Gertrud Katzenstein (geb. Bernstein)

von Numa Butscheid

 

Mein Name ist Numa, ich habe 2023 an der KLS mein Abitur gemacht und habe im Rahmen des Zusatzkurses Geschichte das Schicksal der ehemaligen Schülerin Gertrud Bernstein erforscht.

Für mich war Geschichtsunterricht immer mit gemischten Gefühlen verbunden. Mir war bewusst, dass die Aufklärung und Auseinandersetzung mit der Geschichte unserer Welt von hoher Relevanz ist, aber der Unterricht selbst hat mich nie so gepackt, wie es der Zusatzkurs tat. Die stumpfe Konfrontation mit Daten und Opferzahlen hat bei mir eigentlich immer zu dem deprimierenden Gefühl geführt, nichts tun zu können, und einen Zugang zur Geschichte habe ich dadurch nie gefunden. Vielleicht lag dies an meiner eigenen Abwehrhaltung, die sich mit der Zeit entwickelte, aber viel mehr noch daran, dass die Komplexität, die ein Thema wie die Zeit des Nationalsozialismus mit sich bringt, erstmal ziemlich überwältigend ist.

Der Ansatz des Zusatzkurses, sich anhand einer bestimmten, individuellen Biographie einer Schülerin der eigenen Schule mit dem Thema auseinanderzusetzen, hat es mir ermöglicht, mich in die Zeit zurückzuversetzen. Ich wollte die geschichtlichen Hintergründe verstehen, um mir das Leben in der damaligen Zeit besser vorstellen zu können.

Zum ersten mal im Geschichtsunterricht hatte ich das Gefühl, selber aktiv etwas gegen das Vergessen der Schicksale der zahlreichen Opfer des Holocaust zu tun und einen kleinen Beitrag dazu leisten zu können, dass sich ein solches Ereignis nie mehr wiederholen wird.

Auch wenn es nur die Biographie einer einzigen Person ist, regt sie vielleicht dennoch jemanden zur Reflektion an und bewirkt damit schon einen Schritt in die richtige Richtung.

Für mich persönlich ist das Projekt noch besonderer geworden, als ich Kontakt zu dem Enkel von Gertruds Bruder, Christopher Burnton, aufnehmen konnte. Es lässt die Erinnerung an Gertruds Leben noch einmal aufleben und schafft auch so viele Jahre später neue Verbindungen. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bedanken für die Offenheit, mit mir in Kontakt zu treten.

Meine Recherche
Jahresbericht der Königin-Luise-Schule Köln für das Schuljahr 1913/14 (Schularchiv)

Meine Recherche begann mit einem einzigen Dokument: dem Jahresbericht der Königin-Luise-Schule von 1913. Dieses verriet mir Gertruds Namen, ihr Geburtsdatum, ihren Geburtsort, ihre Konfession und den Stand ihres Vaters. Diese Eckdaten sind erstmal recht spärlich und sagen wenig über Gertruds Leben aus. Trotzdem bilden sie die Grundlage meines Rechercheprozesses, weil es mir auf Basis dieser Informationen gelungen ist, immer mehr über Gertrud herauszufinden und ihr Leben Stück für Stück zu rekonstruieren.

 

Viele Informationen verdanke ich dem Ahnenforschungsportal Ancestry. Hier konnte ich zum Beispiel über die Dokumente des Index von Juden, deren deutsche Staatsbürgerschaft vom Nazi-Regime annulliert wurde, den Namen und das Geburtsdatum ihres Mannes und Sohnes herausfinden, was für den weiteren Verlauf der Recherche von extrem hoher Relevanz war. Auch über die Flucht nach und das Leben in Großbritannien erfuhr ich durch Ancestry einiges. Vor allem durch das Dokument zur Registrierung in Großbritannien, als ausländische Internierte im 2. Weltkrieg und Auszüge aus Wählerregistern in England, durch die ich unter anderem etwas über die neue Adresse herausfinden konnte.

Jahresbericht der Königin-Luise-Schule Köln für das Schuljahr 1913/14 (Schularchiv)

Die Wohnsituation in Deutschland ließ sich mit Hilfe der historischen Adressbücher nachvollziehen, welche über die Jahre hinweg die Umzüge des Vaters und später des Mannes dokumentieren. Auch Veränderungen bezüglich der Inhaber der Familienfirma wurden so deutlich und zeigen zum Beispiel Ludwigs Beitritt.

