Annemarie Kaufmann

von Holly Post

„Das Vergessenwollen verlängert das Exil. Das Geheimnis der Erlösung heisst Erinnerung“.

(jüdisches Sprichwort)

Die Erinnerung ist die Brücke zwischen gestern und heute. Diese Brücke zu schlagen ist die Hoffnung des Projektkurses Geschichte der Oberstufe an der Königin-Luise-Schule in Köln. Er beschäftigt sich mit dem Schicksal ehemaliger jüdischer Schülerinnen der Schule und ihrer Familien vor, während und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Ein Ziel ist es, die Lebensgeschichten der einzelnen Schülerinnen und auch ihrer Familien zu rekonstruieren und zu erfahren, was ihnen während der Zeit des Nationalsozialismus widerfahren ist. Haben sie den Holocaust überlebt, ist sicherlich die wichtigste Frage. Konnten sie und ihre Familien sich retten und wenn ja, wohin?

Anfangs kennt man nur den Namen der Schülerin. In meinem Fall ist dies Annemarie Kaufmann. Sie war vor Ausbruch des 2. Weltkrieges auf der Königin-Luise-Schule und zu diesem Zeitpunkt ungefähr in meinem Alter. Genau wie ich wohnt sie unweit der Schule, bei ihr zu Hause am Ebertplatz ist ein Stolperstein für sie und ihre Familie verlegt worden. Ihre Hobbys sind meinen nicht unähnlich, es ist also nicht schwer, sich vorzustellen, wie sie vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten lebte.

Zu Beginn der Recherche findet man kleine Hinweise hier und da und nach und nach begibt man sich auf eine Reise, während der man immer mehr erfährt, sich neue Quellen auftun, aus denen sich wiederum weitere Informationen ergeben. Ich fühlte mich wie ein Detektiv und bekam das Gefühl, Annemarie mehr und mehr kennenzulernen und ihr Leben ein Stück weit rekonstruieren zu können.

Ich bin sehr froh, ihre Biografie, soweit es mir möglich war, zu erforschen, aufschreiben und der Erinnerung an sie weiteres Leben einhauchen zu können.

Meine Recherche

Meine Recherche über die Annemarie Kaufmann begann im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. Diese Einrichtung ist nicht nur ein Gedenkort, sondern auch ein Ort des Lernens und Forschens: Viele Sammlungen, Unterlagen, Fotos und Papiere aus der NS-Zeit in Deutschland werden hier gesammelt. Es handelt sich hierbei heute um die größte lokale Gedenkstätte Deutschlands.

Dieser Einrichtung hat Annemarie Kaufmann eine Sammlung übereignet, die Fotos von sich und ihrer Familie und offizielle Schreiben beinhaltet. Darüber hinaus bekam ich innerhalb des Projektkurses Einsicht in ehemalige Zeugnisse unserer Schule, also auch in Annemaries Zeugnisse. Weitere Recherchen im Internet ergaben Nachweise von Überfahrten ins Ausland und Adressen im In- und Ausland von Annemarie und ihrer Familie.

Ich forschte weiter, unter anderem auf der Internetseite des United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C. Das United States Holocaust Memorial Museum ist eins von 22 Holocaustmuseen in den USA und wie das NS-Dok nicht nur ein Gedenkort, sondern es dient auch der Dokumentation und Forschung. Seine Datenbank umfasst mehr als 270.000 Aufzeichnungen, die man aufrufen kann.

Dort entdeckte ich, dass es eine Familiensammlung der Familie Kaufmann gibt, zur Verfügung gestellt 2016 von einer Annemarie Kaufmann.

Es ist allerdings durchaus vorgekommen, dass ich während meiner Nachforschungen auf Unterlagen von Annemarie Kaufmann gestoßen bin, es sich dabei dann aber um eine andere Annemarie Kaufmann gehandelt hat.

Leider ist die Kaufmann family collection nicht digitalisiert, also auch nicht online einsehbar ist. Ich kontaktierte die Mitarbeiter des Museums, die aufgrund von Personalmangel allerdings niemand abstellen konnten, der die Sammlung hätte fotografieren und mir zuschicken können. Man empfahl mir, einen Researcher zu beauftragen. Der erste Researcher, den ich anschrieb, war zwar zu teuer für mich, aber informierte mich, dass die von mir gesuchte Sammlung sich nicht im United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C. befindet, sondern in einem außerhalb gelegenen Archiv des Museums, dem Shapell Center in Bowie, Maryland. Dort fand ich einen neuen ortsansässigen Researcher, der sich an seine eigenen Studentenzeiten erinnerte, mir für einen Freundschaftspreis die Sammlung der Familie Kaufmann fotografierte und nach einigen Wochen zuschickte.

Als ich nach dem Öffnen feststellte, dass es sich hierbei tatsächlich um meine Annemarie Kaufmann und ihre Familie handelte, konnte ich mein Glück kaum fassen. Die Sammlung besteht aus weiteren Fotos der Familie, Postkarten von Annemaries Bruder Fritz an die Eltern in den Vereinigten Staaten von Amerika und 6 Seiten biografischer Aufzeichnungen bis ins Jahr 1998, von denen allerdings leider die letzte Seite fehlt. Dies war für mich der große Durchbruch, ich konnte von Annemarie selbst lesen, wie es ihr ergangen ist.

