Hilde Edith Levi
von Alma Jardon Rodriguez und Mia Louisa Weckmüller
Wir, Alma Jardon Rodriguez und Mia Louisa Weckmüller, sind beide 17 Jahre alt und haben den Projektkurs Geschichte gewählt. Bei der Wahl des Projektkurses war unsere Intention, eine Erfahrung zu machen, die weit über den klassischen Unterricht in der Schule hinausgeht. Wir wollten mit unserer Arbeit etwas bewegen, doch was uns der Projektkurs Geschichte letztendlich geboten hat, war viel mehr. Wir haben während dieser Arbeit gelernt, wie wichtig es ist, dass diese Zeit, Ereignisse und insbesondere Leben nicht in Vergessenheit geraten.
In diesem Jahr beschäftigen wir uns, im Gegensatz zu den anderen Projektkursen in den Jahren davor, mit einer ganzen Klassengemeinschaft jüdischer Mädchen an der Königin-Luise-Schule (KLS). Diese Mädchen (Hilde Edith Levi, Ingelore Silberbach, Hannelore Bier und Lieselotte Kramer) besuchten gemeinsam die KLS in der Zeit von 1935 bis 1938. Wir beschäftigen uns in unserer Arbeit mit Hilde Edith Levi (* 15.04.1925).
Wir sind in Kontakt mit Nachfahren von Hilde getreten, und zwar mit Judy Cook (geborene Adler), welche die Enkelin von Bertha Adler (* 05.06.1885) ist. Bertha Adler war die Tante von Hilde Edith Levi. Daher ist Judy die Großcousine von Hilde Edith Levi. Judy Cook und ihr guter Freund Bill McCartney fingen schon vor Jahren mit der Aufarbeitung und Recherche ihrer Familiengeschichte an. Durch ihre Hilfsbereitschaft und ihr Engagement trieben sie unsere Arbeit maßgeblich voran. Durch die beiden erhielten wir viel mehr Informationen und Dokumente, als wir uns je hätten vorstellen können.
Darunter waren viele persönliche Aufzeichnungen von Hilde selbst aus dem Jahr 2000, in denen sie auf ihre Erlebnisse zurückblickt. Aus ihnen stammt ein wesentlicher Teil unserer Informationen. Da es sich um subjektive Aufzeichnungen handelt, kann es natürlich zu Unstimmigkeiten kommen. Man kann nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass alle Angaben, die sie macht, vollkommen korrekt sind. Zum einen, weil die Ereignisse zu diesem Zeitpunkt schon lange Zeit zurücklagen und Erinnerungen dann verschwimmen können. Und zum anderen, weil es sich hier um eine Quelle handelt, die durch subjektive Wahrnehmung und vielleicht auch Intention beeinflusst ist. Das muss man immer berücksichtigen. Allerdings bietet uns diese authentische Quelle eine Fülle an Informationen, die uns auf keinem anderen Weg überliefert sind. Und sie ermöglicht uns einen tieferen und persönlichen Einblick in Hildes Charakter und in ihr Leben. Leider kennen wir bisher nur einen Teil ihrer Erinnerungen. Wir hoffen aber sehr, dass wir in absehbarer Zeit Einblick in den Rest erhalten und die noch verbliebenen Lücken schließen können.
Außerdem ist mit Judy Cook und Bill McCartney eine Art Freundschaft entstanden, was uns natürlich sehr freut. Nicht nur, dass wir einen einzigartigen Kontakt zu einer Angehörigen von Hilde Edith Levi erhielten und aus diesem Kontakt so viel mitnehmen konnten. Auch die besondere und viel persönlichere Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, die man so im normalen Geschichtsunterricht nie erhalten könnte, hat diese Arbeit so spannend gemacht.
Wir wollen eine Biographie schreiben, die dieser einzigartigen Frau gerecht wird, und die der Arbeit, die sich ihre Nachfahren mit der Sammlung der Informationen gemacht haben, entspricht. Sie soll möglichst gut rekonstruieren, was diese Frau erlebte und wer sie war.
Hilde Edith wurde am 15.04.1925 in Köln geboren, als einziges Kind ihrer Eltern Irma Levi, geb. Hecht (* 04.01.1899), und Dr. Friedrich Hermann Levi (* 19.10.1888). Hildes Mutter Irma stammte ursprünglich aus dem Osten, geboren war sie in Kempen in der preußischen Provinz Posen (heutiges Polen). Wohl noch vor dem Ersten Weltkrieg war die ganze Familie Hecht nach Köln übersiedelt und hatte sich inzwischen im Tabakhandel etabliert. In Köln besuchte Irma die Schule, wo sie ihren zukünftigen Ehemann kennenlernte, Hermann Levi, der dort als Lehrer unterrichtete.
Hermann stammte aus Rodheim in Hessen. Nach der Schule hatte er die Lehramtsausbildung absolviert, sowohl am katholischen Lehrerseminar in Kempen (Rheinland) als auch am jüdischen Lehrerseminar in Köln. Seit 1909 war er für die Synagogengemeinde Köln-Ehrenfeld als Religionslehrer tätig, seit 1912 auch mit der Zulassung für höhere Schulen. Wie so viele jüdische Deutsche seiner Generation hatte er im Ersten Weltkrieg gekämpft und vier Jahre lang, von 1915 bis 1918, an den Feldzügen im Westen teilgenommen. 1927 begann er schließlich ein Studium an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln, das er 1933 mit der Promotion zum Dr. phil. abschloss. Promoviert wurde er mit einer Arbeit über das jüdische Erziehungswesen in Deutschland im 19. Jahrhundert. Zwischenzeitlich hatte er seine spätere Ehefrau Irma Hecht kennengelernt. Beide heirateten am 12.12.1922, zweieinhalb Jahre später kam ihre einzige Tochter namens Hilde Edith zur Welt.
Beide Eltern kamen aus jüdischen Familien und waren sehr religiös, wenn auch mit einem Unterschied. Irmas Familie war konservativ-orthodox, Hermann dagegen liberal, wie sich auch an seiner Tätigkeit für die (liberale) Ehrenfelder Gemeinde zeigt. Trotz dieser Unterschiede waren beide Eltern sehr gläubig, und auch Hilde wurde dementsprechend erzogen.
Hilde wurde in eine sehr große Familie geboren. Allein ihre Mutter hatte sechs Geschwister, die alle mit ihren Ehepartnern in Köln wohnten; ihr Vater hatte vier Schwestern, die in Hessen lebten. Aus Hildes Aufzeichnungen geht hervor, dass sie anfangs eine schöne Kindheit in engen familiären und liebevollen Verhältnissen hatte. Als sie geboren wurde, war ihre Großmutter mütterlicherseits, Johanna Feige (* 1855), allerdings ein wenig enttäuscht, da sie sich einen Enkelsohn gewünscht hatte. Jedoch war diese Großmutter das einzige Großelternteil, das sie je kennenlernte. Daher besuchte sie gemeinsam mit ihrer Mutter an den meisten Nachmittagen ihrer Kindheit ihre Großmutter in deren Wohnung in der Werderstraße im Belgischen Viertel. Diese liebte Hildes Vater sehr und erkannte ihn sogar noch kurz vor ihrem Tod im Jahr 1938, als sie aufgrund schwerer Krankheit andere nahe Verwandte bereits nicht mehr erkannte.
Einige Indizien lassen darauf schließen, dass ihre Familie mütterlicherseits relativ wohlhabend war. Zum einen gab es im Haus ihrer Oma ein Dienstmädchen, zum anderen beschrieb sie zum Beispiel den marmornen Eingang als pompös; auch die Berichte über die „bei Oma“ stattfindenden Familienfeiern zeigen einen zumindest gutbürgerlichen Haushalt. Uns ist aufgefallen, dass ihre Beschreibungen von dem Haus ihrer Großmutter sehr detailliert sind, obwohl die Aufzeichnungen aus dem Jahr 2000 stammen. Dies zeigt, dass Hilde sehr viel Zeit als Kind bei ihrer Oma verbracht haben muss, sodass sie nach so vielen Jahren diese Räumlichkeiten so gut rekonstruieren und beschreiben konnte.