 

Um das Schicksal der Firma nach Hitlers Machtübernahme nachvollziehen zu können, spielten in meiner Recherche besonders Erwähnungen im NS-Hetzblatt “Der Stürmer” eine große Rolle, welche mir von der Germania Judaica zur Verfügung gestellt wurden.

 

Durch die Kontaktaufnahme mit dem NS-Dokumentationszentrum erhielt ich wichtige Dokumente, wie Auszüge aus den Rückerstattungsprozessen nach dem Krieg, in denen Ludwig selbst Angaben zu ihrem Besitz macht und das Fluchtgeschehen schildert. Weitere Informationen wurden mir freundlicherweise von Herrn von Nathusius, dem Stadtarchivar Fröndenbergs, zusammengestellt. Er beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit der Familie Bernstein, was einen Austausch von Rechercheergebnissen und auch den Kontakt zu Christopher Burnton ermöglichte, wofür ich sehr dankbar bin.

Familie und Herkunft

Gertrud Katzenstein (geb. Bernstein) wird am 29.07.1895 in Köln geboren. Sie ist die Tochter von Martha Bernstein (geb. Goldschmidt), geboren am 15.01.1868 in Mainz, und David Bernstein, geboren am 16.09.1858 in Mainz. Die beiden heirateten am 13.05.1891 in Mainz und bekamen am 19.04.1893 ihren gemeinsamen Sohn, Gertruds zwei Jahre älteren Bruder Hans Karl Bernstein. Gertruds Eltern müssen zwischen 1888 und 1889 nach Köln gezogen sein, die erste Zeit in Köln war besonders von vielen Umzügen geprägt.

Sie leben bis 1891 in der Malzmühle 13. Danach ziehen sie zu St. Agatha, wechseln in derselben Straße aber dreimal das Haus von Hausnummer 12 zu 13 zu 30 zu 32. Dort ist auch die erste Niederlassung der Firma Bernstein & Mayer in Köln, von welcher Gertruds Vater David Teilhaber ist. Das wechselt aber noch einmal, als die Familie 1896 in die Sterngasse 7a zieht. Die Firma bleibt dort auch erstmal weiterhin, aber die Familie lebt ab 1907 in der Bismarckstr. 52-54. Später befindet sich die Firma in der Wolfsstr. 12-14.

Ob private oder berufliche Gründe für diese häufigen Umzüge verantwortlich sind, wissen wir nicht. Allerdings entspricht dies durchaus einem allgemeinen Phänomen dieser Zeit, einer ausgeprägten innerstädtischen Wanderung: „Innerhalb der Stadt waren Menschen in einem ganz unglaublichen Umfang unterwegs, auf der Suche nach einer billigeren oder besseren oder arbeitsplatznäheren Wohnung.“.

Zusammen mit ihrem Bruder Hans Karl wächst Gertrud in wohlhabenden Verhältnissen auf. Als Teilhaber der Firma Bernstein & Mayer, welche sich auf die Fabrikation von Posamenten für Möbel und Dekorationen spezialisiert, muss Gertruds Vater gut verdienen. Die Firma soll erfolgreich und nobel gewesen sein, “beschäftigte vor der Machtübernahme [der Nazis] etwa 100 kaufmännische Angestellte und hatte eine Filiale in Berlin”.

Gertruds Familie ist jüdischen Glaubens, über ihre Religiosität liegen mir allerdings keine Informationen vor. Es ist jedoch zu vermuten, dass die Familie ihre Religion weniger orthodox auslebt, da es zu der damaligen Zeit etwas besonderes ist, dass Gertrud, als Mädchen, zur höheren Schule gehen darf. Ein anderer Hinweis zur weniger orthodoxen Lebensweise könnte sein, dass beide Söhne von Hans Karl später Nicht-Jüdinnen heiraten.

Schulzeit

Wie bereits erwähnt, genießt Gertrud eine „höhere“ schulische Ausbildung. Damals sind Schulen für Jungen und Mädchen strikt voneinander getrennt und es wird zwischen “Höheren Knabenanstalten” und “Höheren Töchterschulen” unterschieden. Lange gibt es nur private Schulen für Mädchen und erst im Jahr der Reichsgründung 1971 wird die erste städtische und damit konfessionell unabhängige Höhere Töchterschule Kölns gegründet - die heutige Königin-Luise-Schule. Diese wird allerdings erst 1907 auf diesen Namen getauft, als es eine zweite städtische Höhere Töchterschule in Köln gibt.

