Elsbeth von Ameln (geb. Pollitz)

von Carl Christopher Strunz

"Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten,
nimmer sich beugen, mutig sich zeigen"

Elsbeth von Ameln (geb. Pollitz)
(entnommen aus:
Ameln, Elsbeth von:
„Köln Appellhofplatz –
Rückblick auf ein bewegtes Leben“;
Wienand Verlag, Köln 1985)

Elsbeth von Ameln (geb. Pollitz) ist eine bemerkenswerte Person, denn sie war die erste Frau unter den bedeutenden deutschen Strafverteidigern der Nachkriegszeit. Zuvor studierte sie zu einer Zeit Jura, zu der das längst nicht so selbstverständlich für eine Frau war wie heutzutage. Ihr Entschluss zu studieren traf nicht nur auf positive Resonanz. Außerdem, das ist für uns besonders interessant, erlangte sie im Jahre 1925 an der Luisenschule das Abitur und erlebte später während der Zeit des Dritten Reiches als „Halbjüdin“ Diskriminierung und Judenverfolgung am eigenen Leibe. All dies schildert sie in ihrer 1985 im Kölner Verlag „Wienand“ veröffentlichten Autobiographie „Köln Appellhofplatz“, welche sie mit 78 Jahren verfasste. Alle folgenden Informationen einschließlich der Abbildungen von Personen stammen aus diesem Werk.

Besonders ist, dass wir bei Elsbeth ihre eigene Autobiographie vorliegen haben, um sich mit ihrem Leben auseinander zu setzten, von vielen Mädchen kennen wir nicht mehr als die Namen. Dennoch kann man aus dem Leben von Elsbeth einen exemplarischen Fall machen, um sich mit dem Leben von jungen Frauen in der Zeit des Nationalsozialismus (und davor) auseinanderzusetzen.

Im folgenden werde ich mich genauer mit ihrem Leben, besonders ihrer Zeit an der Luisenschule und der Verfolgung im Dritten Reich, auseinandersetzen.

 

Die Zeit vor dem Dritten Reich – Kindheit und Jugend (1905 - 1933)

Elsbeth Pollitz wurde am 16.06.1905 in Köln, genauer in der Kyffhäuserstraße 17, geboren. Ihre Eltern waren, schenkt man ihren Schilderungen Glauben, genau die Eltern, die sich ein jedes Kind wohl wünscht, liebend, immer unterstützend und fürsorglich. Ihr Vater Oskar Pollitz (*1873) wächst in einer schon seit mehreren Generationen in Deutschland lebenden jüdischen Familie auf. Er strebt in den 1890er Jahren eine Karriere beim Militär an, will Offizier werden. Er bekommt allerdings im damaligen Deutschen Kaiserreich aufgrund seiner jüdischen Konfession keine Zulassung. Er gibt seine Karriere beim Militär auf und beschließt, Prokurist bei einer großen (jüdischen) Versicherung in Köln zu werden. In dieser Zeit lernt er viele Sprachen und spricht bald deutsch, französisch, englisch, spanisch, holländisch, schwedisch und russisch, was von seiner weltoffenen Gesinnung zeugt. Im Russischunterricht lernt Oskar Pollitz Ferdinand Reh kennen und über ihn 1903 dessen Schwester Josefine, genannt Sophrine, Reh.

(entnommen aus: Ameln, Elsbeth von: „Köln Appellhofplatz – Rückblick auf ein bewegtes Leben“; Wienand Verlag, Köln 1985)(entnommen aus: Ameln, Elsbeth von: „Köln Appellhofplatz – Rückblick auf ein bewegtes Leben“; Wienand Verlag, Köln 1985)


Bald verlieben sich die beiden ineinander und planen zu heiraten. Zu Anfang gibt es jedoch einige Schwierigkeiten, denn Sophrine Reh (*1879 in Remscheid) stammt aus einer streng evangelisch-christlichen Familie. Oskar befürchtet, dass Sophrine durch eine Hochzeit mit einem Juden in Schwierigkeiten geraten könnte. Aufgrund dessen konvertiert Oskar Pollitz 1903 zum Evangelikalismus. Großvater Reh genehmigt die Verlobung und so heiraten Sophrine Reh und Oskar Pollitz am 03.09.1904. Nach eigenen Angaben gilt in der Beziehung von Sophrine und Oskar Pollitz schon im Jahre 1904 absolute Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, wobei aber angemerkt werden muss, dass Sophrine nicht arbeitet, sondern für Haushalt und Kind zuständig ist, wie es die damalige Gesellschaft von der Frau verlangt. An der Vorgeschichte der Heirat von Oskar Pollitz und Sophrine Reh lässt sich außerdem sehr eindrücklich sehen, dass Juden auch schon vor der Zeit des 3. Reiches mit Diskriminierung zu kämpfen hatten. Wenn man beispielsweise bedenkt, dass Oskar nur aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht Offizier werden konnte, erkennt man schon in der Kaiserzeit einen gravierenden, diskriminierenden Einschnitt in sein Leben bloß aufgrund seiner Herkunft. Neun Monate nach der Hochzeit der Eltern wird Elsbeth Pollitz geboren, Oskar ist zu dieser Zeit 31 Jahre alt, Sophrine ist 26 Jahre alt. Nach der Geburt wird Sophrine Pollitz (geb. Reh) schwerst krank, sie erkrankt am Kindbettfieber und stirbt daran beinahe. So kommt es, dass Elsbeth die ersten drei Monate ihres Lebens bei ihrer Großmutter in Remscheid verbringt. Am 03.09.1905 wird Elsbeth christlich-evangelisch getauft, so wird sie auch großgezogen. Elsbeths frühe Kindheitsjahre sind geprägt von vielen Todesfällen in der Familie, so sterben von 1906 bis 1909 fünf Familienangehörige, darunter ihr Großvater Reh sowie beide Großeltern väterlicherseits: Eugenie Pollitz (geb. Hamburg) und Jakob Emanuel Pollitz. Nach dem Tod des Bruders von Oskar, Rudolf Pollitz, im Jahre 1908 zieht Familie Pollitz aus der zuvor gemeinsam mit Rudolf Pollitz bewohnten 10-Zimmerwohnung in der Kyffhäuserstraße in eine 5-Zimmerwohnung in der Siebengebirgsallee 16 in Klettenberg.

Siebengebirgsallee im Jahr 1920

Siebengebirgsallee im Jahr 1920

Heute befindet sich diese Wohnung in einem renommierten Kölner Wohngebiet, damals befand sich das Haus noch in einem Randbezirk, der an freies Land grenzte. Allerdings ist diese Wohngegend schon damals sehr begehrt, dort stehen "Neubauten" zu teuren Preisen.

