Ingelore und Gisela Silberbach
von Anna Eith
Der Horror, der ab 1933 in Deutschland seinen Lauf nahm, ist uns allen wahrscheinlich bestens bekannt, wird doch in Deutschland mit Hilfe von Aufklärung über den Schrecken des Nationalsozialismus darauf abgezielt, dass sich diese oder ähnliche Grausamkeiten nie mehr wiederholen. Dabei reicht es jedoch nicht, sich Abläufe und Zahlen anzusehen. Jeder einzelne Mensch, der unter dem Regime der Nationalsozialisten gelitten hat und Opfer dieser Ideologie wurde, hat es verdient, dass man sich an ihn erinnert. Denn dies ist das Einzige, was wir noch für die Opfer tun können.
Gerade weil die Verbrechen und der Horror des Nationalsozialismus nie mehr und in keiner Weise wieder gutzumachen sind, ist es umso wichtiger, dass die Geschichten und Schicksale der Opfer nicht in Vergessenheit geraten. Dies sind wir ihnen aus Respekt schuldig - und als Sicherheit, dass sich solche Vorkommnisse nie wieder wiederholen. Eines dieser Opfer war Ingelore Silberbach.
Im Projektkurs der Königin Luise Schule (KLS) haben wir uns mit dem Schicksal einer ehemaligen Klasse aus der Zeit des Nationalsozialismus genauer befasst. Neben generelleren Projektarbeiten anderer Schüler, etwa zum Thema Kindertransporte, beinhaltet dieses Projekt auch Arbeiten über das Leben und Schicksal konkreter Einzelpersonen, und zwar von vier jüdischen Klassenkameradinnen, die zwischen 1935 und 1938 die KLS besuchten. Ich habe mit mehreren weiteren Schülerinnen jene Aufgabe übernommen.
Diese Arbeit hat sich für mich nicht nur zu einer schulischen Ausarbeitung, sondern zu einer einzigartigen Erfahrung entwickelt. Die Auswahl eines Mädchens für meine persönliche Projektarbeit fand zuerst willkürlich statt, da uns über keines der Mädchen etwas bekannt war. Ich entschied mich, über das Schicksal von Ingelore Silberbach zu forschen, ohne auch nur das Geringste über sie und ihr Leben zu wissen. Mit der Zeit kamen immer detailliertere und persönlichere Informationen ans Licht, wodurch ich mich dem Mädchen immer verbundener fühlte. Als ich schließlich, ganz unerwartet im Urlaub, Kontakt zu einer ihrer Töchter herstellen konnte, war dies ein besonders tolles Erlebnis und hat mich persönlich sehr berührt.
Der Stammbaum der Familie Silberbach lässt sich relativ weit zurückverfolgen. So sind etwa Familienangehöre bis ins 18. Jahrhundert bekannt. Auffällig dabei ist, dass Ingelores Eltern entfernte Verwandte voneinander gewesen zu sein scheinen, daher brachten auch beide in die Ehe den Nachnamen Silberbach ein.
Die Familie mütterlicherseits stammte ursprünglich aus Schötmar (Bad Salzuflen) in Nordrhein-Westfalen, da bereits Ingelores Ur-Ur-Großvater dort geboren wurde. Ingelores Großeltern väterlicherseits scheinen jedoch irgendwann vor der Geburt ihres Sohnes die etwa 200 Kilometer Entfernung nach Köln gezogen zu sein. Daher wurden Ingelore und ihre Schwester auch dort geboren.
Ingelore Silberbach wurde am 26.06.1925 im Haus der Familie in Köln-Marienburg geboren. Ihre Schwester Gisela (* 20.04.1922 in Köln) war drei Jahre älter als sie. Ihre Mutter, Margarete Silberbach, wurde am 31. März 1895 in Schötmar geboren und war also bei Ingelores Geburt 30 Jahre alt. Ingelores und Giselas Vater Paul wurde ebenfalls 1895 geboren und hatte während des Ersten Weltkrieges an der Front gekämpft. Seine Eltern waren Hugo Nathan Silberbach (* 1866 in Salzuflen) und Sibylla Hertz Silberbach.
Ingelores Großeltern väterlicherseits lebten ebenfalls in Köln und wohnten mit Ingelore, ihren Eltern und ihrer älteren Schwester zusammen. Ihr Großvater starb am 15.04. 1931 im Haus der Familie und wurde auf dem jüdischen Friedhof Köln Bocklemünd beerdigt. Danach lebte nur noch Ingelores und Giselas Großmutter mit der Familie zusammen.
