sie sich bereits aus eigener Kraft eine neue Existenz aufgebaut – viel eher hätten sie dieses Geld wahrscheinlich in der Anfangsphase gebraucht.
Manches davon dürfte aufgrund der Umstände wohl nicht anders möglich gewesen sein. Ein schlechter Geschmack bleibt aber vor allem in einer Hinsicht. Kramers waren Opfer des deutschen Staates, und nun mussten sie sich krummlegen, um ihre „berechtigten Ansprüche“ nachzuweisen. Und das in einem Verfahren vor einem deutschen Gericht, in dem im schlimmsten Falle – aufgrnnd der Kontinuitäten gerade in der deutschen Justiz - dieselben Personen beteiligt waren, die schon ihre Ausplünderung durchgeführt hatten (nachweisbar ist dies etwa im Fall von Johannah Rothschild, siehe ihre Biographie in diesem Gedenkbuch). Und vielleicht beruht unser negativer Eindruck auch weniger auf der Entscheidung in der Sache als vielmehr auf manchen Formulierungen in der Urteilsbegründung. „Im übrigen (!) erscheinen die vom Antragsteller (…) angegebenen Werte in mehreren Posten (!) doch (!) wesentlich (!) übersetzt“. Handelt es sich nur um äußerst ungeschickte Formulierungen? Oder wird hier Kramers unterstellt, sich zu Unrecht bereichern zu wollen? Wie mögen solche Formulierungen auf die Betroffenen gewirkt haben?
Dass - zumindest in der Sache, in unseren Augen und im Vergleich zu anderen - die Rückerstattung einigermaßen zufriedenstellend erfolgt sein könnte, dürfte vor allem auch daran liegen, dass Kramers entsprechende Nachweise vorlegen konnten. Wie mag es gewesen sein in Fällen, in denen solche Nachweise nicht erbracht werden konnten, vielleicht sogar Nachkommen nichts Genaues mehr über den Besitz ihrer ermordeten Angehörigen wussten?
Im Jahr 1956 kehrte Lillian das erste Mal zurück nach Deutschland. Sie hatte – so berichtet sie im Interview - einen Scheck von der Deutschen Regierung als Reparationszahlung für den Verlust an Bildung im Wert von 3.000 DM (5.000 Dollar) erhalten. Von diesem Geld reiste sie nach Europa. Eine solche Zahlung im Zuge eines Wiedergutmachungsverfahrens ist durchaus möglich, genauere Informationen dazu liegen uns allerdings noch nicht vor. Unsicherheiten bestehen zunächst einmal bei den angegebenen Summen, denn zu diesem Zeitpunkt lag der Wert des Dollars viel höher, etwa bei 4,20 DM. Vielleicht stoßen wir hier doch auf eine der kleinen Ungenauigkeiten, wie sie in Zeitzeugeninterviews häufig anzutreffen sind.
In Brüssel wollte sie ihre ehemalige Pflegefamilie besuchen und ging zu dem Geschäft der Pflegeeltern. Die neuen Eigentümer waren Verwandte der Pflegefamilie, die ebenfalls aus Russland geflohen waren, zunächst nach Argentinien, und die nach dem Krieg nach Belgien gekommen waren, um das Geschäft zu übernehmen. Sie berichteten, dass der größte Teil ihrer Pflegefamilie nicht überlebt hatte. Sie hatten versucht nach Frankreich zu flüchten, wurden jedoch gefasst. Leon Vorobeitchick und seine Tochter überlebten nicht.
In Köln besuchte sie ihre alten Wohnhäuser, die beide noch erhalten waren. Es sah noch so aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Doch in ihr Reisetagebuch schrieb sie: „At the time I was very mad at the Germans and I was very happy to see everything in ruins“ („Zu dieser Zeit war ich sehr wütend auf die Deutschen, weshalb es mich froh machte, alles in Trümmern liegen zu sehen“).
1996 reiste sie ein zweites Mal zusammen mit ihrem Mann nach Köln. Allerdings sah nichts mehr so aus wie zuvor. Die Wohnhäuser waren neu errichtet und sahen verändert aus.