(entnommen aus: Ameln, Elsbeth von: „Köln Appellhofplatz – Rückblick auf ein bewegtes Leben“; Wienand Verlag, Köln 1985)

(entnommen aus: Ameln, Elsbeth von: „Köln Appellhofplatz – Rückblick auf ein bewegtes Leben“; Wienand Verlag, Köln 1985)


Dass Familie Pollitz sich solch eine Wohnung leisten kann, zeugt definitiv von der guten finanziellen Lage der Familie. Sie gehört wahrscheinlich dem Bürgertum bzw. der oberen Mittelschicht an, was zur damaligen Zeit Wohlstand und gesellschaftliches Privileg garantiert.

Elsbeth beschreibt ihre Kindheit bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs als „glücklich, geleitet, behütet, ermahnt und erzogen, eingebettet in die Liebe der Eltern“ (Köln Appellhofplatz, S. 19).

Ostern 1912 kommt Elsbeth Pollitz in die Schule, ein Jahr später als üblich, weil sie körperlich sehr „zart“ sei. Zunächst fühlt Elsbeth sich in der Volksschule äußerst unwohl, kommt nicht mit dem strengen Erziehungsstil dort klar, der dem liebend unterstützenden der Eltern entgegen steht. Von ihrem ersten Zeugnis an sticht Elsbeth durch ihre besonders guten schulischen Leistungen heraus, so bekommt sie nur Einsen und ein besonderes Lob der Lehrerin. Doch als Elsbeth in die zweite Klasse kommen soll, muss ihre Mutter aufgrund von Herzproblemen auf eine mehrmonatige Kur, Elsbeth kommt zu ihrer Großmutter und ihren Tanten nach Remscheid, wo sie vorerst weiterhin auf die Schule gehen soll. Elsbeth bezeichnet die Schule dort als „finsteres Mittelalter“ (Köln Appellhofplatz, S.22), dort wurden Prügelstrafen verhängt und ein viel strengerer Ton als in der Stadt ist gang und gäbe. Außerdem schreibt Elsbeth, dass sie in Remscheid der strengen, „bösartigen“ Erziehung ihrer Tanten unterliegen muss, die bei ihr tiefe seelische Wunden hinterlässt. So ist sie um so froher, als sie bald wieder zu den Eltern nach Köln zurückkommen kann, wo sie sich vertraut und geborgen fühlt. Die Eltern sind sehr fürsorglich und bemüht um sie. Zurück in Köln besucht sie das Lyzeum III in der Lindenstraße, eine Außenstelle der Kaiserin-Augusta-Schule. Dort lernt Elsbeth ihre beste Kindheitsfreundin Phyllis kennen, die sie noch einige Jahre begleiten wird.

Oskar Pollitz wird 1914 zu Beginn des 1. Weltkrieges zur Armee eingezogen, kämpft später sogar an der Front. Er sorgt sich während der Kriegszeit sehr um seine Familie, kommt sie so oft wie es geht besuchen und schreibt wöchentlich Briefe von der Front. Auch während dieser Zeit verbringen Elsbeth und ihre Mutter einige Zeit bei Familie Reh in Remscheid, doch Elsbeth entwickelt mit wachsendem Alter eine immer stärkere Abneigung gegen die fromme, patriotisch eingestellte Familie. Nach eigenen Angaben ähnelt Elsbeth schon als Kind fast ausschließlich ihrem geliebten Vater.

So kommt es, dass Elsbeth sich Weihnachten 1917 sogar weigert, Heiligabend in Remscheid zu verbringen. Nach ihren Schilderungen wird Elsbeth durch das Zeitgeschehen, den Krieg, die lange Abwesenheit ihres Vaters schon sehr früh reif und ist mit 12/13 Jahren sehr ernst, nachdenklich und äußerst sensibel. Im Jahre 1918, als ihr Vater zurückkommt, ist sie so geschwächt und unterernährt aufgrund der Nahrungsmittelknappheit in den Kriegsjahren, dass sie an der Grippe erkrankt (damals war die Grippe eine sehr gefährliche und oftmals tödliche Krankheit, da die medizinische Forschung längst nicht so weit war wie heute). Zur Erholung verbringt Elsbeth einige Monate bei einer befreundeten Familie auf dem Land. Bald erholt sie sich jedoch wieder und geht auf eigenes Drängen schnell wieder zur Schule, auf die Kaiserin-Augusta-Schule. Dort kann Elsbeth ihre erfolgreiche Schullaufbahn fortsetzen und erzielt hervorragende Schulleistungen, ihr einziges Problemfach wird Mathematik. Im Jahre 1920 wird Elsbeth Klassensprecherin und fällt dadurch auf, dass sie gegen den Willen des Direktors ein Theaterstück inszeniert, um Spenden für die Opfer des Jahrhunderthochwassers von 1920 zu sammeln.

Hier werden einige Charakterzüge Elsbeths besonders deutlich, nämlich: ihre Hilfsbereitschaft und Offenheit gegenüber anderen Menschen, ihre Dickköpfigkeit und Standhaftigkeit, die Dinge zu tun, die sie für richtig und wichtig hält, sowie ihr unermüdlicher Optimismus.

Ostern 1920 wird Elsbeth Pollitz konfirmiert, zu dieser Zeit ahnt sie noch nichts von der jüdischen Herkunft ihres Vaters, ihre jüdischen Großeltern lernte sie bloß als Kleinkind kennen, beide Brüder des Vaters konvertierten in jungen Jahren zum Christentum.

Die Zeit auf der Luisenschule

Wie überragend Elsbeths Schulleistungen auch gewesen seien mögen, während ihrer Zeit auf der Kaiserin-Augusta-Schule kristallisiert sich immer mehr ein Problemfach heraus: Mathematik. Elsbeth kommt nicht mit der Lehrerin klar und läuft Gefahr, ein „mangelhaft“ in Mathematik zu bekommen, welches ihr gutes Abitur gefährden würde. Die Lehrerin selbst rät ihr, die Schule zu wechseln. Deswegen wechselt Elsbeth gemeinsam mit ihrer besten Freundin Phyllis ab der Obersekunda (entspricht der heutigen 11.Klasse) an die Luisenschule in der St. Apernstraße, wo die Königin-Luise-Schule vor dem 2. Weltkrieg stand. Damals gab es, anders als heute, noch eine strikte Trennung in Mädchenschulen und Jungenschulen. Die Königin-Luise-Schule war eine reine Mädchenschule, genauer gesagt sogar die erste städtische Höhere Mädchenschule Kölns, gegründet wurde sie 1871. Elsbeth Pollitz besucht diese Schule von ca. 1922 bis 1925, somit zur Zeit der Weimarer Republik.