Ingelores Großeltern mütterlicherseits waren Siegfried Silberbach und Bertha Bach Silberbach. Siegfried wurde 1884 geboren und starb am 10.09.1935 in Schötmar. Ingelores Großmutter wurde am 10. Januar 1857 geboren und starb am 04.05.1939 im Alter von 82 Jahren ebenfalls in Schötmar. Sie wurden beide auf dem jüdischen Friedhof Bad Salzuflen in Schötmar bestattet. Ingelores Urgroßeltern mütterlicherseits hießen Salomon und Emilie. Ebenfalls in Schötmar lebte Vernon Katz, ein Cousin Ingelores, der später mit Hilfe eines Kindertransportes nach England flüchtete, wo er bis heute lebt.
Ingelore und ihre gesamte Familie gehörten der jüdischen Religionsgemeinschaft an. Wie ausgeprägt ihre religiöse Identität war, wissen wir nicht. Aus Giselas Tagebuch, das uns in Auszügen vorliegt, scheint sich zu ergeben, dass sie sich durchaus mit religiösen Fragen beschäftigte – falls dies nicht erst eine Reaktion auf die politischen Veränderungen und den äußeren Druck war. Die Familie gehörte aber sicher dem liberalen Teil der jüdischen Gemeinde Kölns an, der eine ausgeprägte nationale Identität besaß. Das sicherste Zeichen dafür dürfte sein, dass beide Töchter nicht-jüdische Schulen besuchten.
Als Ingelore 1925 geboren wurde, lebten ihre Eltern mit Ingelores drei Jahre älterer Schwester Gisela und ihren Großeltern väterlicherseits in einem Haus in der Godesberger Straße 8 im Stadtteil Köln-Marienburg.
Ihr Vater war Geschäftsinhaber der Firma Silberbach & Cie und handelte in der Liebigstraße 120A in Köln-Ehrenfeld mit Därmen, Fleisch und Fettwaren. Dieses Geschäft hatte er von seinem Vater, Ingelores Großvater, übernommen. Das Geschäft schien so gut zu laufen und die Familie war so wohlhabend, dass Ingelores Mutter Margarete (Grete) nicht selber arbeitete. Sie lebten in einem der wohlhabenderen Viertel Kölns. Die Familie engagierte eine Köchin, um die Kinder kümmerte sich jedoch, obwohl Ingelores Mutter nicht arbeitete, ein Kindermädchen. Nach der Flucht nach Amerika arbeiteten sowohl Grete als auch ihr Mann jedoch extrem hart, um ihre Familie zu unterstützen.
Über Ingelores Grundschulzeit ist nur wenig bekannt. Es ist jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sie wohl die (evangelische) Elementarschule in der Caesarstraße in Bayenthal besuchte. Sie wird dort wohl 1931 eingeschult worden sein. Auf jeden Fall scheint sie aber die Grundschule besucht zu haben, auf die auch ihre Schwester Gisela ging, denn es gibt ein gemeinsames Foto von einem Schulausflug.
Nach vier Jahren Grundschule wurde Ingelore wahrscheinlich zu Ostern 1935 auf der KLS eingeschult, die zu dieser Zeit noch eine reine Mädchenschule war. Dort finden wir sie in einer Zeugnisliste des Schuljahres 1936/37 in der Quinta (heute Jahrgangsstufe 6).
Zu dieser Zeit waren manche anderen Schulen bereits “judenfrei” – dort hatte man die jüdischen Kinder bereits vollständig oder weitgehend vertrieben und nahm keine jüdischen Schüler und Schülerinnen mehr auf. An der KLS traf dies nicht zu. Die Stimmung gegenüber jüdischen Schülerinnen an unserer Schule zu dieser Zeit ist schwer nachzuvollziehen, da es keine hundertprozentig verlässlichen Aussagen hierzu gibt. Mittlerweile gibt es aber – mit aller Vorsicht gesagt - aufgrund von mehreren Aussagen ehemaliger Schülerinnen Indizien dafür, dass während der entsprechenden Zeit eine verhältnismäßig menschliche Einstellung gegenüber den jüdischen Schülerinnen herrschte und ein entsprechendes Schulklima.