Ihr Cousin Heinz, der 2,5 Jahre älter war als sie und mit dem sie oft im Haus ihrer Oma spielte, verängstigte sie damit, dass ein Krokodil im dunklen Korridor lauere und darauf warte, in ihr Bein zu beißen. Das hatte zur Folge, dass sie immer Angst hatte, alleine den Korridor entlangzulaufen. Wir denken, dass jeder sich mit dieser Geschichte identifizieren kann, welche zeigt, dass Hilde auch normale Kindheitsmomente erlebte. Bereits als Kind erzählte Hilde ihrer Mutter, sie wolle ihren Cousin Heinz später heiraten und niemand anderen, nachdem diese mit ihrer Tante Magarete über eine arrangierte Ehe für Hilde gesprochen hatte. Sie sagte, wenn sie ihn nicht heiraten könne, dann wolle sie niemals heiraten. Dieses Versprechen hält sie (wenn auch vielleicht aus anderen Gründen) tatsächlich bis zum heutigen Tage ein.
Aus weiteren Tagebucheinträgen erfahren wir, dass sie Sonntagmorgens oft einen Spaziergang mit ihrem Vater (zum Beispiel im Grüngürtel) machte. Auf diesen Spaziergängen sammelte sie immerzu neue Eindrücke und es scheint, als hätte sie die Zeit, die sie dann mit ihrem Vater verbrachte, sehr genossen. Außerdem haben wir den Eindruck gewonnen, dass Hilde Edith ein besonders aufgewecktes und neugieriges Mädchen gewesen ist. Jedoch schien sie auch etwas unsicher und hatte Angst davor, von anderen nicht akzeptiert zu werden.
Wir befinden uns im Jahr 1935. Für jüdische Deutsche gab es bereits massive rechtliche Beschränkungen und allgemeine Ressentiments – und auch für jüdische Schüler. Es gab bereits rechtliche Aufnahmebeschränkungen an höheren Schulen. Und an nicht wenigen Schulen hatte bereits der Prozess der Verdrängung jüdischer Kinder begonnen, um diese Schulen möglichst schnell „judenfrei“ zu machen.
Für Hilde stand nun der Wechsel auf die höhere Schule an. Bisher hatte sie eine jüdische Grundschule besucht, und zwar nach eigener Aussage die städtische israelitische Volksschule in der Lützowstraße.
Hildes Eltern ließen ihr die Wahl, ob sie auf eine städtische (konfessionell nicht gebundene) Schule oder auf die Jawne, die höhere jüdische Schule, gehen wolle. Nach einiger Zeit des Abwägens entschied sie sich für die städtische Schule, und zwar für die KLS. Warum sie selbst sich so entschied, ist nicht genau gesagt. Es wird aber deutlich, dass der Vater von Hilde sehr für die KLS war und sich wünschte, dass seine Tochter auf diese Schule ginge. Für ihn war das – wie Hilde berichtet – eine erklärte Reaktion auf die politischen Veränderungen: Segregation – Abgrenzung – sei in diesen unsicheren Zeiten die schlechteste Wahl. Dem zunehmenden Ausschluss aus der Gesellschaft wollte sich Hermann Levi also nicht fügen, sondern sich dem durch Integration entgegenstellen.
Für jedes Kind ist der Wechsel auf die weiterführende Schule mit viel Unsicherheit und Aufregung verbunden, auch heute noch. Für Hilde aber war dieser Wunsch ihres Vaters in mehrfacher Hinsicht ein Schock. Da war zum einen der Schulweg. Die Familie wohnte zu diesem Zeitpunkt in der Lütticherstraße 43. Hilde musste nun den „weiten“ Weg bis zur Sankt Apern Straße gehen und dabei auch noch die breite und belebte Ringstraße überqueren – für ein zehnjähriges Mädchen, das sich bisher in den ruhigen Straßen des Belgischen Viertels bewegt hatte, offensichtlich eine Herausforderung. Dann die Freunde, die mehrheitlich auf jüdische Schulen gingen. Wie würden sie reagieren? Ebenso die – religiös-konservative - Verwandtschaft und die Bekannten aus der Gemeinde – wären sie verletzt, enttäuscht, verärgert? Offensichtlich gab es tatsächlich Aufregung. So soll sich Paula Loeb, die Konrektorin der Lützowstraße (und selbst ehemalige Absolventin der KLS – siehe ihre Biographie in diesem Gedenkbuch) massiv gegen diese Entscheidung ausgesprochen haben. Hilde berichtet sogar davon, dass Paula Loeb ihren Vater aufgefordert habe, sich von seiner Frau scheiden zu lassen – wegen dieser Entscheidung.
Doch trotz dieser Schwierigkeiten folgte Hilde dem Wunsch und entschied sich für die KLS. Sie bezeichnet die Schule in all ihren Aufzeichnungen als „Interkonfessionelle Schule“. Dies meint die Tatsache, dass die KLS als städtische Schule konfessionell nicht gebunden war, sondern Schülerinnen aller Konfessionen aufnahm – sicher ein wesentlicher Grund für die Wahl des Vaters. Ein weiterer Grund mag die Person des Schulleiters Dr. Beuel gewesen sein. Hildes Vater sprach wohl mit ihm und beschrieb ihn als „katholisch und nicht antisemitisch“. Zudem hatte er selbst zwei Töchter, die auf die KLS gingen.
In einer Hinsicht lag der Vater allerdings falsch. Er soll berichtet haben, dass es an der KLS so viele Anmeldungen gegeben habe, dass man drei Eingangsklassen eingerichtet habe – zwei nur für katholische Mädchen, die dritte für protestantische Schülerinnen und die Töchter der jüdischen Frontkämpfer. Dies war allerdings nicht zutreffend, wie uns die offiziellen Schuldokumente zeigen. Es gab nur zwei Eingangsklassen, und beide waren konfessionell gemischt. Nur die vier jüdischen Mädchen befanden sich in einer Klasse.
Entweder war Hermann Levi hier einem der unspezifischen Gerüchte aufgesessen, die immer über Schulen umlaufen. Oder es handelt sich um einen Reflex auf die Prägung der KLS. Denn – städtische Schule hin oder her – die KLS hatte einen deutlichen katholischen Schwerpunkt, die Mehrheit der Schülerinnen gehörte dieser Konfession an und auch ein großer Teil des Kollegiums, angefangen beim Schulleiter.
Richtig lag Hermann aber mit seiner Bemerkung über die „jüdischen Frontkämpfer“. Mit dem „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom Frühjahr 1933 hatte das NS-Regime den ersten Schritt zur Verdrängung jüdischer Schüler getan. Fortan durften auch an der KLS nur noch 1,5% der Neuaufnahmen jüdisch sein – angesichts der Gesamtschülerzahl konnte höchstenfalls noch ein jüdisches Mädchen pro Schuljahr aufgenommen werden. Ausgenommen waren allerdings die Töchter von Frontkämpfern, so wie Hilde, und auch die Väter ihrer drei zukünftigen jüdischen Klassenkameradinnen hatten im Ersten Weltkrieg gekämpft. Daher konnten zu Ostern insgesamt vier jüdische Mädchen an der KLS eingeschult werden – im Vergleich eine relativ hohe Zahl, die es an vielen anderen Schulen bereits jetzt nicht mehr gab.
Hilde erzählt, dass die Schule nach der Königin Luise von Preußen benannt worden sei und dass ihr Sprichwort immer „Lerne zu leiden, ohne zu klagen“ gewesen sei. „Das fand ich ziemlich seltsam, zumal ich mich darauf eingestellt hatte, im Falle von persönlichen Angriffen oder Beleidigungen zurückzuschlagen.” Dies zeigt, dass Hilde eine gute Erziehung genossen hat, die zu Folge hatte, dass sie sehr selbstbewusst agierte und sich nicht versteckte. Oder war dies hier bereits eine Reaktion auf die zunehmenden Anfeindungen, denen sie sich dann ebenso hätte entgegenstellen wollen wie ihr Vater?