St. Apernstrasse mit der höheren Töchterschule

An der Königin-Luise-Schule kommt Elsbeth deutlich besser mit dem Mathematikunterricht klar, dort unterrichtet ein gewisser Oberstudienrat Meyer, welcher Elsbeth sehr verständnisvoll und unermüdlich bemüht erklärend entgegenkommt, ihr so hilft, die Note in Mathematik wieder in den grünen Bereich zu rücken, sodass sie im Abitur letztendlich ein „gutes Genügend“ (heute: befriedigend plus) bekommt.
Auch von ihrer Deutschlehrerin Fräulein Dr. Ullrich, die sie zuvor schon als Referendarin an der Kaiserin-Augusta-Schule kennengelernt hatte, ist Elsbeth sehr angetan. Aufgrund ihrer protestantischen Einstellung ist diese Lehrerin etwas isoliert im ansonsten sehr katholischen Kollegium. Allerdings unterrichtet sie ausgezeichnet Deutsch, bringt den Schülern klassische deutsche Literatur auf eine sehr ansprechende Weise nahe und lehrt sie einiges über die Geschichte der Republik.
Als die Klasse, die aus nur 14 Schülerinnen besteht, schließlich eine andere Deutschlehrerin bekommt, ist Elsbeth sicherlich zunächst enttäuscht. Jedoch ist davon auszugehen, dass diese Enttäuschung nicht allzu lange angehalten hat. Denn Elsbeths neue Lehrerin, die Studienassesorin Helene Wieruszowski (Helene Wieruszowski war nach dem Krieg eine angesehene Historikerin, während des Krieges forschte sie zunächst in Florenz und Madrid, später flüchtete sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus Europa in die USA und arbeitete zunächst in Chicago, ab 1971 dann in Lugano, Italien als Professorin für Geschichte), Tochter des damals sehr angesehenen Universitätsprofessors und Goetheforschers Alfred Wieruszowski, unterrichtet mit solch einer Lebendigkeit und Persönlichkeit klassische Autoren wie Lessing, dass Elsbeth eine Begeisterung für deutsche Literatur entwickelt. Insgesamt bezeichnet Elsbeth diese Zeit als eine „sehr angenehme[n] Obersekunda“ (Köln Appellhofplatz, S.45). Auch von ihren beiden letzten Jahren in der Luisenschule berichtet Elsbeth in einem äußerst positiven Grundton, einzig der Unterricht in Geschichte und Erdkunde, der von dem damaligen Direktor Hartmann persönlich ausgeführt wurde, sei langweilig gewesen.
Außerdem berichtet Elsbeth, dass sie im Tanzkurs einen etwas älteren Verehrer gefunden hat, welcher Gerichtsreferendar am Appellhofplatz ist. Beide haben einen ähnlichen Weg zur Arbeit bzw. Schule, auch er muss durch die Ehrenstraße. Eines Tages treffen sie sich auf dem Weg und gehen ein Stück zusammen. Am Römerturm, als Elsbeth gerade in die Apernstraße einbiegen möchte, begegnen die beiden zu ihrem Unglück einer Lehrerin, Fräulein Heller. Durch ein Missgeschick verschüttet der junge Herr auch noch einen Eimer Wasser über die Schuhe der Lehrerin. Dieses Treffen hat Folgen, denn es widerspricht deutlich den Schulvorschriften der damaligen Zeit. Der Referendar wird vom Appellhofplatz an ein anderes Gericht versetzt und Fräulein Heller pflegt bis zum Abitur eine feindselige Einstellung gegenüber Elsbeth. Oder um es in Elsbeths Worten zu sagen: „Von nun an war ich einer Hure gleich“ (Köln Appellhofplatz, S.46).
An dieser Anekdote aus Elsbeths Leben kann man deutlich sehen, wie strikt die Trennung zwischen Jungen und Mädchen während der Schulzeit gehalten wurde. Heutzutage wäre dieses überhaupt nicht mehr denkbar. Obwohl man sich beim Lesen dieser Passage in Elsbeths Biographie häufig an eigene Schulerfahrungen erinnert fühlt, zum Beispiel wenn es um die stetige Sorge um Schulnoten oder unterschiedliche Lehrmethoden von Lehrern geht, merkt man an solchen Stellen, dass die Welt 1923 doch noch eine ganz andere war. Viele Dinge, die wir heute als selbstverständlich nehmen, waren es lange Zeit nicht und mussten erst errungen und erkämpft werden. Seien es Schulen, die Jungen und Mädchen auf gleiche Weise bilden, oder überhaupt erst die Selbstverständlichkeit, dass auch Mädchen das Abitur erlangen und studieren dürfen.
Um Weihnachten 1925 schließt Elsbeth Pollitz die Schule mit dem Abitur ab. In Mathematik bekommt sie ein genügend (=befriedigend), alle anderen Fächer schließt sie mit einem „gut“ ab. Die meisten von Elsbeths Mitschülerinnen entscheiden sich anschließend, Philologie zu studieren, Elsbeths beste Freundin Phyllis möchte Medizin studieren. Elsbeth entschließt sich dazu, Jura zu studieren.

Studium und Promotion (1925-1933)