Natürlich sind diese Aufzeichnungen im Nachhinein niedergeschrieben worden und  können Fehler aufweisen, beispielsweise durch Erinnerungslücken. So hat Annemarie andere Informationen über den Verbleib ihres Bruders Fritz oder über die Ausreise ihrer Eltern nach Amerika als sie anhand der offiziellen Dokumente nachzuweisen sind. Zeitzeugen berichten hochgradig subjektiv und manchmal auch chronologisch ungenau. Grundsätzlich ist jedoch von der Richtigkeit ihrer Lebensaufzeichnungen auszugehen.

Annemaries Kindheit in Köln

Annemarie Kaufmann wird am 17. Februar 1923 in Köln geboren. Sie lebt zusammen mit ihrem älteren Bruder Fritz, geboren am 09. Juli 1920, ihrem Vater Dr. med. Hermann Kaufmann, geboren am 26. August 1887, und ihrer Mutter Anne Kaufmann (geb. Meyer), geboren am 22. Dezember 1892 am Platz der Republik 1, dem heutigen Ebertplatz. Hermann und Anne Kaufmann sind seit dem 19. September 1918 verheiratet.

Der Platz der Republik wurde nach Vorbildern von Pariser Boulevards und Ringstraßen von Antwerpen und Wien entworfen und zeichnete sich durch seine Gartenanlage mit Weiher und Springbrunnen aus, es handelte sich um eine gehobene Wohnlage.

Der heutige Ebertplatz um 1900

Zur Familie Kaufmann gehören zu diesem Zeitpunkt ebenfalls die Großeltern väterlicherseits und eine Großmutter mütterlicherseits sowie jeweils ein Onkel von beiden Seiten mit ihren Ehefrauen und jeweils einem Kind ungefähr in Annemaries Alter. Annemaries Vater Hermann ist Doktor der Medizin und arbeitet als Hausarzt im Dom-Hotel und Excelsior Agrippina, was sich später noch als glückliche Fügung herausstellen wird. Sein persönlicher Ruf ist untadelig. Als Gesellschaftsarzt einer Versicherung und Vertragsarzt verschiedener Kölner Hotels verfügt die Familie über ein sehr hohes Einkommen. Die Mutter Anne ist zu Hause und kümmert sich um die Familie. Die Familie bewohnt eine 11-Zimmer Wohnung, in welcher der Vater ebenfalls eine Praxis unterhält. Annemarie selbst beschreibt ihre Familie als gehobenen Mittelstand, neben der Familie leben eine Köchin, ein Dienstmädchen und ein Kindermädchen im Haushalt. Wir üblich zu dieser Zeit und in ihren Kreisen bekommt Annemarie Klavier-, Schwimm- und Tennisunterricht, darüber hinaus nimmt sie Tanzstunden.

Schullaufbahn

Wenn man davon ausgeht, dass ihre Schullaufbahn klassisch verläuft, wird Annemarie Ostern 1929 mit sechs Jahren in die Grundschule eingeschult. Ein Schuljahr beginnt damals zu Ostern. Sie besucht trotz mosaischen Glaubens eine katholische Grundschule. Sie ist eine gute Schülerin und zu diesem Zeitpunkt vom Religionsunterricht entschuldigt.

Nach vier Jahren Grundschule, im Frühjahr 1933 kurz nach der Einsetzung Hitlers als Reichskanzler, wechselt Annemarie gemeinsam mit ihrer Cousine Elisabeth Kaufmann auf die städtische Königin-Luise-Schule. Annemaries Bruder Fritz besucht da schon das Gymnasium Kreuzgasse. Beide Mädchen kommen in dieselbe Klasse, in der sich noch fünf weitere jüdische Schülerinnen sowie ein „halbjüdisches“ Mädchen befinden.

Elisabeth, Fritz und Annemarie Kaufmann (v.l.)

Dass die beiden Mädchen Annemarie und ihre Cousine Elisabeth eine höhere Bildung genießen dürfen, ist ein Privileg, allerdings besuchen jüdische Mädchen überdurchschnittlich häufig höhere Lehranstalten wie Lyzeen oder Realgymnasien. Das Studium religiöser Schriften ist Frauen zwar untersagt, die Lehre von Sprachen und Wissenschaften jedoch nicht. Insgesamt deutet es darauf hin, dass die Kaufmanns eine fortschrittliche und bildungsorientierte Familie sind. Das Schulgeld von 200 Reichsmark stellt aufgrund des Wohlstands der Familie kein Hindernis dar.

Königin-Luise-Schule, St. Apernstraße um 1900 (Schularchiv)

Mit dem Aufstieg Adolf Hitlers ändert sich Annemaries bisheriges normales Leben, erst langsam, dann immer drastischer. Es ist jüdischen Kindern nicht mehr erlaubt, öffentliche Schwimmbäder und Tennisplätze zu betreten. Nur noch in jüdischen Anstalten können sie Sport treiben. Bald ist es auch nicht mehr möglich, ins Kino zu gehen oder an anderen Vergnügungsaktivitäten teilzunehmen.

Die Veränderungen beschränken sich nicht auf das Privatleben, sondern betreffen auch die Schule. Kurz nach Schuljahresbeginn erfolgt die erste drastische antisemitische Maßnahme des neuen Regimes spezielle gegen jüdische Schüler*innen: das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933. Ab sofort dürfen höchstens 5% aller Schüler*innen einer Schule „nicht-arischer“ Herkunft sein. Als „nicht-arisch“ gilt zu diesem Zeitpunkt, wer ein jüdisches Eltern- oder Großelternteil besitzt. Bei Neueinschulungen sind dies nur 1,5% der aufgenommenen Schüler*innen.