Ingelore ging nach ihrer Einschulung 1935 mit drei anderen jüdischen Mädchen in eine Klasse. Dies waren Hilde Edith Levi, Hannelore Bier und Lieselotte Kramer. Mit Lieselotte Kramer schien Ingelore sogar eine engere Freundschaft zu pflegen, denn es existieren mehrere Bilder aus ihrer gemeinsamen Freizeit: etwa, wie sie zusammen im Königsforst auf einem Felsen klettern, oder auf einem Tennisplatz.
Lieselotte Kramer und Hilde Edith Levi sind es auch, die uns in ihren Erinnerungen den Eindruck vermitteln, dass das Schulklima an der KLS auch für jüdische Mädchen zumindest erträglich war (siehe dazu ihre Biographien in diesem Gedenkbuch). Und Hilde Edith Levi gibt uns sogar eine Beschreibung von Ingelore:
„Ingelore Silberbach war ein großes, gut gebautes Mädchen. Sie hatte ein ovales Gesicht, fröhliche blaue Augen, hellbraunes lockiges Haar und Grübchen in den Wangen. Sie war immer fröhlich mit einem offenen Lächeln.“ Betrachtet man Fotos von Ingelore aus dieser Zeit, erscheint diese Beschreibung sehr zutreffend, obwohl Ingelore tatsächlich eigentlich grün-braune Augen hatte.
Ingelore scheint sich jedoch auch gut mit dem Rest ihrer Mitschülerinnen vertragen zu haben. Es finden sich beispielsweise auf ihrem Zeugnis keine Vermerke zu auffälligem Verhalten.
Ingelores Schwester Gisela ging nicht auf die städtische KLS, sondern besuchte eine private Schule: das Lyzeum der evangelischen Gemeinde in der Antoniterstraße 8, wo sie zu Ostern 1931 eingeschult wurde. Hier scheint die Stimmung ab 1933 jedoch sehr viel schlechter gewesen zu sein. So berichten Zeitzeuginnen von antisemitischen Übergriffen und Diskriminierungen (z.B. Anny Adler oder Dorothee Isaac). Zudem hatten 1935 – zum Zeitpunkt von Ingelores Wechsel auf die höhere Schule – die meisten jüdischen Mädchen die Antoniterschule bereits verlassen (müssen). Vielleicht erklärt dies, wieso Ingelore entgegen der sonst üblichen Praxis nicht ebenfalls auf diese Schule geschickt wurde.
Aus Giselas Tagebuch erfahren wir ansatzweise, in welche inneren Konflikte religiöser und nationaler Art sie durch die politischen Veränderungen gestürzt wurde. Über das alterstypische Ringen mit der eigenen Persönlichkeit hinaus beschäftigten sie Fragen der religiösen und nationalen Identität zwischen ihrem Selbstverständnis als Jüdin und als Deutsche. Sie war Mitglied im jüdischen Jugendbund „Schwarzes Fähnlein“, wechselte von dort in den „Bund Deutsch-Jüdischer Jugend“, scheint aber auch aus diesem wieder ausgetreten zu sein. Bereits Ende 1935 grübelte sie über die Frage, ob sie das Land verlassen wolle – wobei dies wohl keinen zionistischen Hintergrund hatte. Letztendlich blieb sie aber in Köln und auf der Antoniterschule, und zwar bis zum erfolgreichen Abschluss der Untersekunda (10. Klasse) zu Ostern 1937, mit dem sie auch die Mitttlere Reife erreichte. Unmittelbar darauf wechselte sie auf eigenen Wunsch auf ein Internat in England. Sie ging nun in Hamilton House, Tunbridge Wells zur Schule. In den Ferien kam sie mehrfach zu Besuch zurück nach Köln – auf der letzten Rückfahrt 1938 wurde sie allerdings an der Grenze kurzfristig verhaftet, ohne dass wir die Gründe kennen, konnte ihre Reise aber bald fortsetzen.
Ingelore dagegen blieb auf der KLS bis Ostern 1938. Laut einer Zeugnisliste von 1937/38 wurde sie zu diesem Zeitpunkt mit Noten im Bereich von 1 bis 3 ohne Einschränkungen in die Untertertia versetzt (heute Jahrgangsstufe 8). Uns liegen aus diesen Jahren die Bemerkungen ihrer Lehrer aus den Zeugniskonferenzen vor. Hier wurden ihre Leistungen durchweg als zufriedenstellend und erfreulich beschrieben, ihr Wesen als lebhaft, begabt und anteilnehmend – aber bisweilen auch als vorlaut und oft störend. Generell wich ihr Zeugnis in der Beschreibung ihrer Leistungen und Persönlichkeit nicht auffällig von dem nicht-jüdischer Schülerinnen ab. Im Gesamtbild wird sie meiner Meinung nach wie ein ganz normales lebensfrohes Mädchen beschrieben.