Aufgrund der Empfehlung einer Lehrerin, Frau Dr. Ullrich, entschließt Elsbeth sich in Marburg zu studieren, einer kleinen Studentenstadt in Hessen. Der Umzug nach Marburg ist für Elsbeth ein notwendiger Schritt für ihre Persönlichkeitsentwicklung, sie möchte selbständig leben, ohne von ihren Eltern umsorgt zu werden, eigene Erfahrungen sammeln und sich selbst besser kennenlernen.
Ihre Eltern unterstützen sie bei diesem Vorhaben so gut wie möglich, was zu dieser Zeit nicht selbstverständlich ist, dem ist sich auch Elsbeth bewusst. Denn die Verwandten aus Remscheid (die Familie ihrer Mutter) reagieren alles andere als erfreut auf Elsbeths Beschluss zu studieren, sie sind empört: „Ein Mädchen, dazu noch die einzige Tochter, gehörte einfach ins Haus, bis sich ein Freier einstellte“ (Köln Appellhofplatz, S.48).
Das einzige Familienmitglied, das Elsbeth bei diesem Vorhaben, abgesehen von ihren äußerst liberalen, offenen Eltern, unterstützt, ist der Bruder ihres Vaters Paul Pollitz bzw. Onkel Paul. Paul Pollitz ist begeistert von Elsbeths intellektuellem Interesse, beide schreiben sich regelmäßig Briefe.
In Marburg kommt Elsbeth bei Frau Dr. Becker unter, einer wohlhabenden verwitweten Frau, welche einige Räume in ihrem Haus an Studenten untervermietet. Elsbeth wohnt die zwei Jahre, die sie in Marburg studiert, dort. Bei Frau Becker kommen Studenten aus aller Welt unter. Elsbeth zeigt sich ihnen allen gegenüber äußerst offen und macht Bekanntschaft mit Personen aus Schweden, Ungarn, England und anderen europäischen Ländern. Elsbeth genießt ihr Studentenleben in Marburg sehr, zeigt viel Interesse am Studium und findet viele Freunde. Später schreibt sie: „O schöne, unwiederbringliche Zeit“ (Köln Appellhofplatz, S.50). In Marburg ist Elsbeth Pollitz glücklich.
Außerdem setzte sie sich mit einigen aktuellen Problematiken der Republik auseinander und entwickelt eine politische Meinung. Elsbeth lehnt den 1925 zum Reichspräsidenten gewählten Konservativen und Monarchisten Paul von Hindenburg strikt ab, ebenso wie jegliche Form von rechtem Gedankengut.
Um die Universität in Marburg herum treffen sich zur Zeit der Republik viele Studenten in Studentenverbindungen und Burschenschaften, in denen sie ihre Interessen austauschen, sich politisch organisieren, bestimmte Traditionen wie z.B. den Fechtkampf pflegen oder sich bloß treffen, um Anschluss zu finden, Spaß miteinander zu haben und zu feiern.
Auch Elsbeth verkehrt während der Zeit in Marburg viel in diesen Kreisen. Sie verliebt sich in den 5 Jahre älteren Burschenschaftler Kurt, doch ihre erste Liebesbeziehung soll nicht lange halten. Denn mit der Zeit wachsen Zweifel in Elsbeth, ob Kurt der richtige für sie sei, denn dieser interessiert sich im Gegensatz zu ihr überhaupt nicht für Kunst und Kultur, hat eine mangelnde Allgemeinbildung und eine offen rechte politische Einstellung. Ihre Beziehung zerbricht schon nach einigen Monaten wieder.
Um die Jahreswende 1927/28 zieht Elsbeth zurück zu ihren Eltern nach Köln, um ihr Studium in ihrer Heimatstadt zu Ende zu führen, die Universität Köln macht auf sie einen gänzlich anderen Eindruck als Marburg. In Köln gibt es kaum Burschenschaften, alles scheint viel größer, unpersönlicher, Elsbeth muss sich erst daran gewöhnen. Vor ihrer Abschlussprüfung ist Elsbeth ungewöhnlich nervös, sie ist eine der wenigen Frauen in ihrem Studiengang und hat Angst, als Frau strenger beurteilt zu werden als männliche Kollegen.
Sexismus und Frauenfeindlichkeit waren zu dieser Zeit, obwohl in den 1920er Jahren viele Fortschritte gemacht wurden, noch an der Tagesordnung. Es gab kaum weibliche Professorinnen, weibliche Studentinnen etablierten sich erst nach und nach an den Hochschulen, die Universitäten waren von Männern dominiert und sexistisches Verhalten wurde weitestgehend gesellschaftlich akzeptiert. Von daher ist Elsbeths Sorge sicherlich gerechtfertigt, bestätigt sich jedoch nicht. Elsbeth besteht 1929 die Abschlussprüfung ihres theoretischen Studiums und reist anschließend mit ihren Eltern durch Belgien.
Nach dem Studium folgt die praktische Ausbildung am Gericht. Als ersten Schritt geht Elsbeth als Gerichtsreferendarin ans kleine Amtsgericht in Brühl. Elsbeth ist die erste weibliche Referendarin dort, viele männliche Kollegen begegnen ihr deswegen mit großer Skepsis. Doch durch äußerst gute Arbeit und hervorragende Urteilsbegründungen schafft Elsbeth es bald, ihre Kollegen von ihrer Kompetenz zu überzeugen. Als zweite Stufe ihrer praktischen Ausbildung ist Elsbeth für ein halbes Jahr an einer Kölner Zivilkammer, die Arbeit dort bereitet ihr viel Freude. Anschließend macht sie eine Ausbildung bei der Staatsanwaltschaft, durch ihre Kollegen lernt sie das Kölner Nachtleben kennen. Die vierte und letzte Stufe ihrer Ausbildung vollzieht Elsbeth beim Schöffengericht. Auch dort ist man anfangs wenig erfreut über eine weibliche Referendarin, in einem System, das von Männern dominiert wird.
Es ist klar zu erkennen, dass sich Elsbeth während ihrer Referendarszeit einige Male mit Sexismus und übermäßigem Misstrauen gegenüber Frauen konfrontiert sieht und sich so im Gegensatz zu ihren männliche Kollegen erst einmal beweisen muss, damit man ihr ein ähnliches Maß an Respekt und Vertrauen entgegen bringt. Bis zur Gleichberechtigung ist es noch ein langer Weg. Trotz all dem beschreibt Elsbeth ihre Referendarszeit später als „fröhliche, glückliche Zeit, die viel zu schnell dahineilte“ (Köln Appellhofplatz, S.63).
Am Schöffengericht trifft Elsbeth um die Jahreswende 1931/32 Hermann von Ameln wieder, den sie schon aus dem Repetitorium der Universität kennt, aber als Streber abgestempelt hatte. Hermann und Elsbeth verlieben sich ineinander und sind schon bald heimlich verlobt. Hermann ist sehr offen eingestellt, Antisemitismus ist ihm fremd und er ist wie Elsbeth angewidert von den Verbrechen der SA sowie der Ideologie der NSDAP. Auch Oskar und Sophrine Pollitz verstehen sich sehr gut mit Hermann.
Während ihres Referendariats in Köln pflegt Elsbeth eine enge, freundschaftliche Beziehung zu ihrem Onkel Paul. Paul Pollitz ist sehr angetan von dem Intellekt und dem Kulturverständnis seiner Nichte, da weder seine Frau, Else Pollitz, noch seine beiden Kinder Hedda und Grete seine Begeisterung für das Theater und für Psychologie teilen. Elsbeth genießt die Spaziergänge und Ausflüge mit ihrem Onkel sehr. Im Herbst 1932 stirbt Paul Pollitz an den Folgen eines Schlaganfalls. In ihrer Biographie schreibt Elsbeth: „Es war gut, dass Onkel Paul das Dritte Reich nicht mehr miterleben musste. Er war wie ein zweiter Vater“ (Köln Appellhofplatz, S.67) .
Am 18.02.1933 promoviert Elsbeth Pollitz mit ihrer Doktorarbeit „Der Gerichtshelfer“ bei Professor Bohne, die Arbeit wird später sogar in einer juristischen Fachzeitschrift gedruckt und ist auch heute noch zu erwerben.

Im Dritten Reich (1933 -1945)

Am 30.01.1933 ernennt Reichspräsident Hindenburg einen neuen Reichskanzler, Adolf Hitler kommt an die Macht. Ab diesem Zeitpunkt ändert sich die Lebensrealität von Millionen Menschen maßgeblich. Die Weimarer Republik ist gescheitert, Hitler baut die Republik nach und nach zu einer totalitären nationalsozialistischen Diktatur um, dem Dritten Reich. Im Dritten Reich wird das wohl schrecklichste Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen, der Völkermord an ca. 6 Millionen europäischen Juden.
Elsbeth von Ameln musste die Judenverfolgung am eigenen Leibe miterleben. Was das für diese Menschen bedeutete, was sie fühlten, können wir uns heute nicht mehr wirklich vorstellen. Aber wir können und müssen uns bewusst machen, welches grausame Ausmaß der Holocaust annahm, wie viele Leben er zerstörte. Wir müssen sichergehen, dass solch ein Verbrechen nie wieder geschehen wird. Wir müssen uns mit den Geschichten seiner Opfer auseinandersetzen, um sie vor dem Vergessen zu bewahren.