Königin-Luise-Schule in der St. Apernstraße, Straßenansicht um 1900 (Schularchiv)

Städtische Schulen sind zwar weniger kostspielig als private Schulen, aber dennoch keineswegs an Kinder mittelständischer Familien gerichtet, da das Schulgeld das normale Einkommen eines Arbeiters weit übersteigt. Auch hier ist also der Wohlstand von Gertruds Familie zu erkennen.

Die Bildung ist damals nicht nur geschlechtergetrennt, sondern auch geschlechtsspezifisch ausgerichtet. So sollen Mädchen eine “spezifisch weibliche Bildung” erhalten, die sie später auf ihre Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter vorbereiten soll. Durch die Preußische Mädchenschulreform 1908 wird auch die Königin-Luise-Schule zum „multifunktionalen Schulzentrum“. Dies heißt in diesem Fall, dass der Fokus auf dem Lyzeum liegt, einer siebenjährigen Schulbildung; im Anschluss kann man entweder das Oberlyzeum zur wissenschaftlichen Ausbildung oder die zweijährige Frauenschule besuchen, an die sich Lehrgänge zur Ausbildung als Turn-, Nadelarbeits-, Hauswirtschafts- und Sprachlehrerin und, wie in Gertruds Fall, als Kindergärtnerin anschließen. Sie absolviert 1913 ihre Prüfung zur Kindergärtnerin, arbeitet später allerdings nicht selbst, weshalb sie wohl auch nicht als Kindergärtnerin tätig ist.

Leben vor 1933

Gertrud lebt in einer dramatischen Zeit. Kurz nach ihrem Examen bricht der Erste Weltkrieg aus.

Damals war von Trauer und Angst aber erstmal wenig zu sehen, weil die Kriegsbegeisterung anfangs deutlich überwog. In den Krieg ziehende Soldaten wurden bejubelt, ihre Züge mit Blumen geschmückt und Parolen wie “Siegreich woll’n wir Frankreich schlagen” auf Banner geschrieben. Selbst in Schulen werden die “Siege” der Soldaten mit Gesang gefeiert.

Die anfängliche Begeisterung ebbt allerdings mit den ansteigend schweren Lebensbedingungen ab und statt der von Kaiser Wilhelm II. versprochenen “herrlichen Zeit” tritt vielmehr das Gegenteil ein. Bereits im Winter 1916/17 kam es zum Höhepunkt der Hungersnot, weil die Nahrungsmittel trotz staatlicher Rationierung nicht für die Bevölkerung reichten. Hunderttausende Menschen starben aufgrund der Folgen von Unterernährung und Hunger, die Kindersterblichkeit stieg um 50 Prozent und ernährungsbedingte Krankheitsbilder wurden zum Alltag.

Auch das Kriegsende bringt keine plötzliche Besserung mit sich. Die Lebensmittelkrise besteht weiterhin, die immer schlimmer werdende Inflation führt zur rasanten Wertminderung des eigenen Hab und Guts und das Deutsche Reich befindet sich in einer wirtschaftlichen Notlage. Darüber hinaus ist die Gesellschaft in Aufruhr - der Sinn des Krieges wird in Frage gestellt, es herrscht Frust und Misstrauen gegenüber staatlichen Instanzen, Angehörige trauern um ihre verstorbenen Familienmitglieder und die zurückkehrenden Soldaten sind physisch und psychisch so gezeichnet, dass eine erneute Eingliederung in die Gesellschaft nur schwer möglich ist.

Trotz all der Schwere in dieser Zeit, heiratet Gertrud ein halbes Jahr nach Kriegsende, am 18.05.1919, Ludwig (Lutz) Katzenstein, geboren am 17.05.1891 in Kassel. Er ist der Sohn von Franziska Katzenstein (geb. Plaut), geboren am 10.04.1867 in Eschwege, und Otto Katzenstein, geboren am 16.05.1862 in Kassel. Seine Eltern heirateten am 30.05.1890 in Eschwege.  Ludwig wuchs zusammen mit seinem Bruder Kurt Katzenstein, geboren am 27.02.1995, in Kassel auf.