Das Ende der Schulzeit an der KLS kam Ostern 1938 – ohne Vorwarnung und nicht freiwillig. Bis dahin besuchten noch insgesamt 13 Mädchen jüdischer Konfession die Schule – angesichts dieses späten Zeitpunkts eine vergleichsweise sehr hohe Zahl. Zu Beginn des neuen Schuljahres jedoch scheinen sie alle auf einen Schlag entlassen worden zu sein, denn im Schuljahr 1938/39 sind überhaupt keine jüdischen Mädchen mehr an der KLS bezeugt. Lieselotte Kramer berichtet von einem Brief – freundlich im Ton, aber dennoch unmissverständlich – in dem die Entlassung mitgeteilt wurde. Und der Vater von Hilde Edith versuchte in einem persönlichen Gespräch diese Entscheidung zu revidieren – aber ohne Erfolg (siehe auch dazu die Biographien hier im Gedenkbuch). Die Gründe für diese Entlassung sind uns unbekannt, einen gesetzlichen Zwang dürfte es aber (anders als nach der Reichspogromnacht) noch nicht gegeben haben.
Ingelore wechselte nun auf die Jawne, das jüdische Gymnasium in unmittelbarer Nähe zur KLS. Dies ergibt sich aus ihrem Poesiealbum, in dem sich alle ihre Mitschülerinnen gemeinsam als Klasse verewigt haben.
Auf diesen Seiten finden wir auch die Namen ihrer Klassenkameradinnen von der KLS – Hannelore Bier, Hilde Edith Levi und Lieselotte Kramer – auch sie waren also zum selben Zeitpunkt auf die Jawne gewechselt.
Die neue Klassengemeinschaft fiel allerdings schnell auseinander, denn alle versuchten nun ins Ausland zu entkommen. Ingelore war die erste aus der ehemaligen KLS-Klasse, der dies gelang: Am 21. September 1938 wechselte sie auf das Internat in England, das bereits ihre Schwester besuchte.
Ingelore blieb damit das Schockerlebnis der „Reichspogromnacht“ erspart – ihre Eltern allerdings mussten diesen Gewaltexzess miterleben. Unter dem Eindruck dieser Geschehnissen flohen jedoch auch sie, am 10. November 1938, noch in der Nacht der Novemberpogrome, zusammen mit der Mutter des Vaters. Zuvor hatte sich Paul Silberbach bereits versteckt gehalten. Als abends die SA an der Haustür des Wohnhauses der Silberbachs klopfte, erzählte Ingelores Großmutter ihnen, ihr Sohn sei nicht zuhause und würde erst sehr spät nachts wiederkommen, würde sich aber am nächsten Morgen bei ihnen melden. Stattdessen nahm die Familie jedoch ihre Koffer und Wertgegenstände und flüchtete noch in der gleichen Nacht.
Dieser Schritt scheint Ingelores Eltern nicht leicht gefallen zu sein. Sie fühlten sich als Deutsche, Deutschland war ihre Heimat. Ingelores Vater hatte im Weltkrieg an der Front gekämpft, hatte seine Gesundheit und sein Leben für seine Heimat riskiert. Beide Töchter hatten sie nicht auf die jüdische Jawne, sondern auf christliche bzw. städtische Schulen geschickt. Und trotz aller Diskriminierungen hatten sich die Eltern bis Ende 1938 noch nicht zur Ausreise durchringen können.
Immerhin hatten sie – wenn auch „widerwillig“, wie es heißt – die nötigen Vorbereitungen getroffen. Affidavits für die Einreise in die USA waren gestellt, die Visa waren vorhanden, Flugtickets lagen bereit und ihr Gold hatten sie zuvor zu Schmuck verarbeiten lassen, nachdem besonders Gisela darauf bestanden hatte, falls nötig sofort zu fliehen. Das war ihr großes Glück, denn hätten sie sich erst jetzt um eine Ausreiseerlaubnis (oder vielmehr um eine Einreiseerlaubnis im Ausland) bemüht, wäre es wohl zu spät gewesen – so wie bei den Eltern von Hilde Edith Levi und Hannelore Bier, die nicht mehr entkommen konnten.