Lillians Tochter Judy berichtet, dass ihre Mutter sehr wenig über ihre Vergangenheit erzählt habe. Lillian mochte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen, und zog die Aufmerksamkeit ungern auf sich selbst. Vielleicht habe sie das meiste auch verdrängt, denn sie akzeptierte die Dinge, insbesondere dann, wenn sie sie nicht ändern konnte. Ihr Wunsch war es immer „for those around her to be happy and healthy“.
Ein weiterer Grund, den Judy nennt, warum Lillian nicht viel von ihrer Vergangenheit mit ihren Töchtern geteilt hat, habe mit einem Gefühl der Konkurrenz in Bezug auf ihren Ehemann Gabriel zu tun. Seine Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust waren laut Lillian traumatischer als ihre eigenen.
Doch die Erfahrungen der nationalsozialistischen Verfolgung sind sicherlich auch nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Lillian wurde – von den Demütigungen im Alltag ganz abgesehen - aus ihrer Schule vertrieben, sie musste mit 13 Jahren allein ins Ausland fliehen, ohne Gewissheit, ihre Familie wiederzusehen. Die Familie verlor Besitz, Geschäft und Zukunftsperspektiven, Freunde, soziales Umfeld und auch Familienmitglieder, sie verlor die Heimat und ihre deutsche Identität.
Allerdings berichtet Lillian am Ende ihres Interviews bei der "Survivors of the Shoah Visual History Foundation", dass sie extrem glücklich sei, dass ein Großteil ihrer Familie habe fliehen können. Und ihre Tochter Judy bestätigt, dass ihre Mutter letzten Endes und im Vergleich zu anderen Glück gehabt habe – dass sie aus Deutschland entkommen konnte, dann auch aus Belgien, bevor der Krieg kam, dass sie mit ihrer Familie wieder vereint wurde, dass sie sich in den USA ein neues Leben aufbauen konnte – und zwar ein glückliches und erfolgreiches Leben.
Aus ihren Erfahrungen mit dem Holocaust hinterlässt Lillian den nachwachsenden Generationen folgende mahnenden Worte:
„They should take it as a warning to try not let that kind of thing happen, to do all they can to teach their children and maybe their friends and others to be kind to each other and not to have prejudice.”
“Sie sollten es als Warnung verstehen, so etwas nicht zuzulassen und alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihren Kindern und vielleicht auch ihren Freunden und anderen beizubringen, lieb zueinander zu sein und keine Vorurteile zu haben.”
An dieser Stelle möchte ich mich bei den Personen bedanken, ohne deren Unterstützung und Hilfe diese Biographie nicht hätte entstehen können.
Ich bedanke mich bei Judy Lichtman und ihrer Schwester, den Töchtern von Lillian, für die privaten Fotos und vielen hilfreichen Informationen. Vielen Dank, dass ihr alle meine Fragen so gut wie möglich beantwortet habt. Ohne Eure Offenheit und Unterstützung wäre es mir nicht möglich gewesen, eine solch detaillierte Biographie zu schreiben.
Außerdem bedanke ich mich bei Mark Kramer, dem Neffen von Lillian, der mir den Kontakt zu den Töchtern vermittelt und mir mit vielen Informationen weitergeholfen hat. Er hat mir Zugriff auf das Zeitzeugeninterview von Lillian verschafft und mir somit ermöglicht, mit einer derart außergewöhnlichen Quelle arbeiten zu können. Mit Hilfe des Interviews gelang es mir, so viel wie nur möglich über Lillians Lebensgeschichte und ihre Persönlichkeit herauszufinden und diese Biographie zu verfassen.
Ein großer Dank gebührt ebenfalls Adrian Stellmacher von der Arbeitsgruppe des Lern- und Gedenkorts Jawne. Er konnte mir viele Informationen zu den Kindertransporten nach Belgien und Lillians Lebensabschnitt in Brüssel liefern. Ebenso bedanke ich mich bei Birte Klarzyk vom NS Dokumentationszentrum. Mit ihrer Hilfe konnte ich viel über Lillian und Nellie erfahren und auf viele meiner Fragen eine Antwort finden. Ein weiterer Dank gebührt Ellen Bach vom BADV, die mir den Zugriff auf die Dokumente aus dem Rückerstattungsverfahren der Familie Kramer ermöglichte. Zuletzt bedanke ich mich bei Silke David. Sie konnte mir Auskunft über die Schulzeit von Albert und Walter Kramer auf dem Gymnasium Kreuzgasse geben.