Elsbeth Pollitz erfährt erst am 07.04.1933 von ihrer jüdischen Herkunft. Durch einen Zufall findet sie heraus, dass sie entfernt mit Viktor Löwenwärter, einem angesehenen jüdischen Juristen aus Köln, verwandt ist. Viktor Löwenwärter ist das Enkelkind von Henriette Hamburg, einer Schwester von Elsbeths Großmutter väterlicherseits, Eugenie Pollitz (geb. Hamburg).
Elsbeths Vater, Oskar Pollitz, ist nach Definition der Nationalsozialisten „Volljude“. Elsbeths Mutter, Sophrine Reh, hat keinerlei jüdische Wurzeln, gilt allerdings aufgrund ihres jüdischen Ehemanns als „jüdisch versippt“und unterliegt auch den diskriminierenden Gesetzen der Nazis. Elsbeth Pollitz gilt nach Definition der Nazis als „Mischling 1. Grades“ oder auch „Halbjüdin“, somit unterliegt auch sie später der Judenverfolgung.
Als Elsbeth von ihrer jüdischen Herkunft erfährt, reagiert sie keineswegs aufgebracht oder verzweifelt, sie berichtet: „Eine nicht zu beschreibende Ruhe und Festigkeit überkamen mich“ (Köln Appellhofplatz, S.69). Elsbeth fühlt eine tiefe, innere Verbundenheit zu ihrem Vater, wird sich ihrer eigenen Identität bewusster.

Elsbeth ist nicht die einzige Person, die erst mit der Machtergreifung der Nazis von ihrer jüdischen Herkunft erfährt, vielen Kölner und deutschen Juden ging es ähnlich. Das zeigt einerseits, wie gut integriert und angepasst die jüdische Bevölkerung in Deutschland war, andererseits wie willkürlich und absurd die antisemitische Ideologie ist.

Einen Tag später, am 08.04.1933, bekommt Elsbeth einen Brief von Justizminister Hanns Kerrl, in dem ihr mitgeteilt wird, dass sie aus ihrem Beruf entlassen ist. Dies beruht auf dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 07.03.1933, welches unter anderem alle aus dem Justizdienst entlässt, die nicht den sogenannten „Ariernachweis“ erbringen können. Dieses Gesetz ist der erste gesetzliche antisemitische Akt der neuen Regierung. Er schadet Elsbeth maßgeblich, da er ihr den Beruf des Anwalts verbietet, in dem sie zuvor viel Erfüllung und Freude fand.
Elsbeth spricht mit Hermann über ihre jüdische Herkunft und sagt ihm, er solle ihr Verlöbnis als gelöst betrachten, sie wolle ihm keinen Schaden zufügen. Hermann, mittlerweile auch Anwalt, kann den „Ariernachweis“ erbringen.
Hermann von Ameln erwidert Elsbeth: Was immer durch Hitler auf sie zukommen würde, er gehöre zu ihr.
Die Familie rückt in diesen schweren Tagen aneinander, man kümmert sich umeinander, spürt eine starke Verbundenheit, oder wie Elsbeth schreibt: „Ich gehörte zu meinem Vater. Sein Schicksal war auch das meine“ (Köln Appellhofplatz, S.70).
Trotz der beruflichen Diskriminierung wird Elsbeth 1933 noch zum Assessorexamen zugelassen, sie belegt einige Kurse, besteht das Examen erfolgreich, denkt schon an mögliche Berufschancen nach dem Nationalsozialismus. Auch Hermann besteht am 20.09.1933 nach großen Anstrengungen sein Examen, eine Beamtenkarriere beispielsweise als Staatsanwalt steht für Hermann jedoch wegen seiner antinationalsozialistischen Gesinnung außer Frage.
Im Oktober 1933 entscheidet sich Elsbeths Verwandter Dr. Viktor Löwenwärter auszuwandern, er hat einige bedeutende rechtswissenschaftliche Werke publiziert, die allerdings aufgrund seiner jüdischen Herkunft kaum noch gekauft werden. Vor seiner Flucht nach Südamerika überträgt Dr. Löwenwärter die Urheberrechte seiner Bücher auf Hermann von Ameln. Somit findet Elsbeth ihre neue Beschäftigung darin, die Bücher von Löwenwärter in Hermanns Namen neu zu bearbeiten und zu publizieren. (Löwenwärter wird nach einigen Startschwierigkeiten Professor des Rechts an der Universität in Santiago)
Um Konflikte zu vermeiden entschließt sich Hermann, in Frankfurt und nicht in Köln zu arbeiten. Er kauft sich eine kleine Wohnung dort und macht ein Rechtsanwaltsbüro zentral in Frankfurt, Goethestraße 10, auf.
Über die Frankfurter Tageszeitung erfahren Elsbeth und Hermann, dass zukünftig Ehen zwischen „Ariern“ und „Halbjuden“ verboten werden sollen.
Eilig heiraten Elsbeth Pollitz und Hermann von Ameln am 17. Oktober 1933 ganz ohne Gäste oder Feier. Ihr Trauspruch lautet:

„Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten,
nimmer sich beugen, mutig sich zeigen“.

Die Eltern sind Trauzeugen. Die Verwandten aus Remscheid reagieren entrüstet und mit Unverständnis, besonders gegenüber Hermann, der nun als „jüdisch versippt“ gilt.
Elsbeth schreibt später über diese Zeit im Jahre 1933: „[Wir] waren doch trotz dunkler Gewitterwolken über uns glücklich, vielleicht bewusster als andere, weil wir uns unser Glück jeden Tag neu erkämpfen mussten“ (Köln Appellhofplatz, S.73).