Nachdem der eigentliche Plan, ein Flugzeug am Flughafen zu nehmen, gescheitert war, da alle Flüge aufgrund von Nebel abgesagt waren, flohen die drei per Zug über die Grenze in die Niederlande. Hierzu bezahlten sie Schmuggler mit Pelzmänteln und Schmuck. Damit umgingen sie wohl die offizielle, behördllich genehmigte Ausreise und damit den Zwang, die Reichsfluchtsteuer zu bezahlen, die sie vermutlich ihren gesamten Besitz gekostet hätte.
So gelang Paul und Margarete Silberbach die Flucht in die USA, und sie konnten mit Unterstützung ihrer Verwandten nach Chicago ziehen. Dort fanden sie Arbeit. Die Familie glaubte daran, dass die Töchter im Internat sicher aufgehoben waren.
Ingelore verbrachte die Zeit vom 21. September 1938 bis zum 28. August 1939 zusammen mit ihrer Schwester in England. Dabei gingen sie dort bis einen Monat vor ihrer Abreise noch zur Schule. Noch vom Dezember 1938 bis Januar 1939 unternahmen die beiden Schwestern sogar eine Urlaubsreise nach Paris. Dort besuchten sie unter anderem ein Konzert und Ingelore ließ sich die Haare zu einer modischen Kurzhaarfrisur schneiden. Die abgeschnittenen Zöpfe schickte sie provokant an ihren Vater, welcher diese immer sehr hübsch gefunden hatte. Die Auswanderung scheint ihnen also einen verhältnismäßig normalen Alltag und sogar kleine Ferienreisen ermöglicht zu haben.
Am 23. August 1939 verließ das Schiff „SS American Importer“ den Hafen von Liverpool in England und sammelte in Southhampton die Schwestern Ingelore und Gisela ein, die mit anderen Flüchtlingen aus England flohen, um dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu entkommen. Da am 3. September 1939 Großbritannien Deutschland den Krieg erklärte, bestand der Verdacht, dass der Hafen von deutschen Agenten vermint worden sein könnte, weswegen das Schiff vorübergehend zurückkehren musste. Die „American Importer“ war eines der letzten Schiffe, welches auf einer solchen Fahrt Passagiere und Flüchtlinge von England nach Amerika brachte.
Ingelore war zu dieser Zeit 14, ihre ältere Schwester 17 Jahre alt. Sie haben die Reise ganz alleine unternommen, was in diesem Alter wahrscheinlich eine beängstigende Erfahrung war. Ihre Eltern wurden jedoch von der Besatzung des Schiffs und später vom „National Council of Jewish Women“ über die einzelnen Schritte der Reise ihrer Töchter informiert. Das Schiff erreichte New York am 6. September 1939. Ingelore und ihre Schwester konnten für eine Nacht bei bei einem Bekannten der Familie in der 667 W. 177th Street, New York, unterkommen, bevor sie sich am 7. September auf den Weg zu ihren Eltern nach Chicago machten mit Zwischenstopp in Englewood.
Ihre Familie wurde auch jetzt regelmäßig durch Telegramme über den Reisefortschritt informiert.
In Chicago setzte Ingelore ihre Schullaufbahn fort. Dort besuchte sie die South Shore High School. Die neue Sprache und neue Umgebung scheinen sie nicht sonderlich beeinflusst zu haben, denn sie wurde 1941 für ihr großes Engagement an der Schule ausgezeichnet und erhielt 1942 eine Mitgliedschaft in der “National Honor Society” - die höchstmögliche Auszeichnung für einen Schüler.
Trotz dieser herausragenden Leistungen als Schülerin besuchte Ingelore nie ein College. Stattdessen begann sie fast sofort nach ihrem Abschluss an der High School, im Jahr 1942, als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Professor E. Guzman Barron an der Universität von Chicago zu arbeiten. Um diesen Job zu erhalten, stellte sie sich älter dar, als sie tatsächlich war, und übertrieb sogar ihre Arbeitserfahrungen. Bei Professor Barron war sie ein Jahr lang an einem Projekt beteiligt, von dem sie später erfuhr, dass es das Manhattan Project war, bei dem die erste Atombombe entwickelt wurde. Sie arbeitete dort bis 1947.