Ludwig wird zum Mitinhaber der Firma Bernstein & Mayer und arbeitete dort auch bis zur Zwangsschließung. Gertrud und Ludwig bekommen am 15.03.1920 ihren Sohn, Heinz Egon Katzenstein. Zum Zeitpunkt seiner Geburt wohnen sie im Haus Aachener Straße 567. Erst 1925 ziehen sie in die Mozartstraße 13, eine 6-Zimmer-Wohnung, in der sie auch bis Herbst 1932 bleiben. Im August 1932 stirbt Gertruds Vater David und obwohl nicht bekannt ist, woran er stirbt, lässt sich vermuten, dass es altersbedingt ist, da er zu seinem Tod 73 Jahre alt ist.

Ab September 1932 mieten Gertrud und Ludwig ein großes Einfamilienhaus in der Wiethasestraße 33 in Köln-Braunsfeld. Zu der Zeit gehört das Haus dem jüdischen Inhaber eines Schuhgeschäfts (BOA auf der Hohe Straße), Herrn Blech. Spätestens zum Zeitpunkt, als dieser sich 1936 entscheidet auszuwandern und das Haus zu verkaufen, schlägt sich die politische Lage auch in der Wohnsituation sichtbar nieder.

Leben nach 1933

Mit der Machtübernahme der Nazis gerät das Leben der Familie zunehmend aus den Fugen. Der neue Besitzer des Hauses kündigt ihnen zum Herbst 1936 und zwingt sie so dazu, erneut umzuziehen. Bis 1938 wohnen sie deshalb in einem gemieteten Einfamilienhaus in der Paulistraße 29.

Auch für die wirtschaftliche Situation wird die NS-Herrschaft zum Verhängnis. Die Familienfirma wird zum ersten Mal in der 10. Ausgabe 1938 der antisemitischen Wochenzeitung “Der Stürmer” in der Rubrik “Kleine Nachrichten” erwähnt, dessen Überschrift lautet “Was das Volk nicht verstehen kann”. Hier wird die Firma Bernstein & Mayer angegriffen, weil es sich um eine jüdische Firma handelt. Offensichtlich gibt es zu dem Zeitpunkt noch nichtjüdische Kunden, die der Firma bisher das Überleben gesichert haben. Diese werden nun in der Mitteilung aufgelistet - namentlich und mit Wohnadresse -  und damit vor der Öffentlichkeit diskreditiert. Der Druck, unter dem die Kunden jetzt stehen, soll dafür sorgen, dass sie sich von der Firma distanzieren. Die Mittelung schadet also direkt der Firma und damit Gertruds Familie.

Passanten vor einem Werbekasten des „Stürmer“, Worms 1935 (Deutsches Bundesarchiv Bild 133-075)


Schon in der 12. Ausgabe von 1938 wird die Firma erneut erwähnt. Dieses Mal wird sie allerdings direkt öffentlich angegriffen und der Ruf der Firma zerstört. Der Artikel lautet wie folgt:

 

Jüdische Tarnung in Köln - Die Firma Hasse und Co. in der Wolfsstraße

Die jüdische Firma Bernstein & Mayer in der Wolfsstr. 12/14 zu Köln am Rhein (Inhaber Jud Katzenstein) versuchte sich in echt jüdischer Weise zu tarnen. Der Jude gründete vor einigen Jahren die Firma Hasse und Co., ebenfalls in der Wolfsstr. 12/14. Die wirklichen Inhaber dieses Unternehmens sind die Juden Katzenstein und Mayer. Den Namen besorgten sie sich von einem armen Werkmeister namens Hasse, der im selben Hause einen kleinen Betrieb hatte. Vor 3 Jahren entließen die Juden drei Amtswalter der DAF. Auch in Berlin unterhält die Firma eine Filiale, deren Geschäftsgang ebenfalls ein ausgezeichneter ist. Die Firma Hasse macht die besten Geschäfte in Süddeutschland. Kunden, die nach Köln kommen, um die Inhaber der Firma kennen zu lernen, sind erstaunt, wenn ihnen Juden vorgestellt werden. Der Geschäftsführer der Firma heißt Albert Holthöfer und wohnt in der Gemarkenstr. 128 zu Köln-Dellbrück. Er ist durch Vermittlung der [Wirtschaftsverband] an diese führende Stellung gekommen. Zum Dank dafür verweigert er den Deutschen Gruß, erniedrigt sich zum Judengenossen und macht Bücklinge vor dem Juden Katzenstein. Als vor einiger Zeit Devisenvergehen der Firma festgestellt wurden, zahlten die Juden schnell einige tausend Reichsmark und kamen so mit einem blauen Auge davon. Die Firma Hasse und Co. ist eine üble jüdische Tarnung.”