Elsbeth und Hermann von Ameln nach der Hochzeit Oktober 1933
(entnommen aus: Ameln, Elsbeth von: „Köln Appellhofplatz – Rückblick auf ein bewegtes Leben“; Wienand Verlag, Köln 1985)


Lange bleibt Hermann nicht in Frankfurt, Elsbeth und er möchten gerne zusammen leben. Am 01.12.1934 siedelt er nach Köln über. Er wird am Amts- und Landesgericht Köln als Anwalt zugelassen, sein Büro befindet sich am Zülpicher Platz 4. Nun wohnen Elsbeth, Hermann, Sophrine und Oskar zu viert in der Siebengebirgsallee. Am 15.09.1935 wird eines der übelsten Gesetze dieser Zeit verkündet, das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. In Folge dieses Gesetzes ist die Familie gezwungen, ihre seit 1928 beschäftigte Haushälterin Käthe zu entlassen. Die Begründung: „Ein arisches Mädchen unter 45 Jahren war bei meinem Vater, d. h. bei allen jüdischen Hausherren, sittlich gefährdet. Nur Hausangestellte über 45 Jahren durften in Haushaltungen mit einem jüdischen Haushaltungsvorstand beschäftigt werden“ (Köln Appellhofplatz, S.78). Den perfiden, zutiefst antisemitischen Subtext dieses Gesetzes sollte jeder bemerkt haben. Besonders die Entrechtung und auch Entmenschlichung der jüdischen Bevölkerung durch antisemitische Gesetze und Propaganda ist an diesem Fall deutlich zu erkennen. Ebenso wie der Aufbau eines Feindbildes, somit die Darstellung der Juden als Bedrohung für die restliche deutsche Bevölkerung. Beides waren maßgebliche Methoden der NS – Propaganda gegen die Juden.
Käthe versteht diesen Grund überhaupt nicht, sie hatte mit 16 Jahren schon angefangen, für die Familie zu arbeiten, und will ihren Arbeitsplatz unbedingt behalten. Die Familie versucht eine Ausnahmegenehmigung zu bekommen. Für diese Genehmigung sollen alle Verwandten der Familie Oskar ein Leumundszeugnis erstellen, um seine Unschuld unter Beweis zu stellen. Dieses Zeugnis erstellen ihm auch alle Verwandten bis auf Richard Becker, Ehemann von Sophrine Pollitz' Schwester Alma Reh. Dieser entgegnet nur: „Gesetze würden erlassen, damit sie befolgt würden“ (Köln Appellhofplatz, S.79).
In Wahrheit hatte Richard Becker vermutlich Angst, selbst Probleme mit dem NS-Regime zu bekommen, wenn er seinen jüdischen Schwager unterstützt.
An diesem Vorfall kann man exemplarisch erkennen, wie wirkungsvoll die Einschüchterung durch die Gewaltherrschaft des Regimes war. Richard Becker war offensichtlich so eingeschüchtert, ängstlich um sein eigenes Wohl, dass er sich gegen seinen eigenen Schwager und damit auch gegen seine Schwester stellte. Juden wurden so durch indirekten Druck der Nazis immer mehr selbst in ihren eigenen Familien isoliert.
Letztendlich musste Familie Pollitz ihre Haushälterin entlassen.
Im Jahre 1936 zieht Familie Pollitz um, 28 Jahre haben sie in der Siebengebirgsallee, am Klettenbergpark, gewohnt. Sie bleiben in Klettenberg, ziehen in ein Einfamilienhaus in der Luxemburgerstraße 336. Das Haus ist geräumig, es ist mehr als genug Platz für alle vier, sogar Garten und Wintergarten besitzen sie - ein Anzeichen, dass die Familie auch 1936 noch ziemlich wohlhabend war.
Alle vier - Oskar, Sophrine, Elsbeth und Hermann - sind ab 1935 Mitglied im „Paulusbund“, einem Verein nichtarischer Christen, um sich zu organisieren, auszutauschen, zu unterstützen. Den Vorsitz in Köln hat seit 1933 Dr. Frankenstein, ehemals leitender Gynäkologe an einem Krankenhaus in Köln-Kalk (auch seine Tochter besucht die Königin-Luise-Schule, und zwar noch zu dieser Zeit).
Elsbeth von Ameln übernimmt zuerst 1935 die Vereinszeitung, dann 1936/37 nach und nach die Vereinsleitung für Köln, weil Dr. Frankenstein immer mehr erkrankt. Der Paulusbund ist in ganz Deutschland aktiv, man kommt einmal in der Woche in kleineren Grüppchen zusammen, tauscht Gedanken, finanzielle Nöte, Auswanderungspläne aus, versucht zu helfen und zu vermitteln, wo man kann. Im Paulusbund lernt die Familie viele Gleichgesinnte kennen, einige dieser Familien flüchten später, andere tauchen unter, viele werden einige Jahre später deportiert und kommen in den Konzentrationslagern im Osten ums Leben.
Ein neues Gesetz soll 1937 „Volljuden“ wie Oskar Pollitz aus Vereinen ausschließen. Der Paulusbund ruft eine Bundessitzung ein, die über das weitere Vorgehen beraten soll. Elsbeth soll bei dieser Bundessitzung das Rheinland vertreten, fährt dafür nach Berlin. Als jemand in der Bundessitzung dafür plädiert, man solle dem Willen der Regierung folgen, alle „Volljuden“ ausschließen und den Paulusbund zu einem „Mischlingsverein nichtarischer Christen“ machen, meldet sich Elsbeth von Ameln zu Wort. Sie erklärt fest entschlossen: „Einem Verein, der meinen Vater nicht duldet, kann auch ich nicht angehören“ (Köln Appellhofplatz, S.84) und tritt somit aus. Weitere Vereinsmitglieder folgen ihrem Beispiel, die Bundessitzung geht ohne Beschluss auseinander, der Paulusbund löst sich auf.
Kaum ist Elsbeth wieder in Köln, verbrennt sie alle Vereinsunterlagen und sieht zu, dass das restliche Geld aus der Vereinskasse an bedürftige Juden verteilt wird. Einen Tag später kommen Abgesandte der Polizei zu Elsbeth, um die Vereinskasse zu beschlagnahmen. Sie finden nichts, Elsbeth wird in das gefürchtete EL-DE Haus vorgeladen, Hauptsitz der Kölner Gestapo.
Angsterfüllt, eine Zyankali-Kapsel (Zyankali war damals ein beliebtes Mittel zum Suizid) dabei geht Elsbeth in das EL-DE Haus. Sie kommt glimpflich davon, doch der Schrecken und die letzten Worte des Beamten brennen sich in Elsbeths Erinnerung; „Hüten sie sich, hüten sie sich, sie haben einen arischen Mann“ (Köln Appellhofplatz, S.85). Ihrer Familie erzählt Elsbeth zu der Zeit dieser Vorfälle nichts, sie will diese nicht noch mehr belasten.
In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 brennen in ganz Deutschland Synagogen nieder, organisierte Schlägertrupps ziehen durch die Straßen, zerstören jüdische Geschäfte, misshandeln, verhaften und töten skrupellos tausende von Juden. Die staatlich initiierte Gewalt gegen Juden erreicht in dieser Nacht ein nie zuvor da gewesenes Ausmaß an Grausamkeit.
Selbstverständlich geht auch dieser Tag nicht an Elsbeth vorbei. Sie erlebt auf dem Weg zur einer Bekannten, wie ein jüdisches Geschäft in der Kölner Innenstadt komplett kaputtgeschlagen wird, muss sich, in Todesangst, in einem Hauseingang verstecken. Oskar beobachtet auf dem Weg von seiner Firma in Zollstock nach Hause, wie ein jüdischer Mann aus dem Fenster geworfen wird und tot auf der Straße liegen bleibt. Der befreundete Rechtsanwalt Dr. Gatzer muss aus seiner Wohnung fliehen und kommt einige Zeit bei Familie Pollitz unter.
Mitte November 1938 bekommt Hermann Post von der Anwaltskammer. Die Gestapo hat Hermann von Ameln zuvor bei eben dieser Kammer angezeigt, weil er mit seinem jüdischen Schwiegervater in einem Haus wohnt. Die Anwaltskammer droht mit Berufsausschluss. Hermann reagiert sofort auf diese Anordnung und die Familie beschließt, sich räumlich voneinander zu trennen. Die Nazis reißen die Familie immer weiter auseinander, versuchen Juden immer mehr von ihren Mitmenschen zu isolieren.
Nach langer Wohnungssuche ziehen Hermann und Elsbeth von Ameln nach Braunsfeld in die Paulistraße 11. Die Eltern ziehen in eine kleine Zweizimmerwohnung in der Krementzstraße, Lindenthal.