1945 starb Ingelores Großmutter Sibylla im Alter von 79 Jahren. Im Jahr 1946 wurde Ingelore, die zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt war, in 7731 Kingston Ave in Chicago lebte und sich nun schon etwa 7 Jahre in den USA befand, offiziell eingebürgert.
Im Herbst 1947 zog Ingelore nach Pasadena und begann dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Professor Henry Borsook am kalifornischen Institut für Technik, kurz Caltech, zu arbeiten. Ihr neuer Arbeitsgeber war ein Freund ihres bisherigen Chefs Professor Barton. Sie wohnte dort zusammen mit Jean Marshall Campbell, die wissenschaftliche Assistentin des Molekularbiologen James Bonner war.
Im jüdischen Tempel Pasadenas lernte sie Robert (Bob) Melvin (* 13. 02.1924 in Pasadena) kennen. Beide begannen eine Beziehung und heirateten im November1948.
Von 1949 bis 1963 wohnten sie unter der Adresse Concha Street. Sie waren beide Mitglieder der demokratischen Partei. Innerhalb der nächsten 10 Jahre zogen sie nur einmal um, und zwar 1964 nach 3065 E California Blvd. Sie blieben jedoch in Pasadena. Am 1. Februar 1950 bekamen Ingelore und Robert ihr erstes Kind, Pamela Ann Melvin, in Monterey Park, Kalifornien. Zwei Jahre später, am 15. Dezember 1953, folgte die zweite Tochter, Terry Lynn Melvin. Terry wurde im St. Luke Hospital,Pasadena geboren.
Nachdem Ingelore sich, als sie Mutter wurde, eine mehrjährige Auszeit von ihrer Arbeit genommen hatte, begann sie wieder zu arbeiten. Um 1958 engagierte sie ein Kindermädchen, um auf ihre jüngere Tochter aufzupassen, und begann wieder bei Caltech zu arbeiten, dieses Mal, um unter Professor James Bonner an einem Projekt zu forschen. Anfang 1963 stellte Professor Bonner Ingelore als seine Laborleiterin ein. In diesem Jahr leitete sie ein Labor bestehend aus rund 25 Doktoranden, Postdoktoranden und weiteren Mitarbeiter.
Im August 1967 ließ sich Ingelore auf eigenen Wunsch von ihrem damaligen Ehemann Robert Melvin scheiden und begann eine Beziehung mit ihrem Vorgesetzten James Bonner. Dieser hatte sich ebenfalls frisch von seiner Frau scheiden lassen und brachte genau wie Ingelore zwei Kinder aus seiner früheren Ehe mit in die Beziehung ein. 1968 zogen sie in die 3119 Mesaloa Lane, Pasadena.
James Bonners jüngeres Kind José (* 1. Mai 1950) und Ingelores ältere Tochter Pamela besuchten beide die University of California, Berkeley. Auch James‘ ältestes Kind, seine Tochter Joey (* 10. Juni 1948), wohnte nicht mehr mit ihrem Vater zusammen, sondern studierte an der Berkeley University.
Terry blieb damit als einziges Kind bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Am 1. November 1968 heirateten Ingelore und James in San Francisco. Daraufhin wurde Terry, die als einziges Kind noch zuhause lebte, aufs Internat geschickt. Von 1969 bis 1970 ging sie in Frankreich zur Schule.
Gisela Silberbach erhielt im Jahr 1944 ihre offizielle Einbürgerung. Bereits im Jahr zuvor hatte sie den Radiologen Dr. Walter Mendel geheiratet, der ebenfalls aus Köln stammte. 1947 bekamen sie die Zwillinge Stephen und Ralph. Die Ehe wurde allerdings im Jahr 1954 geschieden. In der Zwischenzeit hatte Gisela eine erfolgreiche akademische Karriere gestartet, die sie nun als alleinerziehende Mutter fortsetzte. So hatte sie 1953 ihren Abschluss in Psychologie und Geschichte an der University of Memphis gemacht, 1955 folgte der Master of Arts, 1962 die Promotion in Psychologie an der University of Chicago.
1963 heiratete sie Elias Booth. Aus Protest gegen den Vietnamkrieg lebte das Ehepaar von 1972 bis 1975 in Großbritannien; Gisela lehrte dort an der University of London. Nach ihrer Rückkehr in die USA gründeten beide die International Music Foundation, 1981 eröffnete Gisela eine psychoanalytische Praxis in Chicago. 1991 unternahm Gisela mit ihren Söhnen Stephen und Ralph eine Deutschlandreise und besuchte insbesondere Köln, den Ort ihrer Kindheit, und Schötmar, die Heimat ihrer Familie.