Hilde berichtet in einem Tagebucheintrag sehr ausführlich über ihre Eindrücke am ersten Schultag: “Als ich am Schultor ankam, war ich etwas ängstlich, aber der Hausmeister, der die Tore bediente, war sehr freundlich. Da es der Beginn eines neuen Schuljahres war, versammelten wir uns alle in der großen Halle.” Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus ihren Berichten zu dieser Zeit. Sie erzählt, wie sie in ihre Klassen unterteilt wurden und den Lehrern zu den Klassenzimmern folgen sollten. Hierbei fällt uns auf, dass unser eigener erster Schultag an der KLS nach so vielen vergangenen Jahren ähnlich verlief und genau deswegen ist diese Geschichte so nah an unserer Gegenwart. Man kann es nachempfinden und es fühlt sich an, als wäre man dabei. Hilde beschreibt auch das Auftreten von Dr. Beuel, der als Schulleiter die neuen Schülerinnen begrüßte. Er sei groß und breit gebaut gewesen. Zudem habe er immer eine schwarze Brille und graue Anzüge getragen. Sie berichtet, dass er immer sehr ruhig agierte, sowohl beim Sprechen, als auch in seinen Bewegungen.
Eine Anekdote vom ersten Schultag ist besonders interessant und aussagekräftig – sowohl für Hilde als auch für die KLS. So erzählt Hilde, dass es wie ein ungeschriebenes Gesetz gewesen sei, dass die Mädchen mit denselben Namen nebeneinander saßen. Und sobald jede ihrem Platz zugeordnet worden war, waren die ersten zwei Fragen: „Was macht Dein Vater?” und „Bist Du katholisch oder protestantisch?”. Sie fährt mit der Anmerkung fort, dass es zwei weitere Hildes in ihrer Klasse gegeben habe, eine namens Hildegard Schmidt, welche katholischer Konfession war, und eine namens Hilde Rahms, welche Protestantin war. Im weiteren Verlauf ihrer Erzählung stellt sich heraus, dass Hildegard Rahms sich vehement weigerte, neben einer Person mit katholischer Konfession zu sitzen, was unmittelbar dazu führte, dass Hildegard Schmidt peinlich berührt war und rot anlief. Mit einem “Ich kann mich in die Mitte setzen!” entschärfte Hilde die Situation.
Dies ist nur eine der Anekdoten, die sich in ihren Aufzeichnungen finden lässt und Aufschluss darüber gibt, wie Hilde Edith Levi war: aufgeschlossen und in Konfliktsituationen lösungsorientiert und deeskalierend. Zudem zeigt diese Erzählung, dass es in Köln immer noch starke Ressentiments und Konflikte zwischen Protestanten und Katholiken gab. Auch Protestanten waren in Köln von alters her eine Minderheit, und sie waren über lange Zeit zurückgesetzt worden. Diese innerchristlichen Differenzen waren allerdings auch mit dafür verantwortlich, dass viele Juden die Dramatik des Antisemitismus lange Zeit unterschätzten, weil sie ja nicht die einzige “ausgegrenzte Minderheit” waren.
Mit Hilde wurden am ersten Schultag drei weitere jüdische Mädchen eingeschult: Hannelore Bier, Lieselotte Kramer und Ingelore Silberbach (siehe ihre Biographien in diesem Gedenkbuch). Sie alle kamen in die Klasse VI a und blieben dort zusammen für die nächsten Jahre. Hilde beschreibt in ihren Erinnerungen alle drei nach Wesen und Aussehen. Allerdings bezeichnet sie sie nur als Mitschülerinnen, nicht als Freunde. Ob es also freundschaftliche Kontakte zwischen ihnen gab oder mit wem sonst Hilde befreundet war, bleibt unklar.
Aus Hildes Zeugnissen lässt sich entnehmen, dass sie Noten zwischen zwei und vier erhielt. In den Zeugnisbemerkungen wird ihr Verhalten meist als „zufriedenstellend,” beschrieben, aber auch als “zu still, ruhig, muss reger werden“ bzw. “muss mehr aus sich herausgehen“. Hilde scheint also im Unterricht eher zurückhaltend aufgetreten zu sein. In der Bewertung ihrer Leistung und ihres Verhaltens lässt sich allerdings kein Unterschied zu den „nicht-jüdischen“ Schülerinnen erkennen, ebenso wie bei ihren jüdischen Mitschülerinnen. Und wie diese wurde auch Hilde jeweils ohne Einschränkungen in die nächsthöhere Klasse versetzt.
Währenddessen veränderte sich “draußen” immer mehr zum Schlechten, die Diskriminierung der jüdischen Deutschen wurde immer stärker. Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf die vier Klassenkameradinnen, sowohl in ihrem Privatleben als auch in der Schule. Das Schulklima an der KLS in dieser Zeit genau zu bestimmen, ist mangels Quellen außerordentlich schwer, vielleicht sogar unmöglich. Es scheint aber so, dass es – mit aller Vorsicht gesagt – für jüdische Schülerinnen erträglicher war als an mancher anderen Schule. So berichtet Lieselotte Kramer, ihre Schulzeit an der KLS sei eine “unbeschwerte, eine sorgenfreie Zeit” gewesen – für ein jüdisches Mädchen in diesen Jahren keine selbstverständliche Aussage. Und auch bei Hilde Edith finden sich Hinweise, die in die gleiche Richtung deuten.
Während wir uns mit ihren Aufzeichnungen beschäftigten, fiel uns auf, dass sie alle Lehrer immer sehr detailliert beschreibt, was zur Folge hat, dass man sich die Personen viel besser vorstellen kann. So erwähnt sie einen gewissen Lehrer namens Dr. Weißkichel, der ihr neuer Klassenlehrer im Jahr 1936 gewesen ist. Als sie ihn zum ersten Mal sah, fiel ihr als erstes das Mitgliedsabzeichen der NSDAP auf, das er am Revers trug – und der Kontrast zu seiner „überaus hervorstechenden nicht-arischen Nase“. „Wie sehr muss er sein Aussehen hassen“, dachte sie. Im folgenden jedoch geht aus ihren Aufzeichnungen hervor, dass er sie nicht anders behandelte als die anderen Schüler. Sie sagt, er habe immer recht ruhig gehandelt und war ihr gegenüber sehr freundlich. Dies könnte ein Beispiel für die Neutralität zumindest mancher der damaligen Lehrer an der KLS sein, oder zumindest für ein menschliches Verhalten. Denn die Mitgliedschaft in der NSDAP bedeutete nicht automatisch, dass man Antisemit war.
Im selben Jahr nahm Hilde übrigens auch noch mit ihrem Klassenlehrer an einem Schulausflug teil, einer Schiffahrt auf dem Rhein – auch dies war an manchen Schulen anders, dort waren jüdische Schüler von solchen Veranstaltungen bereits ausgeschlossen oder wollten wegen der internen Anfeindungen nicht mehr daran teilnehmen.
Und es gibt noch eine weitere interessante Anekdote über eine Lehrkraft. In diesem Eintrag erzählt Hilde von einer gewissen Frau Dr. Joesten, die sie kurz vor ihrem Aufbruch nach Großbritannien bat, in ihr Poesiealbum zu schreiben, doch diese gab es ihr zwei Tage später mit einem entschuldigenden Lächeln ohne Eintrag zurück. Kurz vorher erklärte sie, dass sie diese Lehrerin immer sehr bewunderte und sie einen guten Eindruck von ihr gehabt hätte, was zur Folge hatte, dass sie umso enttäuschter war, als die Lehrerin ihr das Buch ohne Eintrag zurückgab. Auch wenn sich das hier nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen lässt, gehen wir dennoch nicht davon aus, dass die Lehrerin in diesem Fall antisemitische Motive verfolgte. Dies folgern wir daraus, dass aus Hildes Aufzeichnungen hervorgeht, dass sich die Lehrerin ihr gegenüber immer anständig verhalten haben dürfte. Anders wäre die Wirkung, die sie auf Hilde hatte, nicht zu erklären. Und Hilde hätte sie dann sicher auch nicht um einen Eintrag gebeten. Wir halten es für wahrscheinlicher, dass Frau Joesten vielleicht nicht wusste, was sie einem Mädchen sagen soll, dass von der Schule geworfen wird und eine ungewisse Zukunft vor sich hat. Vielleicht hatte sie aber auch einfach Angst, einer Jüdin schwarz auf weiß ein paar freundliche Worte niederzuschreiben.