Allerdings dürfen die Kinder der jüdischen Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges in der Regel alle öffentlichen Schulen besuchen, auch wenn die Quote „nicht-arischer“ Kinder in einer Lehranstalt überschritten wird. Nach Ausweis der uns vorliegenden offiziellen Schulstatistiken haben die Väter aller sieben jüdischen Mädchen diesen „Frontkämpferstatus“, auch Annemaries Vater Hermann. Das erklärt, warum Annemarie und auch Fritz öffentliche nicht-jüdische Schulen besuchen können.

Doch auch in der KLS spürt Annnemarie (und sicher auch die anderen jüdischen Mädchen) die zunehmende Ausgrenzung. So darf sie nicht mehr an Unterricht teilnehmen, der körperlichen Kontakt beinhaltet, wie Gymnastik oder Sport auf dem Außengelände (auf ihre Noten im Sportunterricht scheint dies aber keinen Einfluss zu haben, siehe unten). Ihre nicht-jüdischen Schulfreunde ziehen sich von ihr zurück, bis es zum Schluss überhaupt keinen Kontakt mehr gibt. Ihre Cousine Elisabeth berichtet von ähnlichen Erfahrungen.

Auch privat bleiben die jüdischen Familien zunehmend unter sich, und auch da werden die Kreise immer kleiner, da immer mehr Familien Deutschland verlassen. Die Familie Kaufmann ist schließlich gezwungen, in eine deutlich kleinere 6-Zimmer Wohnung in Köln-Braunsfeld, Aachener Straße 342 zu ziehen. Hermann Kaufmann wird 1938 die Kassenzulassung entzogen, ihm ist es verboten, als Arzt zu praktizieren außer unter Überwachung im Krankenhaus als Krankenbehandler. Angestellte unter 45 Jahren dürfen nicht mehr in jüdischen Haushalten arbeiten, um die „Schändung deutscher Mädchen durch Juden“ zu  verhindern.

Klassenfoto der Quarta a bei Fräulein Schaaf, Königin-Luise-Schule 1936; Annemarie hintere Reihe 2. v.r., Elisabeth mittlere Reihe 2. v.r. (NS-Dok)


Im Schuljahr 1936/37 ist Annemarie in der Quarta a (7. Klasse) bei Fräulein Schaaf. Durch einen glücklichen Zufall haben wir aus diesem Schuljahr ein Klassenfoto. Auf ihm sehen wir Annemarie, ihre Cousine Elisabeth, zwei weitere jüdische Mitschülerinnen – Margot Lindemeyer und Margot Rosenthal – sowie das „halbjüdische“ Mädchen – Inge Dziadek. Drei jüdische Schülerinnen haben die Klasse offensichtlich inzwischen verlassen.

Annemaries Noten in diesem und im dem nächsten Schuljahr sind durchschnittlich und ähneln denen ihrer nicht-jüdischen Klassenkameradinnen. Die Noten reichen von sehr gut in Leibesübungen bis hin zu befriedigend und ausreichend in Mathematik und Zeichnen. Die Zeugnisbemerkungen zu Annemarie sind hauptsächlich erfreulich, im Jahr 1936/37 wird aufgeführt, dass sie sehr übermütig ist und sich mehr beherrschen muss. Vielleicht ist dies ein Hinweis auf Annemaries Charakter, der ein wenig unbeherrscht sein könnte, insbesondere wenn sie auf  Ungerechtigkeiten oder Undank stößt. Später in ihrem Lebensbericht schreibt sie, dass sie sich nicht beherrschen konnte, ihre Mitmenschen zu tadeln, die sich in den USA über belanglose Dinge aufregten. Tadeln ist vielleicht noch harmlos ausgedrückt, denn sie schreibt, dass sie

            […] started giving „hell“ to people that complained about stupid little things. […] All this was so foreign to me that I could not contain my outbursts of disdain.

 

In den Zeugnislisten wird Annemarie als Anneliese geführt, unter dem Foto steht Annemie. Wie es zu Anneliese kommt, kann man nur mutmaßen, Annemie allerdings ist ein typischer Kosename für Annemarie im Rheinland. Auch auf dem ausgefüllten Fragebogen „Jüdischer Bürger Kölns“ wird Annemie als Annemaries Spitzname angegeben.

Es könnte ein Hinweis auf eine gemäßigte Einstellung an der Königin-Luise-Schule sein, dass Annemarie und  ihre verbliebenen jüdischen Mitschülerinnen bis 1938 nicht der Schule verwiesen werden. Die Zeugnisse beweisen, dass Annemarie weiterhin gut beurteilt und – zumindest über die Benotung - nicht diskriminiert wird. Vielmehr werden alle vier jüdischen Mädchen jedes Jahr anstandslos in die nächsthöhere Klasse versetzt und erreichen zu Ostern 1938 die Obertertia (9. Klasse).

Am 27. März1938 allerdings wird im Diensttagebuch der Königin-Luise-Schule notiert, dass Annemarie und alle anderen (insgesamt noch 12) jüdischen Schülerinnen an der KLS) auf die „jüdische Schule“ „umgeschult“ werden. Das bedeutet, dass sie zwangsweise von der KLS entlassen werden. Mit der „jüdischen Schule“ ist die einzige weiterführende jüdische Schule Kölns gemeint, das private, orthodox geprägte Reform-Realgymnasium Jawne. Die Jawne befindet sich in der St. Apernstraße 29-31, in direkter Nachbarschaft zur Königin-Luise-Schule.