Nach den öffentlichen Angriffen konnte die Firma dem Druck nicht lange standhalten und musste wenig später schließen, wie auch in der 30. Ausgabe 1938 im Stürmer verkündet wird:

“Lieber Stürmer! Wie in fast allen anderen Gauen und Städten des Deutschen Reiches hat auch bei uns in Köln-Richmodis die “Götterdämmerung” für die Juden ihren Anfang genommen. Infolge unserer intensiven Aufklärungsarbeit mußten bei uns neuerdings zahlreiche Judengeschäfte verschwinden. Es handelt sich um folgende:
Fa. Hasse & Co., Zweiggeschäft: Bernstein & Meyer […]
Du siehst also, lieber Stürmer, daß wir Nationalsozialisten von Köln-Richmodis nicht umsonst gekämpft haben und auf dem besten Wege sind, unsere Ortsgruppe judenrein zu machen.”

 

Das Schicksal der Familie und ihrer Firma ist leider kein Einzelfall. Zahlreiche jüdische Deutsche werden auf die gleiche Weise drangsaliert und ihre Geschäfte kaputt gemacht. Die Inhaber werden diskreditiert, die Kunden unter Druck gesetzt und Mitarbeiter ebenfalls bedroht. Obwohl dies an so vielen Stellen passiert, kann man es selten so deutlich dokumentieren, wie in dem Fall von Bernstein & Mayer. Die Erwähnungen der Firma in den verschiedenen Ausgaben des Stürmers geben die Möglichkeit sich die Situation, in der sich die Familie befand, ein Stück weit vorzustellen.

Flucht nach Großbritannien

Obwohl sich der Prozess der zunehmend schwierigen wirtschaftlichen und häuslichen Situation über mehrere Jahre hinzieht, entschließt sich die Familie erst 1938 zur Ausreise. Unter dem Vorwand, eine Orientierungsreise ins Ausland machen zu wollen, gelangen Gertrud und Ludwig kurzfristig an Reisepässe. Sie geben das Haus auf, lassen ihr gesamtes Eigentum von einem Spediteur verpacken und vorerst einlagern und verbringen die letzten Wochen vor der Ausreise bei Gertruds Mutter Martha. Der Plan ist es, noch einmal aus dem Ausland zurückzukehren, um Anweisungen zur Verladung des Eigentums zu geben und dann die endgültige Auswanderung anzutreten.

Ludwig selbst erzählt über diese improvisierte Ausreise unter anderem Folgendes: „Meine Frau nahm keinerlei Schmuck mit, weil wir beide viel zu ängstlich waren, uns irgendwelchen Gefahren auszusetzen nach den Verfolgungen und Widerwärtigkeiten, die wir in unserer Firma zu erdulden hatten und der Tatsache, daß meine Frau gelegentlich einer früheren Reise in die Schweiz in Basel aus dem Zug geholt worden war und sich einer peinlichen körperlichen Untersuchung unterziehen musste.“

Gertrud und Ludwig fahren über die Schweiz nach England und während ihres Aufenthalts in London brechen die Pogrome in Deutschland aus. In ganz Deutschland werden in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 in einem staatlich organisierten Gewaltexzess zahlreiche Synagogen angezündet, Jüdinnen und Juden überfallen und misshandelt und Geschäfte, die jüdischen Menschen gehörten, geplündert und zerstört. Mehrere hundert Menschen sterben in dieser Nacht, 30 000 Männer werden in Konzentrationslager verschleppt. Feuerwehr und Polizei greifen nicht ein, im Gegenteil, sie beteiligen sich am Geschehen. Die Judenhetze erreicht in dieser Nacht einen neuen, auch vom NS-Regime bisher nicht erreichten Höhepunkt.

Aufgrund der schrecklichen Ereignisse entscheiden sich Gertrud und Ludwig, entgegen dem ursprünglichen Plan, direkt im Ausland zu bleiben. Sie geben in Auftrag, dass ihnen ihr Eigentum nachgesendet werden soll. Allerdings erhalten sie nur Möbel und Kleidung, da wertvolle Gegenstände wie Haushaltssilber, Schmuck und Kunstgegenstände von der Zollfahndungsstelle beschlagnahmt werden.