Hilde wurde wie ihre drei Mitschülerinnen zu Ostern des Jahres 1938 noch in die nächste Klasse, also die Untertertia (8.Klasse) versetzt. Dann aber kam das Ende der Schulzeit an der KLS – ohne Vorwarnung und nicht freiwillig. Bis dahin besuchten noch insgesamt 13 Mädchen jüdischer Konfession die Schule – angesichts dieses späten Zeitpunkts eine vergleichsweise sehr hohe Zahl. Zu Beginn des neuen Schuljahres jedoch scheinen sie alle auf einen Schlag entlassen worden zu sein, denn im Schuljahr 1938/39 sind überhaupt keine jüdischen Mädchen mehr an der KLS bezeugt. Hildes Mitschülerin Lieselotte Kramer berichtet von einem Brief – freundlich im Ton, aber dennoch unmissverständlich – in dem die Entlassung mitgeteilt wurde; vielleicht darf man dies bei allen Mädchen annehmen. Der Vater von Hilde Edith versuchte in einem persönlichen Gespräch mit den Verantwortlichen (vielleicht dem Schulleiter) diese Entscheidung zu revidieren – aber ohne Erfolg. Die Gründe für diese Entlassung sind uns unbekannt, einen gesetzlichen Zwang dürfte es aber (anders als nach der Reichspogromnacht) noch nicht gegeben haben.
Alle vier Mädchen wechselten nun auf die Jawne, das jüdische Gymnasium in unmittelbarer Nähe zur KLS. Dies ergibt sich aus dem Poesiealbum von Ingelore Silberbach, in dem sich alle ihre Mitschülerinnen gemeinsam als Klasse verewigt haben.
Auf diesen Seiten finden wir auch die Namen ihrer Klassenkameradinnen von der KLS – Hannelore Bier, Hilde Edith Levi und Lieselotte Kramer. Sie alle müssten auch auf einem Klassenfoto zu sehen sein, das wir von den Familien sowohl von Lieselotte als auch von Ingelore bekommen haben. Es zeigt die letzte Klasse der beiden auf der Jawne 1938.
Die neue Klassengemeinschaft fiel allerdings schnell auseinander, denn alle versuchten nun ins Ausland zu entkommen. Ingelore war die erste aus der ehemaligen KLS-Klasse, der dies gelang: Am 21. September 1938 wechselte sie auf das Internat in England, das bereits ihre Schwester besuchte. Im Dezember folgte Lieselotte, die mit einem Kindertransport nach Belgien entkam. Hilde Edith und Hannelore Bier blieben dagegen noch mehr als ein Jahr auf der Jawne.
Hildes Cousin Heinz (der mit dem Krokodil) ging im Sommer 1938 mit der Jugend-Alijah nach Israel. In den Briefen seiner Eltern an ihn wird auch regelmäßig über Hilde berichtet. Daher wissen wir, dass Hilde auch auf der Jawne ein gutes Zeugnis bekam und in die nächsthöhere Klasse versetzt wurde. Hilde korrespondierte ebenfalls mit Heinz. So berichtet sie ihm unter anderem aus dem jüdischen Jugendbund, dem sie sich angeschlossen hatte, und in dem Heinz wohl auch Mitglied gewesen war.
Nach dem Schock der Reichsprogromnacht erkannte der Schulleiter der Jawne, Dr. Erich Klibansky, was in der Zukunft drohte. Deshalb wollte er „seine“ Kinder retten, indem er die ganze Schule mit Hilfe der Kindertransporte nach England zu bringen versuchte (Zu den Kindertransporten der Jawne und zu Hildes Reise siehe grundlegend auch XXX). Die erste Information über eine Evakuierung mit dem Kindertransport erhielt Hilde durch ihren Vater schon im Dezember 1938. Er erzählte ihr, dass ihr Schulleiter Dr. Klibansky sich bemühe, die Schule Klasse für Klasse nach England zu verlegen. Sie war daraufhin sehr schockiert, denn sie wollte ihre Eltern nicht verlassen. Ihre Gedanken glichen denen, die jedes so junge Mädchen in diesem Moment wohl haben würde. „Ich hoffe es trifft nicht meine Klasse.“ Einige Tage später stellte sich heraus, dass sich eine Schule in England bereit erklärt hatte, zwei Klassen zu übernehmen. Dies waren eine Jungen-Klasse, die alle im Alter von 8 Jahren waren, und eine Jungen-Klasse mit dem Altersdurchschnitt von 14 Jahren.
Doch das Vorhaben des Direktors wirkte sich auch auf den Unterricht in Hildes Klasse aus. Der Schulleiter stellte mehrere englischsprachige Lehrer ein, die kein einziges Wort Deutsch konnten. Ziel war es , dass ab diesem Zeitpunkt ein Großteil der Fächer auf Englisch unterrichtet werden sollten. Dies diente dazu, alle Schüler auf die bevorstehende Evakuierung vorzubereiten und die Integration zu erleichtern. Aus verschiedenen Dokumenten geht hervor, dass schon Ende Februar abzusehen war, dass auch Hilde in naher Zukunft nach England evakuiert werden würde.
Im Laufe der Wochen rückte der Zeitpunkt näher, zu dem auch Hildes Klasse nach England gehen sollte, doch Hilde wehrte sich strikt dagegen. Sie wollte nicht in so jungen Jahren alleine das Land verlassen. Sie hatte Angst. Wir gehen davon aus, dass ihre Eltern sie ermutigten nach Großbritannien zu gehen, da sie sich der Situation bewusst waren und wollten, dass ihre Tochter in Sicherheit ihr Leben weiterführen kann. Was es für Irma und Hermann bedeutet haben muss, das eigene, das einzige Kind in einer solchen Situation ins Ausland zu schicken, in so jungen Jahren und ganz allein – das können vielleicht nur Menschen wirklich nachempfinden, die selbst Kinder haben.
Zwischenzeitlich hatte sich noch eine andere Möglichkeit angedeutet. Hermann Hecht, ein Cousin Irmas in den USA, hatte angeboten, die Kinder Hilde Edith und Heinz nach Amerika zu holen. Darauf konnten oder wollten beide Elternpaare aber nicht eingehen. Hildes Abreise war eigentlich für den April 1939 vorgesehen. Dies verzögerte sich aber, da erst die Jungenklassen vorgezogen wurden. In der Zwischenzeit wurde Hildes Gepäck vorausgesandt, denn die Eltern mussten ihre gesamte Ausstattung sicherstellen. Schließlich kam der Tag der Abreise - Hilde Edith Levi kam im Alter von 14 Jahren am 21.07.1939 mit dem letzten Kindertransport in Großbritannien an.
In einem sehr bewegendem Tagebucheintrag schildert sie, wie sich die Reise auf dem Kindertransport gestaltete: „Dies war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mein zu Hause verließ und irgendwie das Gefühl hatte, dass ich sie nie wieder sehen werde.“ Die Eltern sollten ihre Kinder nicht auf dem Bahnhof verabschieden, um große Szenen zu vermeiden. Stattdessen erfolgte die Verabschiedung in der Schule. Dort verabschiedete sich Hilde von ihren Eltern mit einem einzigen Händedruck, weil sie bei der Verabschiedung nicht weinen wollte. Und tatsächlich war dies der letzte Moment, in dem sie ihre Eltern sehen sollte. Auf dem Bahnsteig standen aber trotzdem einige Verwandte, um sie herzlich zu verabschieden, und zwar einer ihrer Onkel, Bruno Hecht, mit ihrer Lieblingscousine Ruth.