Vorne rechts die Synagoge der Gemeinde Adass-Jeshurun, links das Realgymnasium Jawne, hinten rechts die Rückseite der KLS (Yad Vashem Digital Collection)

Warum genau die Entlassung von der KLS zu diesem Zeitpunkt erfolgt, ist unbekannt. Ein endgültiges Schulverbot für alle jüdischen Schüler und Schülerinnen auf nicht-jüdischen Schulen wird erst später in diesem Jahr nach den Novemberprognomen erlassen. Vorwand dafür ist ein Attentat des polnischen Juden Herschel Grünspan auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath am 7. November 1938 in Paris.

Ob andererseits der Wechsel zur Jawne das Ziel hat, die Schulpflicht zu erfüllen, die Kinder auf ein Leben und eine Berufsausbildung im Ausland vorzubereiten - denn in Deutschland war eine Zukunft zu diesem Zeitpunkt kaum noch denkbar - oder ob das Ziel war, den jüdischen Kindern weiterhin eine Struktur mit Gesellschaft von anderen Kindern und der daraus resultierenden erhofften Geborgenheit zu ermöglichen, kann man nur mutmaßen. Annemarie Kaufmann kann sich an ihr letztes Jahr in Köln laut eigener Aussage nur noch verschwommen erinnern.

Die Flucht

Annemaries Eltern Hermann und Anne sind bis 1938 der Meinung, dass die politische Entwicklung und das damit verbundene Drangsal nicht mehr lange anhalten kann und sie diese schwierige Zeit in Deutschland überleben können. Ab Anfang 1938 allerdings versucht Annemaries Mutter Anne den Vater Hermann zu überzeugen, dass Pläne zur Auswanderung gemacht werden müssen. Auf der daraufhin einberufenen Familienkonferenz wird beschlossen, sich um ein Visum für die Auswanderung nach Amerika zu bewerben. Zu diesem Zeitpunkt ist es allerdings schon zu spät, das Kontingent solcher Visa ist über Jahre ausgebucht, es gibt keine Chance für die Kaufmanns auszuwandern. Außerdem verweigert Annemaries Vater auch immer noch die Flucht, er will seine alten Eltern nicht in Deutschland zurücklassen.

Dann kommen die Novemberpogrome am 9. und 10. November 1938, in der sogenannten Reichskristallnacht. Synagogen und jüdische Einrichtungen werden in Brand gesetzt, jüdische Bürger gedemütigt, verhaftet, misshandelt und auch ermordet, jüdische Geschäfte und Wohnungen demoliert und zerstört. Beide Onkel von Annemarie werden zunächst ins KZ Dachau verschleppt, um sie zur Ausreise zu zwingen. Vater Hermann Kaufmann und Annemaries Bruder Fritz werden von einem christlichen Patienten Hermanns versteckt. Annemarie und ihre Mutter bleiben in der Wohnung und warten ängstlich auf das Klingeln der NS-Schlägertrupps an der Tür, das glücklicherweise ausbleibt.

Danach ist es oberste Priorität, Annemaries Bruder Fritz aus Deutschland hinauszubringen. Fritz ist zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt und flieht mit einem seiner Onkel nach Holland. Der andere Onkel, der sich vier Monate vor Annemaries Familie um ein Visum für Amerika beworben hat, kann mit seiner Familie in die USA auswandern. Fritz arbeitet in Holland in einem Metallgeschäft und ist am 12. November 1941 in der Michelangelostraat 31 in Amsterdam wohnhaft.

Postkarte mit Anschrift von Fritz Kaufmann

Im August 1939 wird der Familie Kaufmann endgültig bewusst, dass die politischen Zustände kein schnelles Ende finden werden. Schweren Herzens möchten sie nun auch die jetzt 16-jährige Annemarie außer Landes bringen. Der einzige Weg, dies zu ermöglichen, scheint ein Kindertransport nach England zu sein. Nach den schweren Angriffen auf die jüdische Bevölkerung erlauben Großbritannien, aber auch Belgien, die Niederlande und Schweden die Einreise von Kindern und Jugendlichen, die nach den Nürnberger Rassegesetzen von den Nationalsozialisten ausgegrenzt und verfolgt werden.

Für jedes Kind muss eine Garantiesumme von 50 britischen Pfund hinterlegt werden, damit sie dem britischen Staat nicht zur Last fallen. Ein britisches Pfund ist im Jahr 1939 so viel wert wie 65,85 britische Pfund heute. Mit 50 multipliziert macht das eine Summe von 3292,50 britischen Pfund pro Kind, es ist also recht teuer. Ansonsten erlauben die Nationalsozialisten den Eltern nicht, mit ihren Kindern Kapital außer Landes zu führen, weder Geld noch Schmuck. Nur einen Koffer und 10 Reichsmark dürfen die Kinder mitnehmen. Die ausgewählten Kinder reisen mit dem Zug nach Belgien oder in die Niederlande, von dort aus geht es mit dem Schiff nach England. Einige Kinder aus der Tschechoslowakei, die von Deutschland schon 1938 zerschlagen wurde, werden direkt mit dem Flugzeug nach Großbritannien geflogen. Die Ausreise mit dem Flugzeug scheint aber eher die Ausnahme gewesen zu sein.