Gertrud und Ludwig verlieren also nicht nur ihre Heimat, ihre Staatsangehörigkeit, die Nähe zu ihrer Familie und alles Vertraute um sie herum, sondern müssen auch den Verlust ihres Eigentums erleiden.

Weiteres Leben und Schicksal der Familie

In England passen sie ihre Namen der englischen Sprache an und heißen dann Gertrude, Louis und Henry Kenley. Wie genau sie ihr Leben in England finanzieren und wie die berufliche Situation ist, ist leider nicht bekannt. Es scheint allerdings in jedem Fall eine Zeit gegeben zu haben, in der Ludwig arbeitslos ist. So gibt er in dem Fragebogen für ausländische Internierte im 2. Weltkrieg am 31.10.1939 an, derzeit nicht berufstätig zu sein. Später im Jahr 1939 gibt er an, dass er zwar arbeitslos ist, sich aber bereits als “manufacturer”, also als eine Art „Hersteller“, beworben hat. Um welche Art von Hersteller es sich handelt, ist jedoch unklar.

In London wohnt die Familie dann in Grove End Gardens 208, NW8 und ist dort auch im Wohndistrikt registriert. Dort tauchen Ludwig und Gertrud auch mehrfach und bis 1965 im Wählerregister auf, es lässt sich also vermuten, dass sie nicht nochmal umziehen oder dann nur innerhalb desselben Wahldistrikts.

 

Die Familie wird zu der Zeit völlig auseinandergerissen. Sowohl Gertruds als auch Ludwigs nächste Verwandte werden durch ihr Schicksal auf der ganzen Welt verteilt.

So befinden sich Gertrud, Ludwig und Heinz Egon in England. Martha, Gertruds Mutter, bleibt in Köln und stirbt dort 1942. Hans Karl Bernstein, Gertruds Bruder, hat aus einer ersten Ehe mit Erika Mädler zwei Söhne: Ralf, geboren 1920, und Gernot, geboren 1928. Mit ihnen wandert er nach Südafrika aus. Auch sie ändern später ihren Namen, in ihrem Fall aber zu Burnton. Nach dem Zweiten Weltkrieg heiratet Hans Karl Hilda Donath, die über Prag auch nach Südafrika fliehen konnte. Ludwigs Bruder Kurt flieht letztendlich auch nach Südafrika, hält sich zwischenzeitlich allerdings auch in den Niederlanden auf. In Südafrika gründet er sogar später eine Flugschule. Ludwigs Mutter Franziska kann dagegen nicht entkommen. Sie wird am 07.09.1942 von Kassel in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und erliegt den dortigen  Haftbedingungen am 02. Februar 1943.

Gertruds Sohn, Heinz Egon beziehungsweise Henry, heiratet Lys Ortlieb und gemeinsam mit ihr bekommt er vier Kinder namens Michael G. Kenley, geboren am 06.08.1952, Vivien M. Kenley, geboren am 05.03.1954, Ruth C. Kenley-Letts, geboren am 24.08.1958, und Philip Simon Kenley, geboren am 26.05.1967.

 

Gertrude, Louis und Henry leben bis an ihr Lebensende in London. Dort stirbt Louis am 08.11.1969, Gertrude am 04.06.1977 und Henry im Juli 1995.

Quellen:

Ancestry, Einträge zu David Bernstein und Hans Karl Bernstein/ Burton (https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/25479528/person/402218896078/facts; https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/25479528/person/402279898763/facts)

DESCENDANTS OF PLAUT (https://jinh.lima-city.de/gene/chris/Plaut_Descendants_from_Reichensachsen.PDF)

GERMANIA JUDAICA, Zeitschriftendatenbank, “Der Stürmer”, 10/1938, 12/1938, 30/1938

Jüdische Schülerinnen und Schüler an Kölner Gymnasien. Ihre Geschichte(n) zwischen Integration, Ausgrenzung und Verfolgung, hg. D. Erkelenz/T. Kahl, Berlin 2023, S. 80ff.

THOMAS MERGEL, Köln im Kaiserreich 1871-1918, Köln 2018, S.197ff., v.a. 200-202

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