Hilde berichtet auch sehr detailliert über ihre Kleiderwahl an diesem Tag. Wegen der Bedeutung des Tages durfte sie zum ersten Mal selbst aussuchen, was sie trug. Und vielleicht versuchten die Eltern so auch, ihr diesen schweren Moment zu erleichtern. Hilde beschreibt ihre Kleiderwahl als bemerkenswert und erinnerungswürdig. Sie entschied sich für ein leuchtend blaues Kleid mit roten Punkten. Dazu kam ein passendes Hütchen, welches sie jedoch zurücklassen musste, da kein Platz mehr im Gepäck war. Ihre überaus detaillierte Beschreibung der einzelnen Kleiderstücke wirkt auf uns besonders persönlich und einzigartig. Vielleicht erinnerte sie sich so genau, weil sich dieser dramatische und tragische Moment so sehr in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte.
Hilde berichtet aber auch, dass ihr erst sehr viel später bewusst wurde, welches Opfer das für ihre Mutter bedeutet haben muss. Hier meint sie sicher – aber vielleicht auch nicht ausschließlich - die finanzielle Belastung. Denn zu diesem Zeitpunkt war das Leben für jüdische Deutsche bereits sehr schwer geworden, auch das wirtschaftliche Überleben. So schreibt Hildes Onkel Hermann an ihren Cousin Heinz in Palästina im Herbst 1938: “Unser Geschäft ist stark zurückgegangen, was auch natürlich ist, da die Kunden bearbeitet werden, nicht mehr von uns zu kaufen. Die meisten Kunden lassen sich auch beeinflussen, und so leidet das Geschäft ganz bedeutend. Wie lange wir das Geschäft noch halten können, ist im Augenblick nicht zu sagen, aber, wenn keine Aenderung zum Besseren eintreten sollte, so müssen wir in den nächsten Monaten mit der Aufgabe des Geschäfts rechnen. Was dann aus uns werden soll, weiß keiner. (…) Aehnlich liegen die Verhältnisse bei den Verwandten, auch sie alle müssen sich quälen, so Kniebel und Levi und auf der Werderstrasse müssen gleichfalls sich einschränken.“ Hildes Eltern waren wohl an den Tabakgeschäften der Familie Hecht nicht beteiligt, aber wie man sieht, wurde auch für sie das Überleben immer schwieriger. Auch Hilde hatte das schon längst zu spüren bekommen. Schon zum Jahr 1936 berichtet sie: „Ich war ein Kind, und da war nicht viel Zeit für mich. Angesichts der herrschenden Umstände waren die Erwachsenen mit dem Überleben beschäftigt.“
Insgesamt nahmen 25 Mädchen an diesem Transport teil, darunter mindestens 13 aus Hildes Klasse von der Jawne. Sie fuhren mit dem Zug von Köln nach Holland und dann weiter nach Großbritannien. Auch von dieser aufregenden Fahrt mit Grenzkontrollen und Fährpassage gibt es einen eindrucksvollen Bericht in Hildes Erinnerungen. Der Transport ging nach Manchester, und dort kam die Gruppe zunächst in einem Hostel in der Waterloo Road unter, das von Gotthelf Kahn und seiner Frau betreut wurde.
Auch Hildes ehemalige Klassenkameradin von der KLS, Hannelore Bier, war dabei. Von ihr stammt ein ausführlicher Bericht über das Leben in diesem Hostel (siehe ihre Biographie in diesem Gedenkbuch).
Hilde blieb dort vom 21.07. bis zum 01.09.1939, später wohnte sie in einer Pension in Blackpool, Lancashire, welche von Herrn und Frau Hold geführt wurde. In Großbritannien besuchte sie zunächst eine Volksschule, worüber sie sehr enttäuscht war, denn eigentlich wollte sie gerne studieren. Ihr Traum war es, eines Tages einmal Ärztin zu werden. Ab dem 01.05.1940 besuchte sie dann die Red Hill School in Maidstone, Kent.
Hilde Edith schrieb ihrer Mutter jede Woche regelmäßig Briefe, nach Angaben in der Korrespondenz ihrer Verwandten sogar noch Anfang 1940 jede Woche, obwohl mittlerweile Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien herrschte. Ob dies tatsächlich problemlos möglich war, vielleicht über die jüdischen Hilfsorganisationen, die die Kindertransporte organisiert hatten, wissen wir nicht. Vielleicht war es auch komplizierter und die Briefe mussten über Tarnadressen im Ausland geschickt werden, zum Beispiel in Belgien, das sich noch nicht offiziell im Krieg befand. Auf diese Weise musste jedenfalls die Familie Hecht ihre Korrespondenz mit Heinz in Palästina abwickeln. Irgendwann kam aber auch der Briefwechsel von Hilde mit ihren Eltern zum Erliegen.
Unsere Mitschülerin Annna Kromer hat sich im Rahmen unseres Projektkurses speziell mit den Kindertransporten beschäftigt. In diesem Zusammenhang beleuchtet sie auch Hilde Ediths Zeit an der Red Hill School:
Hilde kam am 01.05.1940 an die ”Red Hill School” in East Sutton, Maidstone in Kent. Dort blieb sie bis zum 18.07.1946.
Die Red Hill School war eine Schule für hochbegabte Jungen mit psychischen oder emotionalen Auffälligkeiten. Der Direktor zu Hilde Ediths Zeit war Otto Shaw.
In einem Brief vom 29.12.1941 an Hildes gleichaltrigen Cousin Fritz Adler gibt Hilde Edith an, die Schule seit 1 ¾ Jahren zu besuchen. Sie meint, dass es ihr dort sehr gut gefalle. Zunächst stellt sie die Schule vor. Sie erläutert, dass es eine “psychologische” Schule für Jungen und Mädchen sei, die nicht zu Hause bleiben können. Die Schule sei eine Art Privatschule. Während sie richtig beschreibt, dass es sich um eine psychologische Schule handelt, weicht ihre Aussage, dass die Schule für Mädchen und Jungen gegründet wurde, allerdings von der Realität ab. Grund für diese Diskrepanz mag die Tatsache sein, dass hier ”Kinder” der Kindertransporte, wie Hilde Edith selbst, unterkamen. Eventuell änderte sich aber auch die Ausrichtung der Schule.
In der Quelle beschreibt Hilde Edith die Schule und ihre Schülerschaft. In der Red Hill School gebe es einen Altersunterschied: Es gebe eine “senior group”, die Ältesten an der Schule. Es seien 10 Jungen und sie und ein weiteres Mädchen. Die anderen Kinder seien noch sehr viel jünger, da sie noch mit Puppen spielen würden. In der Quelle stellt sie auch einige ihrer Mitschüler vor: Paul Pollak, einen 17-jährigen Jungen aus der Tschechoslowakei, der schon “staff duties” (Mitarbeiter-Aufgaben) übernehme. Sie stellt “Leslie” vor, einen Jungen, der schon älter aussehe, dabei sei er erst 15 Jahre alt. Er sei jüdisch und Pauls Freund. Sein voller Name lautet Benett Leslie Levitt. Hilde Ediths beste Freundin vor Ort ist “Madge” (Margarete Reynolds). Madge ist 17 Jahre alt. Hilde beschreibt ihr Verhältnis als sehr eng (“intimate”). Sie, Hilde-Edith und Paul Pollak teilen sich gemeinsam ein ”sehr schönes” Zimmer. Laut der Quelle laden sie häufig andere Leute zu ihren Abendessen ein. Außerdem spielen sie zusammen Bridge.
Hilde Edith und Madge kümmern sich gemeinsam um ein “Patenkind” (“fosterchild”), das fünfjährige Mädchen Vera. Ihr voller Name ist Vera Fowler. Vera fragt die beiden häufig nach Rat, auch wenn ein Mitarbeiter der Schule es ihr direkt sagt. Es lässt sich daraus schließen, dass sie eine enge Verbindung haben. Ob Hilde Edith dies gut findet oder nicht, wird nicht deutlich. Hilde Edith übernimmt, nach eigenen Angaben, auch andere Aufgaben an der Schule. Sie übernimmt “Mitarbeiter-Aufgaben” (“staff duties”): Spaziergänge mit den Kindern machen, Tee kochen und das Abendessen für die ganze Schule vorbereiten.