Annemarie Kaufmann erinnert sich noch genau an den Tag ihrer Abreise, sie kann noch exakt wiedergeben, welche Kleidung sie trug, als sie in den Zug in Köln einsteigt. Sie fährt bis Amsterdam und verbringt einen Tag dort mit ihrem Bruder Fritz. Mit ihm gemeinsam fliegt sie nach London. Warum Annemarie nicht wie die anderen Kinder mit dem Schiff fährt, lässt sich anhand der bekannten Unterlagen nicht erklären. Vielleicht besitzen die Kaufmanns immer noch genug Vermögen, um Fritz und Annemarie Flugtickets zu kaufen. Oder Annemarie ist mit ihren 16 Jahren zu alt für den regulären Kindertransport und muss andere Wege wählen. In der Liste des Jawne-Kindertransports wird Annemarie Kaufmann jedenfalls nicht aufgeführt.

In London angekommen versucht Annemarie, ihren Bruder Fritz zu überzeugen, ebenfalls in England zu bleiben und dort als Ausländer interniert zu werden. Mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges werden in Großbritannien Flüchtlinge aus Deutschland mit deutscher Staatsbürgerschaft als Sicherheitsrisiko gesehen.1940 internieren die britischen Behörden ungefähr 1000 der älteren Kinder aus den Kindertransporten. Fritz jedenfalls lässt sich nicht überreden und fliegt am 1. September 1939, dem Tag des Beginns des 2. Weltkrieges, zurück nach Amsterdam.

In England kümmert sich eine jüdische Organisation um die Unterbringung der Kinder aus Deutschland, es wird versucht, sie in Familien zu platzieren. Die Familie von Annemarie Kaufmann sind Herr und Frau Rosen, ein recht junges Paar, das in einer sehr hübschen Wohnung in einem modernen Gebäude in Central London lebt. Annemarie hat ihr eigenes Zimmer und es ist ihr erlaubt, die Küche mitzubenutzen. Mehr kann sie über ihre Gasteltern nicht sagen, sie behandeln sie weder gut noch schlecht. Annemarie überlebt, wie genau, weiß sie allerdings nicht mehr.

Der Bruder eines Freundes ihrer Eltern besitzt ein Sportbekleidungsherstellungsunternehmen in England. Annemarie kontaktiert ihn, um dort arbeiten zu können, trotz ihres noch jungen Alters. Er bietet ihr eine Lehrstelle in seiner Fabrik an und Annemarie lernt schnell, während sie von Abteilung zu Abteilung gereicht wird. Es macht ihr Spaß, dort zu arbeiten, schon bald wird sie von einer Auszubildenden zur festangestellten Mitarbeiterin befördert. Selbst ihr kleines Gehalt wird ab und an erhöht, das Wichtigste aber ist, dass sie dort sehr nette Menschen kennenlernt. Nachdem sie zuvor schon zweimal umgezogen ist, zieht sie nun zu einer ihrer Mitarbeiterinnen in eine Wohnung in einem zweigeschossigen Mehrfamilienhaus, wahrscheinlich in 12C, Belsize Crescent in NW3 London. Dies ist zumindest ihr letzter bekannter Wohnort in London und bei google maps erkennt man genau die von Annemarie beschriebenen „2 story walk-up flats“. Dort fühlt es sich zum ersten Mal ein bisschen wie ein „zu Hause“ an.

Annemarie hat nun das Gefühl, angekommen zu sein und meldet sich in einer Londoner Schule an, um ihre in Deutschland unterbrochene Schulausbildung fortzusetzen. Ihr Job und die Schule nehmen ihre ganze Zeit in Anspruch, so dass sie kaum Zeit hat, über ihre Familie nachzudenken, eher darüber, wie sie diese Jahre überleben und ihre Familie endlich wiedersehen kann.

Nach 1,5 Jahren in England hat sie immer noch nichts von ihrer Familie gehört. Der 2. Weltkrieg hält an, Deutschland ist in die Beneluxländer und Frankreich einmarschiert und hat diese besetzt. Zu diesem Zeitpunkt ist keine Kommunikation mit Deutschland möglich. London wird bombardiert, der sogenannte „Blitz“ beginnt am 7. September und hält bis Mai 1941 an. Annemarie verbringt viele Nächte in den Londoner Untergrundstationen, die als Bombenschutzkeller dienen. Eine Gasmaske trägt sie immer bei sich. The Blitz, abgeleitet von dem deutschen Wort Blitzkrieg, ist ein anhaltender Luftangriff Deutschlands auf englische Städte. Bei dem ersten Luftangriff auf London am 7. September 1940 wird London in 57 aufeinanderfolgenden Nächten bombardiert, oftmals auch tagsüber. Auch danach wird London regelmäßig weiter beschossen mit dem Höhepunkt in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1941. In dieser Nacht wirft die deutsche Luftwaffe 711 Tonnen Sprengstoff und 2393 Brandsätze auf die englische Hauptstadt. Obwohl London am stärksten bombardiert wird, wird der Rest von England ebenfalls nicht verschont. Erst als Deutschland im Juni 1941 seine Angriffe gegen Russland richtet, hören die nächtlichen Luftangriffe auf. In den neun Monaten des Dauerangriffs werden 43 500 Zivilisten getötet.