Ingelore und Gisela konnten Europa vor Ausbruch des 2. Weltkrieges verlassen, sie und ihre Eltern sind dem Holocaust entkommen und haben überlebt. Damit scheinen sie uns ein weniger schlimmes Schicksal erlitten zu haben als andere Schülerinnen der KLS – etwa Hilde Edith Levi und Hannelore Bier, die ihre Eltern verloren, oder gar Elsie Berg, die ermordet wurde.
Dennoch haben die Erlebnisse tiefe Spuren hinterlassen, wie sich in späterer Zeit zeigte. Im Dezember 1994 wurde bei Ingelore Leukämie diagnostiziert. Im Februar 1995 ließ sie sich von ihrer Krankenschwester überzeugen, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie stimmte zwar sechs Sitzungen zu, jedoch nur unter der Bedingung, dass keine Fragen über ihre Kindheit und Erfahrungen als Überlebende des Holocaust gestellt würden, sondern dass sich die Behandlung ausschließlich auf ihre Diagnose beziehen sollte. Ingelore war generell, laut ihren Töchtern, eine sehr private und verschlossene Person, besonders was ihre deutsche Vergangenheit anging.
Gisela Silberbach verhielt sich anders: Sie begab sich als Teil ihrer Ausbildung zur Psychologin selber in psychologische Behandlung und behielt diese Angewohnheit auch im hohen Alter noch bei. Zudem wurde sie selbst Kinderpsychologin. Diese Arbeit beinhaltete es, Kinder mit Traumata zu unterstützen.
Ihr Sohn Stephen erklärt jedoch, dies habe nichts mit dem Holocaust zu tun gehabt und sich ebenfalls nicht auf ihre Erfahrungen als Geflüchtete bezogen. Gisela habe sich auch nie als Überlebende des Holocaust angesehen, sondern diese Bezeichnung den Überlebenden der Konzentrationslager vorbehalten. Sie war ihrer Meinung jemand, die vor Hitler und religiöser Verfolgung geflohen sei. Damit wollte sie die noch grausameren Geschichten anderer nicht schmälern.
Ingelore dagegen ging auf ihre eigene Weise mit den Erinnerungen und Erfahrungen um. So beantwortete sie laut einer Kindheitserinnerung ihrer jüngeren Tochter Terry etwa die Frage nach der Herkunft ihres Akzents nicht und nahm erleichtert den Vorschlag, ob sie aus den Niederlanden stamme, an. Ihre Erklärung für dieses Verhalten war, dass sie keine Fragen über ihre Vergangenheit gestellt bekommen wollte.
Wie viele andere Juden, die vor dem Weltkrieg nach Amerika flohen, war auch Ingelore besorgt, dort erneut von Antisemitismus betroffen zu sein. Aus diesem Grund wechselten viele Familien ihren Nachnamen, damit dieser sich weniger jüdisch anhörte. Auch die Großeltern väterlicherseits von Terry und Pamela wechselten ihren Nachnamen von Mandelbaum zu Melvin. Da Ingelores Töchter Terry und Pamela dieser geänderte Name jedoch aus verschiedenen Gründen nicht gefiel, unter anderem auch, da sie keinen Bezug zu ihrer Familie und Herkunft sahen, änderten sie diesen wieder. Terry und später auch Pamela änderten ihren Nachnamen von Melvin zu Mandel, einer gekürzten Form von Mandelbaum.
Ingelore schien sich mit der Änderung zu Mandelbaum nämlich nicht wohlzufühlen, da es jüdisch zu klingen schien. Die Kürzung war also eine Art Zugeständnis der beiden Töchter an ihre Mutter und ihre Erfahrungen mit Diskriminierung und Antisemitismus.
Von Dezember 1994 bis September 1995 unterzog sich Ingelore schließlich drei Chemotherapien, um eine kleine Verbesserung ihres Krankheitsbilds zu erreichen. Ihre Töchter Pam und Terry, ihr Neffe Stephen und seine Frau Emily, Stiefsohn Jose und seine Frau Monica besuchten sie zeitweise von ihren jeweiligen Häusern in Virginia, Nordkalifornien und Indiana aus, um ihrer Mutter, Tante und Stiefmutter zu helfen.