Laut Hilde Edith gibt es auf dem Gelände der Schule einen Teich. Im Sommer gehen die Schüler dort nackt baden. Sie schwimmen um die Wette und spielen Spiele im Wasser. Hilde Edith sei die einzige Schülerin, die nicht hineingehe. Sie begründet die Entscheidung damit, dass sie zum einen nicht besonders gerne Schwimmen gehe, zum anderen mit der Erziehung durch ihre Mutter. Hilde Edith sagt aus, dass Madge dem Cousin mitteilen lässt, dass sie das (Nackt-) Schwimmen im Teich als sehr “gut” und “rein” empfindet.
Eine Sache scheint Hilde Edith an der Schule jedoch zu missfallen und zu überraschen: “Die Badezimmer und WCs haben keine Schlüssel!!!!!!!!!!!!!!” Ihr Missfallen drückt sie durch 14 Ausrufungszeichen und Versalien aus. Aufgrund dieser Tatsache schleicht sie sich nachts aus ihrem Zimmer und in das Badezimmer und stapelt Stühle und andere Möbelstücke gegen die Tür. Ironisch bezeichnet sie diesen Vorgang als “terribly amusing” (unglaublich amüsant) und spricht ihren Cousin an, dass er keine Ahnung habe, was für ein Spaß dies sei. Ihre ironischen Kommentare zeigen, dass sie in einer guten Verfassung sein muss und einen Sinn für Humor hat. Außerdem zeigt es, dass sie nicht sehr empfindlich ist, da sie ironische Kommentare abgibt, obwohl sie die Situation stört.
Über die Angestellten der Schule berichtet sie Folgendes: Alle nennen sich, einschließlich des Direktors, bei ihren Vornamen. Die zwei Psychologen, die die Schule leiten, seien sehr schlau (“brainy”), wohingegen ihre Ehefrauen extrem langweilig (“dull”), dagegen aber hübsch seien. In diesem Zusammenhang meint sie vermutlich, dass sie eher dümmlich/oberflächlich sind. Die eine Familie hat ein 16 Monate altes Mädchen, die andere einen 7 Monate alten Jungen. In der Quelle berichtet sie auch von einer „alten“ Krankenschwester, Marion, die ein 20 Monate altes Baby hat und deren Mann an einer Schule in London angestellt ist. Als sehr nett bezeichnet sie die restlichen Mitarbeiter, die Gärtner, Köche und Reinigungskräfte.
Die Beschreibung der Schule und ihrer Angestellten schließt Hilde-Edith mit den Worten: “ It is always hard, to make an “outsider” clear, that these sides of R.H. school life are not all as shocking as one always thinks.” - Es ist schwer “Außenstehenden” zu vermitteln, dass diese Aspekte des Schullebens nicht alle ganz so schockierend sind, wie man immer denkt. Mit dieser Aussage macht Hilde Edith klar, dass es wohl Ungewöhnliches oder Schockierendes an der Schule gibt, sie sich dort jedoch wohlfühlt und sich als “insider” empfindet. Mit schockierenden Aspekten meint sie vermutlich das Nacktschwimmen im Teich und die Toiletten, die sich nicht abschließen lassen.
Da der Brief am 29. Dezember verfasst wurde, hatte Hilde Edith, wie sie in der Quelle auch erläutert, Ferien. Während der Weihnachtsferien blieben nur 20 “von ihnen” in der Schule. Die Weihnachtsfeier an der Red Hill School bezeichnet sie als “marvellous”, wunderbar. Sie bekamen traditionelle “Stockings” mit Zinn(spiel-)zeug und ”joined presents”, diese bestanden aus Konservendosen, Büchern, Seife, Süßigkeiten, Taschentüchern und einer Fleischgabel. Vermutlich taten sich wohlmeinende Spender in der Schule oder von außerhalb zusammen, um den (Kindertransport-) Kindern eine Freude zu machen. Dies wirkt besonders wahrscheinlich, da die Geschenke aus sehr praktischen und für den Alltag nützlichen Dingen bestanden.
Hilde-Edith bereitet sich anscheinend bereits auf ihr Abitur vor, da sie schreibt, dass sie sich folgende Fächer für ihr „matric“ ausgesucht habe: „English, Maths, French, German, Heat, Light & Sound“. Allerdings blieb sie ja noch für weitere 4 ½ Jahre auf der Red Hill School – vielleicht ging es also um die Fächerwahl für das Äquivalent zur Oberstufe?
Aus der Quelle lässt sich entnehmen, dass sie sich in der Schule gut eingelebt hatte. Sie fand Freunde und übernahm Verantwortung für die Schule. Sie fand einige Aspekte des Schullebens zwar ungewöhnlich oder gewöhnungsbedürftig, fühlte sich allerdings schon wie ein “insider”.
Am Ende des Briefes erwähnt sie, dass ihr Spitzname dort “Madame Bug” sei. Dies könnte entweder auf ein Missverständnis des Wortes “Ladybug” , Marienkäfer, hindeuten oder auf ihr rot gepunktetes Kleid anspielen, welches sie sich zu ihrer Abreise gekauft hatte.
In einem früheren Brief an Fritz vom 14.12.1939 berichtet Hilde Edith aber auch von Problemen, und zwar mit „dem Commitee“. Auch wenn nicht ganz klar wird, um welches Committee es sich handelt, hatte es offenbar Verfügungsgewalt über die Kinder der Kindertransporte, gehörte also wohl in den Zusammenhang des Refugee Children’s Movement (RCM). Hilde wohnte zu dieser Zeit noch in der Pension in Blackpool, Lancashire. Sie schreibt:
”Das Committee hat Vollmacht über uns und hat das volle Recht, uns in Haushaltsstellen zu schicken.” Weiter erzählt sie, dass das ”Committee“ sie (die Kinder) überhaupt nicht kenne, Lügen über sie erzählt bekomme, ihnen aber nicht glaube und ”dann jedesmal Krach“ schlage. Sie berichtet auch von einem Vorfall, der sich erst vor Kurzem ereignet habe, bei dem 2 Mädchen von der Wirtin des Nachbarhauses gefragt wurden, ob sie schon Tee hatten, und die ihnen 2 ct für Süßigkeiten gab. Hilde-Ediths ehemalige Wirtin erfuhr davon und schrieb einen Brief an das ”Committee”, das daraufhin bei ihnen vorbeikam. In dem Brief an das ”Committee” stand laut Hilde Edith, dass alle ”achtzehn” bei der Nachbarin um Geld gefragt hätten. Die Kinder versuchten dem ”Committee” zu erklären, was vorgefallen war, dieses glaubte ihnen jedoch nicht und sagte, dass es genug für sie getan habe und sie nun "in Haushaltsstellen [...] schicken“ wolle.
Laut Hilde Edith reichte auch das “Taschengeld” des “Comittees” nicht, da sie pro Woche 6 ct bekämen und davon alles Nötige kaufen sollten. Allein “ Zahnpasta und Seife” koste aber weit mehr. Dazu käme noch Porto und andere Ausgaben. Hilde Edith hofft einen Ausweg zu finden und so schnell wie möglich nichts mehr mit dem “Committee” zu tun zu haben.
Aus Hilde Ediths Bericht lässt sich entnehmen, dass sie die für sie zuständige Hilfsorganisation (“Committee”) nicht gut findet. Man lüge dort, kenne seine “Schützlinge” nicht, glaube ihnen nicht und versorge sie finanziell nicht ausreichend. Nun wissen wir natürlich nicht, ob es sich dabei nur um einen Einzelfall handelte oder auch nur um Hildes subjektive Meinung. Dass es Probleme dieser oder anderer Art gab und die Kinder in England auch nicht generell und vorbehaltlos willkommen waren, ist bekannt. Auch das gehört zur Problematik dieser Transporte.