Es gibt wenig zu essen für die englische Bevölkerung, aber laut Annemarie Kaufmann beweisen die Engländer Charakter, halten zusammen und leben von Tag zu Tag. Nach einer Weile geht Annemarie nicht mehr in den Bombenschutzkeller, lieber schläft sie in ihrem eigenen Bett und hofft auf das Beste. Und wie der Zufall es will, wird einer der Schutzkeller, den sie häufig aufgesucht hat, direkt von einer Bombe getroffen. Annemarie wird zur Fatalistin.

Annemaries Eltern Hermann und Anne

Im Frühling 1941 erfährt Annemarie, dass ihre Eltern noch leben und ihnen die Flucht nach Amerika gelungen ist. Sie ist überglücklich. Hermann und Anne Kaufmann fliehen laut Annemarie in einem verplombtem Zug von Berlin nach Lissabon. Von dort aus steigen sie auf einen Frachter nach Kuba und nach ein paar Wochen fahren sie weiter nach Amerika.

Für die Flucht aus Deutschland müssen die Kaufmanns allerdings einen teuren Preis an die Nationalsozialisten zahlen. Eine wichtige Einnahmequelle des NS-Staats bildet nämlich die Reichsfluchtsteuer. Diese wird gezielt gegen jüdische Emigranten eingesetzt, der Freibetrag von 200 000 Reichsmark wird 1934 auf 50 000 Reichsmark herabgesetzt. Von ihrem übrigen Vermögen müssen auswandernde Juden 50 Prozent abgeben. Der Rest kann nur unter starken Verlusten in ausländische Währung umgetauscht werden. Aus den Unterlagen des NS-Dok geht hervor, dass die Kaufmanns durch die Auswanderung sogar gezwungen sind, ihre Wohnungseinrichtung zu verkaufen, so dass sie Deutschland letztendlich nur mit einem Koffer in der Hand verlassen.

Tatsächlich reisen die Kaufmanns wohl von Lissabon weiter nach Bilbao in Spanien, denn von dort aus fahren sie nachweislich mit dem Schiff S.S. Marques de Comillas am 22. Mai 1941 los und kommen am 10.06.1941 in New York, New York in den USA an. Hermann Kaufmann ist 53 Jahre alt und in der Passagierliste als Chirurg aus Köln aufgeführt, der Englisch, Französisch und Deutsch spricht, die 48-jährige Anne als seine Ehefrau.

Anne Kaufmann (NS-Dok Bp31164)

Am 13. November 1941 beantragen Hermann und Anne Kaufmann die US-Staatsbürgerschaft. In seiner Absichtserklärung ändert Hermann seinen Namen zu Herman. Hier finden wir auch eine Beschreibung von ihm: Er ist ca. 1,75 m groß, wiegt ungefähr 86 kg, hat hellbraune Augen und eine helle Hautfarbe. Als Wohnadresse gibt er 82 Wadsworth Terrace in Manhattan in New York City an. 82 Wadsworth Terrace ist ein Gebäude im Washington Heights Viertel, das 1927 erbaut wurde und 42 Wohneinheiten auf 6 Etagen hat. Es verfügt über einen Aufzug.

Von den etwa 125 000 jüdischen Flüchtlingen, die nach Amerika emigrieren können, lässt sich etwa die Hälfte in New York City nieder, 20 000 davon ziehen nach Washington Heights. 1940 sind ungefähr ein Drittel der Einwohner Washington Heights deutsche Juden. Durch die Erweiterung der Untergrundbahn im Jahr 1932 gibt es Wohnraum und insbesondere eine Auswahl größerer Appartements. In der deutschsprachigen literarisch geprägten New Yorker Zeitung Aufbau werden diese Wohnungen angeboten.

Dr. Hermann Kaufmann (NS-Dok Bp 31159)

Seine Zeit als Hausarzt in Kölner Hotels kommt Dr. Herman Kaufmann nun zu pass: Ein amerikanischer Geschäftsmann in eben diesem Hotel wurde auf einer Geschäftsreise sehr krank. Er glaubt fest daran, dass ihm Dr. Herman Kaufmann, der ihn damals behandelte, das Leben gerettet hat. So kann er sich bei der Ankunft der Kaufmanns in New York City revanchieren und kümmert sich um alle ihre Belange, bis sie sich in der neuen Heimat etabliert haben. Herman geht zurück zur Universität. Zuerst muss er den Sprachtest bestehen und dann das medizinische Examen erneut ablegen. Danach folgt ein Praktikum in einem Krankenhaus. Herman ist zu diesem Zeitpunkt 55 Jahre alt und studiert gemeinsam mit Studenten, die halb so alt sind wie er. Er ist erfolgreich und eröffnet eine Praxis in New York, in der er bis zu seinem Tod als 80-jähriger arbeitet.

Seine Frau Anne hat bis 1938 nie gearbeitet, keine Hausarbeit erledigt oder gar gekocht. Nun beginnt sie eine Arbeit in einer Fabrik, die Schleifen für Haare und Schuhe anfertigt, arbeitet 8 Stunden am Tag und verdient 20 Dollar die Woche. Laut Annemarie meistert sie ihre neuen Aufgaben perfekt, besonders beeindruckend sind ihre neu erworbenen Kochkünste.