Terrys regelmäßige Besuche, um sich in den letzten neun Monaten des Lebens ihrer Mutter persönlich um sie zu kümmern, ermöglichten den beiden, ein bisher immer schwieriges Mutter–Tochter-Verhältnis im Wesentlichen zu heilen.
Am 3. September 1995 starb Ingelore an ihrer Krankheit, umgeben von ihren Angehörigen in ihrem Zuhause in 1914 Edgewood Drive, South Pasadena, California, USA. Gisela starb am 17. April 2014, wenige Tage vor ihrem 92. Geburtstag.
Auch über das Schicksal von Ingelores Familie in Schötmar ist einiges bekannt. So wurden ihr Onkel Hermann und Walter, ein Cousin ihrer Mutter, am Tag nach der Reichspogromnacht in das KZ Buchenwald deportiert. Laut Hermanns Sohn Vernon Katz und seinen Memoiren The Blue Salon and Other Follies wurden sie jedoch schließlich entlassen, nachdem sie ein Dokument unterschreiben mussten, welches erklärte, dass sie dort weder eine Krankheit erhalten noch gesehen hatten.
Während die Männer in Gefangenschaft waren, wurde Ingelores Tante Emmy von einem befreundeten Arzt zu ihrem Schutz vor der Gestapo in eine Psychiatrische Klinik eingewiesen, da sie fälschlicherweise des Verrats angeklagt worden war.
Nachdem Hermann und Walter nach Hause zurückgekehrt waren, holten sie Emmy aus ihrer psychiatrischen Zuflucht und waren bald gezwungen, ihre Fabrik zu verkaufen. Emmys und Hermanns Sohn Vernon, ein Cousin von Gisela und Ingelore, wurde im März 1939 mit einem Kindertransport nach England gebracht.
Einige Zeit später wurden jedoch Emmys frühere Versuche, die Freilassung ihres Mannes durch einen venezolanischen Konsul zu erreichen, aufgedeckt, und sie wurde in Fulsbüttel inhaftiert, bis sie nach einer Bestechung und einem beschleunigten Verfahren am 4. August 1939 freigelassen wurde. Nach Zahlung von exorbitanten Steuern, der Sühneleistung und der Reichsfluchtsteuer waren sie bankrott, konnten aber schließlich Ende August 1939, drei Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, aus ihrer geliebten Heimat fliehen. Sie verbrachten den Rest ihres Lebens in England.
In Schötmar/Bad Salzuflen, dem ursprünglichen Herkunftsort der Familie Silberbach, gibt es inzwischen eine größere Zahl von Stolpersteinen. Diese erinnern an Personen mit dem Familiennamen Silberbach, die in Auschwitz, Sobibor und Treblinka, im Ghetto Warschau und in Riga, in Theresienstadt und Maly Trostinec ermordet wurden. Es ist relativ wahrscheinlich, dass es sich zumindest bei einigen um Verwandte von Gisela und Ingelore handelt, die genaue Verbindung ist jedoch zur Zeit unklar, da Silberbach ein sehr verbreiteter Name war.
An dieser Stelle möchte ich mich bei den Personen bedanken, ohne deren Hilfe und Unterstützung die Erstellung dieser Projektarbeit nicht in dieser Form möglich gewesen wäre.
Besonderer Dank gilt Terry Mandel, der Tochter von Ingelore Silberbach, für ihre unglaubliche Unterstützung und Begeisterung für unser Projekt. Ohne ihre Bereitwilligkeit, ihre Informationen und Dokumente über ihre Mutter mit mir zu teilen, und ihre persönliche zeitliche Investition, um mir alle benötigten Informationen zur Verfügung zu stellen, hätte ich Ingelores Leben nicht halb so gut nachvollziehen können.
Besonders für die vertrauensvollen Einblicke in Ingelores Wesen und ihre persönlichen Erinnerungen an ihre Mutter möchte ich Terry danken. Sie haben mich sehr gerührt und mir ermöglicht, auch abseits der nüchternen Fakten ihrer Flucht und ihres Lebens an sich ein Bild von der Frau zu bekommen, von der diese Biographie handelt.
Die mir zusätzlich zu den persönlichen Aussagen zur Verfügung gestellten Tagebucheinträge von Ingelores Schwester Gisela, die mir vertrauensvoll von deren Sohn Stephen Mendel zugänglich gemacht wurden, konnten dieses Bild noch weiter vervollständigen!