Hilde hat, wie wir bereits erwähnten, umfangreiche Erinnerungen niedergeschrieben, auch wenn wir von ihnen erst einen Teil kennen. Diese konzentrieren sich allerdings auf ihr früheres Leben, vor allem in Deutschland. Für ihr Leben in England sind die Nachrichten dagegen spärlich. Bill McCartney bestätigt dies: „In Hildes Geschichten geht es hauptsächlich um Menschen und Situationen, die sie kannte. Sie erzählt uns nie von sich selbst.“ Trotzdem konnten wir, vor allem mit der Hilfe von Judy und Bill, Hildes Lebensweg nach der Zeit in der Red Hill School in grundsätzlichen Zügen nachverfolgen.
Hilde war völlig mitttellos aus Deutschland geflohen, und ganz sicher konnten ihre Eltern sie in England auch nicht unterstützen. Zum Glück bekam sie Unterstützung von ihrem Onkel Hermann Hecht aus Amerika, der sie und ihren Cousin Heinz auch in die USA hatte holen wollen. Er zahlte die vollen Schulgebühren von 80 £ im Jahr. Es könnte sogar sein, dass er zugesagt hatte, auch ihr Studium zu finanzieren, denn Hilde wollte ursprünglich (zumindest im Altter von 14 Jahren) Ärztin werden. Daraus wurde letzten Endes jedoch nichts, ohne dass wir die Gründe kennen. Vielleicht waren sie finanzieller Natur, so wie bei Hannelore Bier, die ebenfalls Medizin studieren wollte, diesen Plan aber auch aufgeben musste. Vielleicht lag es auch an Schwierigkeiten mit den Schulabschlüssen. Dass im Zuge der Flucht auch mit den Kindertransporten Berufsvorstellungen und Lebensträume zerbrachen, sehen wir auch bei anderen ehemaligen Schülerinnen der KLS.
Hilde Edith Levi verließ die Red Hill School offiziell am 18.07.1946 im Alter von 21 Jahren. Sie wurde nun zu Familie Jeffrey geschickt - Frau Jeffrey, ihrem Mann Walter und deren Tochter Eileen, bei denen sie unterkommen konnte.
Die drei lebten in einem Dorf namens Sutton Valence in der Nähe von Maidstone. Sie kümmerten sich so gut um Hilde, dass sie in kürzester Zeit eine Art zweite Familie für sie wurden. Hilde kam in einem Haus namens „The Radicans“ unter, welches von Walter Jeffrey in den frühen 1900er Jahren gekauft worden war. Das „Radicans“ war ein kleines Abstinenzhotel, das für Gäste konzipiert wurde, die keinen Alkohol tranken. In diesem Hotel verkauften Hilde und Eileen Jeffrey, die ledig war, sonntags Nachmittagstee. Eileen begleitete und unterstützte Hilde auch auf ihrem weiteren beruflichen Weg.
So belegte Hilde zunächst einen Stenographiekurs, dann verfolgte sie eine gehobene Ausbildung zur „Associate for the Chartered Institute of Secretaries“. Diese Ausbildung schloss sie im Jahr 1963 ab. Dieser Abschluss eröffnete ihr viele neue Möglichkeiten. Inzwischen – 1960 – hatte Hilde auch die britische Staatsbürgerschaft erhalten.
In den folgenden Zeilen berichtet Bill McCartney aus seinen Aufzeichnungen und Recherchen über Hildes weiteren Werdegang:
„Hilde musste arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und den Unterricht zu bezahlen. Sie stand der Familie Jeffrey sehr nahe, insbesondere Eileen, die sie dazu überredete, die oben genannten Qualifikationen zu erwerben. In den folgenden 20 Jahren hatte sie mehrere Jobs, in der Regel als Buchhalterin. 1968 verließ sie „The Radicans“ und ging nach London, wo sie ebenfalls mehrere Jobs hatte. Die längste Anstellung hatte sie anscheinend in Trinity House in London, wo sie 10 Jahre lang (1975-1985) beschäftigt war. Trinity House ist die Einrichtung, die alle Leuchttürme und Rettungsboote im Vereinigten Königreich finanziert und betreut. Es handelt sich um eine sehr traditionsreiche Organisation mit engen Verbindungen zur Royal Navy. Wir haben einige Fotos aus ihrer Zeit dort, eines davon scheint eine Veranstaltung zu zeigen, die wie ihre Ruhestandsfeier im Jahr 1985 im Alter von 60 Jahren aussieht. Damals war dies im Vereinigten Königreich für alle Damen obligatorisch. Sie bekommt immer noch eine Rente von Trinity House, die von der Stadtverwaltung in Tower Hamlets London verwaltet wird, um die Kosten für ihr Pflegeheim zu decken, in dem sie sich nun befindet.
Nach ihrem Eintritt in den Ruhestand arbeitete Hilde weiterhin als selbständige Buchhalterin für eine Reihe von Kunden, bis sie 80 Jahre alt wurde. Persönlich hatte sie eine Beziehung mit Ernest Jeffrey, aber er war viel älter als Hilde und starb früh. Hilde war mit dem Rest der Familie verbunden und verbrachte jedes Ostern und Weihnachten mit Eileen Jeffrey und ihrer Familie. Judy und ich haben Eileen vor ein paar Jahren besucht und sie ist ähnlich alt wie Hilde.
Hilde hat immer gern getanzt und war sogar noch im Alter von 87 Jahren mit einer Gruppe bei den Olympischen Spielen in London 2012 dabei. Sie verbrachte viel Zeit damit, ihre Familiengeschichte zu erforschen und zu versuchen, Geld von den Schweizer Banken zu bekommen, von dem sie glaubte, dass die Familie Hecht es gehabt haben könnte, und Wiedergutmachung für Schäden zu erhalten. Sie kaufte ein Haus in Whitstable in Kent, das sie immer noch besitzt. Hilde besuchte sogar Schreibkurse, um zu lernen, wie man eine Autobiografie schreibt.“
Als wir 2021 mit der Erforschung von Hilde Ediths Lebensgeschichte begannen, erfuhren wir, dass Hilde noch lebte und inzwischen 96 Jahre alt war. Dieses hohe Alter forderte allerdings seinen Preis, Hilde hatte Alzheimer und lebte seit einigen Jahren in dem Jüdischen Pflegeheim Heathlands Village bei Manchester. Doch mit ihrer Großnichte Judy und Bill McCartney hatte sie zwei Menschen, die sich in für uns berührender Weise um sie kümmerten, sie wurde gut versorgt und – wie Judy sagt – „es ging ihr gut“.
Im Februar 2022 ist Hilde Edith Levi gestorben, im Alter von beinahe 97 Jahren.
Uns bleibt noch ein trauriges Kapitel zu berichten, und das ist das Schicksal ihrer Familie. Wie Hilde berichtet, hatte sie beim Abschied vor der Abreise mit dem Kindertransport im Juli 1939 „irgendwie das Gefühl, dass ich sie nie wiedersehen würde“. Dies sollte sich tragischerweise bestätigen, denn beinahe die gesamte große Familie Levi-Hecht wurde im Holocaust ermordet (siehe dazu ausführlich XXX).
Die Familie hatte in der Zeit nach Hildes Abreise verzweifelt versucht, ins Ausland zu fliehen. Onkel Hermann Hecht aus den USA hatte sogar für die Eltern von Hilde und ihrem Cousin Heinz „Affidavits“ geleistet, Bürgschaften und die entsprechenden Zahlungen als Voraussetzung für die Einreisegenehmigung in die USA. Teilweise waren sogar schon die Visa ausgestellt worden und die Schiffskarten besorgt. Doch aufgrund der restriktiven Einwanderungspolitik der USA und anderer Staaten dauerte alles zu lange, und spätestens mit dem Kriegseintritt der USA wurde alles zunichte gemacht.