Annemaries Ausreise in die USA

Natürlich hofft Annemarie, so schnell es geht zu ihren Eltern in die USA reisen zu können. Ende 1941 ist ein solches Vorhaben aber schlichtweg nicht möglich. Als die USA am 11. Dezember.1941 in den Krieg eintreten, jubeln Deutschlands Gegner und England hofft, den Krieg in einem Stück zu überstehen. Wie in Amerika wird auch in England jeder arbeitsfähige Bürger aufgerufen, Kriegspflichten zu übernehmen, entweder der Armee beizutreten oder in einem Rüstungsbetrieb zu arbeiten. Annemarie wird beinahe verpflichtet, dem ATS zu dienen. Der Auxiliary Territorial Service ist das Frauenkorps des britischen Heeres im 2. Weltkrieg. Die dienstleistenden Frauen erhalten zwei Drittel des Wehrsolds eines männlichen Soldaten. Zu Beginn arbeiten die Frauen als Köchinnen, Schreiberinnen, Pflegerinnen, Lageristinnen und Fahrerinnen. Als allerdings mehr und mehr Personal auch in anderen Bereichen nachgefragt wird, übernehmen die Frauen auch andere Aufgaben, zum Beispiel in der Flugabwehr. Es ist ihnen jedoch nicht gestattet, Waffen abzufeuern. Irgendwie schafft Annemarie es, „sich rauszureden“ und stattdessen in einer Fabrik zu arbeiten, die Uniformen herstellt. Besonders nützlich dafür ist natürlich ihre Ausbildung im Sportbekleidungsherstellungsunternehmen.

Im Sommer 1943 gelingt es Annemarie mit viel Glück, eine Schiffspassage in die USA zu ergattern. An ein Ticket für eine Überfahrt zu gelangen, ist nämlich alles andere als ein einfaches Unterfangen, viel mehr ein großes Dilemma. Um einen Platz auf einem Schiff buchen zu können, muss man ein Visum für die USA vorlegen. Um ein solches Visum zu bekommen, muss man belegen, ein Ticket für eine Schiffspassage zu besitzen. Annemarie lernt einen Herrn kennen mit Verbindungen zu Pan American Airlines, vielleicht ein Herr O. Marcus. Dieser wird bei ihrer Einreise als Freund im Herkunftsland aus London angegeben, wohnhaft 12, Eton Hall, Eton College Road, London NW, einer vermögenden Wohngegend.

Über diese neue Bekanntschaft erhält Annemarie einen Brief, in der ihr pro forma eine Schiffspassage in die USA bestätigt wird, mit der Übereinkunft, dass sie diese nie nutzen wird. Mit diesem Brief können Annemaries Eltern in Amerika ein Visum für sie beantragen und mit diesem Visum ist Annemarie in der Lage, ein Ticket auf einem Bananendampfer zu buchen, der Jamaica Producer. Mit diesem Frachter der Dampfschifflinie Bristol City legt Annemarie am 6. September 1943 von Avonmouth, England ab und erreicht 18 Tage später New York. Die Reise über den Atlantik ist sehr beschwerlich, bis auf 2 Tage ist Annemarie seekrank, die Passagiere müssen unter Deck bleiben, an frische Luft ist nicht zu denken. Außerdem ist die Reise auch sehr gefährlich, denn es droht ständig die Versenkung durch deutsche U-Boote. Und doch ist der Moment der Ankunft in Amerika und die Wiedervereinigung mit ihren Eltern am 24. September 1943 einer der schönsten Momente ihres Lebens.

Bei ihrer Ankunft in den USA hat Annemarie 40 Dollar bei sich. Wie sich das anfühlen mag für eine junge Frau, die bis vor kurzem noch unbeschwert in einem wohlhabenden Haushalt aufwuchs? Man kann nur erahnen, wie schrecklich das sein muss. Allerdings hat Annemarie während der fast fünf Jahre in London schon so viel Verzicht und Verlust erlebt, dass sich die glückliche Zeit der Familie am Platz der Republik 1 wie ein ferner, fast vergessener Traum anfühlen muss.

Auf der Passagierliste finden wir eine nähere Beschreibung: Annemarie hat braune Haare, graue Augen und eine helle Hautfarbe, und sie ist ca. 1,65 m groß.  Sie wird als Schreiberin oder Sekretärin ausgewiesen, die Deutsch und Englisch spricht, ihre Nationalität ist staatenlos. Ab 1933 verlieren nämlich jüdische deutsche Staatsbürger bei Grenzübertritt ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Somit werden alle Emigranten automatisch ausgebürgert, auch die, die außerhalb der Staatsgrenze in die Vernichtungslager im Osten deportiert werden. Durch diese Massenausbürgerung wird schätzungsweise 250 000 bis 280 000 deutschen Juden ihre deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt und somit ihr Vermögen eingezogen.

Annemarie Kaufmann (NS-Dok Bp 31158)

Herman und Anne Kaufmann sind derweil umgezogen in die 222 West 83rd Street in New York City. Das Manhill Apartmenthaus, erbaut 1924, in 222 West 83rd Street ist eines der letzten großen Mietshäuser im Herzen der Upper West Side. Es ist ein 17-stöckiges Vorkriegsgebäude mit einer großen Eingangshalle, dort gibt es klassische 6-Zimmer-Apartments mit hohen Decken und großzügigen Raumabmessungen. In direkter Nähe zum Central Park ist die Upper West Side eine gehobene Wohngegend, die Kaufmanns scheinen sich immer besser einzuleben.

Nach fast 5 Jahren ist Annemarie mit ihren Eltern wiedervereint und hat endlich wieder ein Zuhause. Als erstes beantragt sie die amerikanische Staatsbürgerschaft. Danach isst sie frisches Obst und Gemüse, Dinge, auf die sie so lange verzichten musste.