Der Pauliplatz in Köln-Braunsfeld vor Kriegsbeginn 1929Der Pauliplatz in Köln-Braunsfeld 1929


Am 31.03.1939 muss die jüdische Versicherung, bei der Oskar arbeitet, endgültig schließen. Oskar Pollitz ist 67 Jahre alt, arbeitslos, bekommt keinerlei staatliche Unterstützung, im Gegenteil, der Staat ruiniert seine Existenz und verfolgt ihn aufgrund seiner jüdischen Herkunft. „Es war eine unheilvolle, trübe Zeit“ (Köln Appellhofplatz, S.88) schreibt Elsbeth. Oskar bekommt eine Judenkennkarte und den obligatorischen Zunamen „Israel“, wie alle jüdischen Männer 1939.

Judenkarte
(entnommen aus: Ameln, Elsbeth von: „Köln Appellhofplatz – Rückblick auf ein bewegtes Leben“; Wienand Verlag, Köln 1985)

Verfolgung und Flucht (1939- 1945)

„Trotz allem nicht vorhersehbaren Leid, aller Entbehrungen, ja selbst Tod, bedeutete für mich der Krieg den Beginn der Auflösung, den Untergang des Dritten Reiches“ (Köln Appellhofplatz, S.88). Adolf Hitler beginnt im Jahre 1939 den 2. Weltkrieg. Nach seiner ideologischen Überzeugung ist dieser Krieg unabdinglich, um Lebensraum für die „Herrenrasse“ im Osten zu gewinnen. Mit dem Krieg stürzt Hitler Deutschland in einen noch tieferen Abgrund, zuerst laufen die Eroberungen gut, doch letztendlich liegt ganz Deutschland in Schutt und Asche, Millionen von Menschen sind obdachlos, leiden unter Mangelernährung. Ab 1941 beginnen in Deutschland Massendeportationen von Juden in Konzentrationslager im Osten, die Massenvernichtung nimmt ihre schlimmsten Ausmaße an.
Hermann soll zu Beginn des Krieges eingezogen werden. Als er allerdings erwähnt, dass er nichtarisch verheiratet ist, wird er schnell wieder entlassen und kann bei Elsbeth in Köln bleiben. Einige Angestellte Hermanns werden jedoch eingezogen, er muss sein Geschäft deutlich verkleinern. Er wechselt zum Gerling-Konzern, wird allerdings 1942 wieder entlassen, da er „jüdisch versippt“ und deswegen in einem nationalsozialistischen Musterkonzern nicht tragbar ist.
Ab 1942 wird Köln regelmäßig von schweren Luftangriffen heimgesucht. Das Haus der Eltern wird so stark beschädigt, dass man dort nicht mehr wohnen kann. Oskar und Sophrine Pollitz ziehen unangemeldet bei Elsbeth und Hermann ein. Wie makaber es auch klingen mag, bringt die Zerstörung von Köln nicht nur schlechtes mit sich. Denn je größer der Schaden in Köln ist, desto größer ist auch die Unordnung und damit die Anonymität, in anderen Worten: In zerstörten Städten kann man leichter untertauchen, unentdeckt bleiben als in heilen. Genau das brauchen Elsbeth und Oskar, Anonymität. Elsbeth wird in dieser Zeit mehrmals aufgefordert, ihren Pass abzugeben, sie kommt diesen Forderungen nicht nach. Konsequenzen folgen nicht.
Am 29. Juni 1943 trifft ein starker Bombenschlag Köln, etwa 4300 Menschen sterben, rund 230.000 weitere werde obdachlos. Im Herbst 1943 bekommt Oskar eine Mitteilung von seiner Cousine, Anna Kahn, aus Frankfurt; er solle sie dringend besuchen kommen. Elsbeth fährt mit ihrem Vater nach Frankfurt. Elsbeth und Oskar verbringen einen Tag bei Anna. Elsbeth fühlt sich bei ihr wohl, spürt eine innere Verbundenheit zu ihr. Anna Kahn verabschiedet die beiden mit dem Satz: „Oskar, du bist gesegnet in deiner Tochter“ (Köln Appellhofplatz, S.92). Einige Tage später stürzt sich Anna Kahn kurz vor ihrer geplanten Deportation aus dem Fenster.
Am 20.04.1944 trifft ein weiterer heftiger Luftangriff Köln. Die gesamte oberste Etage des Hauses in der Paulistraße 11 wird zerstört, Familie Pollitz muss ins erste Stockwerk hinunterziehen.
Am 06.06.1944 landen die Alliierten in der Normandie, schlagen die deutschen Truppen nach und nach zurück. Nun muss auch dem letzten klar gewesen sein, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist. Hitler weigert sich jedoch zu kapitulieren. Deutschland kämpft weiter, bis die Alliierten 1945 in Berlin sind. Ab 1944 setzen verstärkt die letzten Aktionen gegen Juden ein, nun wird auch gezielt gegen „Mischehen“ vorgegangen.
Elsbeths Mutter, Sophrine, wird während des letzten Kriegsjahres sehr krank, sie kommt in ihrem Elternhaus in Remscheid unter. Hermann, Elsbeth und Oskar erleben in Köln, wie immer mehr bekannte und befreundete Juden in den Osten deportiert werden und dort umkommen. Zusammen flüchten Oskar, Elsbeth und Hermann in das Dreifaltigkeitskrankenhaus. Anschließend flüchtet Oskar weiter zu Sophrine nach Remscheid. Elsbeth und Hermann tauchen bei Oskars Schwester Maria von Ameln in der Rennbahnstraße in Weidenpesch unter.
Der gezielte „Schlag gegen Mischehen und Mischlinge“ setzt bald auch in Köln ein.
Elsbeth und Hermann flüchten aus Köln in ein Ausweichkrankenhaus bei Düren, verbringen dort einige Wochen. Während dieser ganzen Zeit stehen sie, sofern es ihnen möglich ist, in engem Briefkontakt mit den Eltern, man berichtet sich gegenseitig von der jeweiligen Lage und versichert dem jeweils anderen, dass kein Grund zur Sorge da sei. Von einem Nachbarn hört Elsbeth, dass in Köln von einigen SA-Männer nach ihr gesucht wurde, wäre Elsbeth nicht geflüchtet, wäre sie deportiert worden. Einige Tage später wird auch am Krankenhaus ein SA-Mann gesichtet.
Etappenweise, zu Fuß, per Zug, per Laster flüchten Elsbeth und Hermann wieder zurück nach Köln zu Maria. Über diese Zeit in nicht vorstellbarer Angst und stetiger Flucht schreibt Elsbeth von Ameln: „Das Leben in der damaligen Zeit zu schildern ist kaum möglich. Die täglichen Angriffe waren mir völlig gleichgültig geworden. […] Aber die Angst – es gibt keinen Ausdruck dafür - verhaftet, abgeschleppt zu werden, die ist nicht zu schildern. Das kann nur der nachfühlen, der in der gleichen Lage war“ (Köln Appellhofplatz, S.102).
Köln ist zu gefährlich für Elsbeth und Hermann, um sich dort längere Zeit aufzuhalten, deswegen fliehen sie bald wieder in Richtung Remscheid. Im Elternhaus von Familie Reh ist allerdings kein Platz mehr und so kommen sie bei Alma Becker (geb. Reh) unter. Ihr Mann Richard Becker ist 1944 verstorben und ihre beiden Söhne befinden sich in misslichen Lagen im Krieg. Lange hält Elsbeth es auch während des letzten Kriegsjahres nicht in Remscheid aus, die Tanten begegnen ihr und Hermann nicht gerade mit Gastfreundschaft. Auch Oskar Pollitz wird in Remscheid nur geduldet, nicht aufgenommen. Sein Schwager Ferdinand gibt ihm nur seine schimmligen, alten Zigaretten ab (so ist Oskar umso froher, als Elsbeth frische Zigaretten in Köln erwirbt), außerdem muss er in einem zu kalten, schlecht geheizten Zimmer schlafen. In Remscheid wird Oskar krank, er bekommt Herzanfälle, verlässt kaum noch das Haus.
Anfang des Jahres 1945 fahren Elsbeth und Hermann von Ameln auf der Ladefläche eines Lastwagens über die einzige noch heile Rheinbrücke nach Köln, zurück in die Paulistraße. Hermann soll zum Volkssturm, Köln gegen die Alliierten verteidigen, obwohl die Lage offensichtlich auswegslos ist, der Krieg ist schon lange verloren. Hermann verweigert den Dienst.
Besonders im letzten Kriegsmonat gibt es noch einige starke Bombenangriffe auf Köln. Insgesamt wird Köln mehr als 260 mal von den Alliierten bombardiert, über 20.000 Einwohner sterben bei diesen Angriffen. Im Frühjahr 1945 leben nur noch um die 40.000 Menschen in Köln, vor dem Krieg waren es beinahe 800.000. Über 90% der Kölner Innenstadt liegen in Schutt und Asche. Am 05. März 1945 marschiert die amerikanische Armee in Köln ein. Köln ist befreit. Doch Elsbeth verfällt nicht, wie man vielleicht denken mag, in euphorische Stimmung: „12 Jahre Diskriminierung, Verfolgung fallen nicht wie Fesseln ab. Sie tragen unauslöschbare Spuren“ (Köln Appellhofplatz, S.113).
Oskar Pollitz stirbt am 24.03.1945 in Remscheid an einem Herzinfarkt im Alter von 72 Jahren.