Die Eltern von Hilde wurden am 22.10.1941 ins Ghetto Litzmannstadt (Łódź) deportiert. Irma starb offiziell noch vor Ort an einer Herzmuskelerkrankung am 23.04.1943. Hermann wurde am 28.09.1942 ins Vernichtungslager Kulmhof deportiert und dort noch am selben Tag ermordet. Auch Irmas Geschwister und ihre Ehepartner – Hildes Onkel und Tanten mütterlicherseits – wurden fast alle ermordet: Tante Gertrude in Treblinka, Onkel Jonas und seine Frau Sofie in Auschwitz, Sofies Bruder Moritz und ihre Schwester Ida ebenfalls in Treblinka, Onkel Hermann und seine Frau Margarete, die Eltern von Cousin Heinz, in Łódź, ebenso wie Tante Recha, ihr Mann Josef und dessen Schwester Rosa, Tante Lea in Kulmhof.
Ermordet wurden auch Hermanns Schwestern, Hildes Tanten väterlicherseits: Tante Jettchen, Tante Flora mit ihren beiden Töchtern Ilse und Johanna, Tante Lina und Tante Berta, die Großmutter von Judy, mit ihrem Sohn Arno.
Nur wenige überlebten: Irmas Bruder Bruno mit seinen vier Kindern – der Hilde auf dem Bahnhof in Köln verabschiedet hatte – denn er war salvadorianischer Staatsbürger und konnte über Spanien in die USA fliehen; Hildes Cousin Heinz, der mit der Jugend-Alijah nach Palästina gegangen war; und Judys Vater Fritz Adler, Hildes Cousin, der 1939 ebenfalls nach England geflohen war.
Onkel Bruno stand während des Krieges in Briefkontakt mit Hildes Cousin Heinz und berichtete ihm schon im Jahr 1943 von den Deportationen und auch den ersten Todesfällen. Da er ebenfalls Briefkontakt zu Hilde hatte, dürfte auch sie in dieser Zeit die ersten schlimmen Nachrichten bekommen haben. Das ganze Ausmaß der Vernichtung wurde ihr aber sicher erst nach dem Krieg bewusst.
Die wenigen Überlebenden waren nach dem Krieg zudem über die ganze Welt verstreut: El Salvador, USA, Großbritannien, Palästina. Onkel Bruno hat Hilde nach dem Krieg wohl besucht und ihr Bücher und Unterlagen gebracht, die er noch hatte. Beide haben gemeinsam mit Cousin Heinz in Israel in den Jahren 1959/1960 zumindest einen Antrag auf Rückerstattung erfolgreich gestellt (über weitere Verfahren wissen wir noch nichts). Und Onkel Hermann in den USA hatte, wie bereits beschrieben, Hildes Schulgebühren bezahlt. Ob und in welchem Ausmaß in der folgenden Zeit noch Kontakt bestand, ist uns nicht bekannt.
Es scheint so, als hätte Hilde lange gebraucht, um den Mut zu fassen, sich mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen zu können. Im Juni des Jahres 2000 – im Alter von 75 Jahren – vereinbarte sie schließlich einen Termin im German Historical Institute in London, um das „Gedenkbuch des Deutschen Bundesarchivs“ zu sichten, in dem alle bekannten Namen jüdischer Opfer der NS-Diktatur erfasst werden. Von ihrer Suche bietet sie uns eine sehr berührende Schilderung – allein in einem Raum voller Bücher, in einer sehr emotionalen und bedrückenden Atmosphäre – bis ihr in dem stickigen Raum die Luft wegblieb.
„Ich hatte keine Vorstellung. Sie waren alle da! Meine Eltern, Onkel, Tanten! So viele von ihnen! Sogar ihre Geburtsdaten und die Orte ihres Todes. Ich fand sogar einige Freunde aus längst vergangenen Zeiten.“
Vor der Türe musste Hilde tief Luft holen. Sie dachte noch einmal an die vielen Namen in den Büchern, hinter denen Leben steckten, die auf grausame Weise beendet wurden. Dann blickte sie auf das Gebäude zurück und sprach leise noch einen letzten Gruß. Nun wollte sie „sich zusammenreißen, stark sein und nach vorne schauen“. Doch sie sagte auch: „If I do much more pulling together, I‘ll fray at the edges.“
Diese Erfahrung im Bundesarchiv muss sehr hart für Hilde gewesen sein und ihrem Mut kann man nur höchsten Respekt entgegenbringen. Dieser Einblick in ihre Gefühle war für uns sehr eindrucksvoll und ermöglichte es uns, eine ganz andere, emotionale Seite von ihr kennenzulernen. Beim Lesen waren wir sehr ergriffen und gleichzeitig völlig beeindruckt.
Hilde wurde über Jahre diskriminiert und aus der Gesellschaft gedrängt, von der Schule geworfen, ihrer Zukunftsträume beraubt. Sie musste in einer vielleicht traumatischen Aktion ins Ausland fliehen, völlig mittellos, und alles hinter sich lassen, sich dann in der Fremde einfinden und aus eigener Kraft ein neues Leben aufbauen. Sie verlor fast ihre ganze Familie und stand nach dem Krieg ganz allein da.
Doch auf den Fotos, die wir entdeckt haben, sieht man eine Frau, die ihre Lebensfreude trotz der harten Zeit wiedergefunden hat. So scheint Hilde ein erfülltes Leben in Großbritannien geführt zu haben. Denn aus einigen Bildern lässt sich entnehmen, dass sie viel und gerne unter Menschen war und dort auch enge Bindungen entstanden sind. Ob im Feriencamp, auf Feiern, an Weihnachten oder auf der Arbeit, Hildes Lachen sticht immer heraus. Auf den meisten Bildern, die wir von ihr gesehen haben, lächelt sie, fast schon so als wäre es ihr Markenzeichen.
Sie nahm noch im hohen Alter an der Eröffnungsfeir der Olympischen Spielen in London 20212 teil und war aktiv in der gemeinnützigen Organisation „Japan Society“ tätig, die freundschaftliche Beziehungen und kulturellen Austausch zwischen Großbritannien und Japan fördert. Hilde war demnach immer eine aktive, aufgeweckte und sozial engagierte Frau. Trotz dieser harten und unvorstellbaren Schicksalsschläge begegnete uns in unserer Arbeit eine unfassbar starke Frau. Auf die Frage, ob Hilde später ein glückliches Leben geführt habe, antworteten uns Bill und Judy mit einem ganz entschiedenen „Yes!“. Sie erzählten, sie habe viel erlebt und ihre Liebe zum Tanzen entdeckt. Daher haben wir den Eindruck, dass sich mit dem Transport nach Großbritannien ihr Leben zwar komplett geändert hat, dass sie ihm aber trotzdem eine sehr positive Richtung geben konnte.
Dennoch fällt es uns schwer ein Urteil über Hildes Leben zu fällen. Denn im Grunde können wir nur nach dem urteilen, was Hilde uns hat sehen lassen. Ihre tiefsten Gefühle und wie hart das alles gewesen sein muss, ist kaum nachvollziehbar. Jedoch sind wir sehr froh, dass wir diesen Einblick in ihr Leben erhalten durften, welcher uns mit Sicherheit für immer erhalten bleiben wird. Daher sind wir sehr dankbar für diese Erfahrung.
Hilde hätte gerne eine eigene Autobiografie geschrieben, doch dies war ihr leider nicht mehr möglich. Auch wenn wir ihr diesen Wunsch nicht erfüllen konnten, sind wir geehrt, ihr Andenken mit unserer Biografie zu wahren. Als Würdigung für sie und als Mahnung für uns.
Wir möchten uns besonders bei Bill McCartney und bei Judy Cook bedanken für ihre langfristige Unterstützung und ihre Hilfsbereitschaft. Ohne die beiden hätten wir niemals so viele Informationen erhalten.
Einen weiteren Dank möchten wir an Karsten Brunk richten, der uns eine Ausgabe der Rodheimer Hefte Nr.10 (2019) und den Kontakt zu Bill McCartney und Judy Adler vermittelt hat.
Zudem danken wir Herrn Basalamah, der uns die Dissertation von Dr. Friedrich Hermann Levi zukommen lassen hat.
Ebenso danken wir Herr Erkelenz für die einmalige Erfahrung im Projektkurs Geschichte und die langfristige Unterstützung und Anleitung.
Wir konnten so viel aus diesem Kurs mitnehmen.