Nach dem Ende des Dritten Reiches (1945 - 1990)

Elsbeth von Ameln während der Verhandlung gegen die Giftmörderin Swinka
(entnommen aus: Ameln, Elsbeth von: „Köln Appellhofplatz – Rückblick auf ein bewegtes Leben“; Wienand Verlag, Köln 1985)


Nach Ende des Krieges werden Hermann und Elsbeth von Ameln am 02.04.1945 für das amerikanische Militärgericht am Kaiser-Wilhelm-Ring zugelassen. Erstmals kann Elsbeth ihre Tätigkeit als Rechtsanwältin aktiv ausüben. Am 6. Juni wird Elsbeths Zulassung auf alle Militärgerichte und zivilen Gerichte ausgeweitet. Am 18.06.1945 wird Elsbeth von Ameln Gerichtsassesorin und Hilfsrichterin am Jugendgericht, bald wird ihr diese Tätigkeit aufgrund ihrer eigentlichen Arbeit als Rechtsanwältin allerdings wieder entzogen.
Am 13.04.1946 wird Elsbeth am Amts- und Landesgericht Köln als zugelassene Rechtsanwältin bestätigt. Sie ist beteiligt an der Wiederbegründung des Kölner Anwaltsvereins. Von 1946 bis 1981 ist Elsbeth von Ameln vor allem als Strafverteidigerin im Gerichtsgebäude am Kölner Appellhofplatz tätig. Sie ist die erste Frau unter den bedeutenden deutschen Strafverteidigern und verschafft sich mit ihrer Arbeit einen guten Ruf und viel Respekt.
Elsbeth und Hermann wohnen und arbeiten vornehmlich in der Gereonsstraße 50.
Im Februar 1983 stirbt Hermann von Ameln an den Folgen eines Herzinfarktes. Am 02. Juli 1984 gibt Elsbeth aus „Gesundheits- und Altersgründen“ ihr Zulassung ab.
Im Jahre 1985 veröffentlicht Elsbeth von Ameln ihre Autobiographie „Köln Appellhofplatz“ über den Kölner Verlag Wienand.
Elsbeth von Ameln (geb. Pollitz) stirbt am 30.April 1990, im Alter von 85 Jahren, in Köln.

„Nun bin ich allein, aber nicht einsam, denn ich schaue zurück auf mein Leben, reich an Licht, aber auch nie zu vergessende Schatten. Es niederzuschreiben war mir ein Bedürfnis, vielleicht sogar eine Pflicht der Vor- und Nachgeneration gegenüber.“
Mit diesen Worten beendet Elsbeth von Ameln ihre Autobiographie.


Gemeinsam gegen das Vergessen!

Quellen

Ameln, Elsbeth von: „Köln Appellhofplatz – Rückblick auf ein bewegtes Leben“; Wienand Verlag, Köln 1985.

Luig, Klaus: „...weil er nicht arischer Abstammung ist – Jüdische Juristen in Köln während der NS-Zeit“; Verlag Dr. Otto Schmidt, Köln 2004, Seite 105 – 107.

Franken, Irene: „Ja, das Studium der Weiber ist schwer! - Studentinnen und Dozentinnen an der Kölner Universität bis 1933; Katalog zur Ausstellung in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln; 28. April – 10. Juni 1995

Die Publikation dieser Biographie und die Verwendung der Fotografien von Elsbeth von Ameln und ihrer Familie wurde uns dankenswerterweise von ihrem Großneffen, Herrn Rolf von Ameln, gestattet.

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