Kriegsende

Nachdem der 2. Weltkrieg zu Ende gegangen ist, warten Herman, Anne und Annemarie Kaufmann ängstlich auf Nachrichten von der Verwandtschaft in Europa. Leider bleiben die guten Nachrichten fast gänzlich aus. Bis auf Annemaries Cousine Elisabeth, mit der sie zusammen auf die Königin-Luise-Schule ging, sind alle Verwandten in Konzentrationslagern gestorben. Elisabeth war den ganzen Krieg über im Dachgeschoss einer holländischen Familie versteckt und hat so den Krieg überlebt, wenn auch nicht in guter körperlicher Verfassung. Sie erholt sich und heiratet einen Jugendfreund in New York im Jahr 1945.

Annemaries Großvater väterlicherseits, Siegesmund Kaufmann (* 05.12.1855 in Schiefbahn), stirbt am 15. Februar 1941 im jüdischen Krankenhaus in Köln-Ehrenfeld mit über 90 Jahren. Beide Großmütter- Lonnie Meyer, geb. Mayer (* 21.08.1865 in Meiningen) und Alice Kaufmann, geb. Heß (* 26.01.1866 in Burg-Gräfenrode) - werden in das KZ Theresienstadt, ca. 60 km nördlich von Prag, deportiert und dort ermordet.

Das Schicksal von Annemaries Bruder Fritz

Fritz Kaufmann lebt bis zu seiner Deportation 1943 in Amsterdam und unterhält  regelmäßigen schriftlichen Kontakt mit seinen Eltern in Amerika.

Fritz Kaufmann (NS-Dok Bp 31140)

Am 4. November 1943 wird Fritz dann in das Konzentrationslager Westerbork deportiert. Westerbork liegt nahe der deutsch-niederländischen Grenze und ist seit 1939 ein Flüchtlingslager für jüdische Flüchtlinge aus ganz Europa. Am 10. Mai 1040 überfällt Deutschland die Niederlande, nach einem 5-tägigem Kampf werden die Niederlande von Deutschland besetzt. 1942 wird das Flüchtlingslager Westerbork in ein Durchgangslager umgewandelt und für die kurzfristige Unterbringung von zivilen Zwangsarbeitern genutzt. Durch dieses Durchgangslager werden hunderttausende Zwangsarbeiter in das Deutsche Reich und in die Konzentrationslager zwangsverschickt und 107 000 Juden, Roma und Sinti in die Vernichtungslager im Osten deportiert.

Nach Informationen des Roten Kreuzes in den Niederlanden wird Fritz vom Konzentrationslager Westerbork am 3. März 1944 in das Konzentrationslager Auschwitz in einem Vorort der polnischen Stadt Oswiecim deportiert. Das Konzentrationslager Auschwitz ist das größte Vernichtungslager zur Zeit des Nationalsozialismus und dient ebenfalls der Beschäftigung von Sklavenarbeitern. Vermutlich im Spätjahr 1944 kommt Fritz dann von Auschwitz ins Konzentrationslager Sachsenhausen in Oranienburg. Warum Fritz nach Sachsenhausen kommt, kann man nur mutmaßen. Vielleicht ist er körperlich noch so fit, dass er dort als nötige Arbeitskraft eingesetzt werden kann. Sachsenhausen verfügt über SS-eigene Werkstätten und Betriebe im lagereigenen Industriehof. Außerdem gibt es Strafkommandos wie das Klinkerwerk, mit dem Ziel, das weltweit größte Ziegelwerk zu errichten für die riesigen Bauvorhaben der NS-Führung, oder das Schuhläuferkommando, wo Schuhsohlenmaterial getestet werden soll.

Von dort aus kommt Fritz schließlich am 26. Februar 1945 mit der Häftlingsnummer 133724 in das Konzentrationslager Mauthausen an der Donau in Österreich. Hier werden Zwangsarbeiter zu Schwerstarbeit in den Granitsteinbrüchen gezwungen, es herrschen die härtesten Haftbedingungen und die höchste Todesrate. Fritz Kaufmann stirbt bereits kurz nach seiner Ankunft, als Todesdatum wird der 8. März 1945 angegeben.

In der Auflistung jüdischer Bürger Kölns von 1933 - 1945 wird dieses Sterbedatum und -ort genannt, genauso wie sein Tod zu diesem Datum aufgelistet ist in den Sterberegisterbüchern des Konzentrationslagers Mauthausen. Annemarie wiederum hat andere Informationen. Aufgrund der „Datensammelleidenschaft“ der Deutschen erhält sie nach eigenen Angaben die grausamen Details darüber, was ihr Bruder Fritz vor seinem Tod alles erleiden muss. Fritz und sein Onkel werden nach ihren Informationen aus Holland nach Deutschland zurückverbracht und verbringen die meiste Zeit im Konzentrationslager Bergen-Belsen in der südlichen Lüneburger Heide. Fritz erliegt wenige Wochen vor Kriegsende dem Typhusfieber.

Typhus ist eine Infektion, die von Salmonella-Bakterien hervorgerufen wird, Typhusfieber kommt häufig in Gebieten mit schlechten hygienischen Bedingungen vor. Üblicherweise beginnt die Erkrankung mit grippeähnlichen Symptomen etwa 8 bis 14 Tage nach der Ansteckung. Die Betroffenen können Fieber, Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Muskel- und Gelenkschmerzen, Bauchschmerzen und trockenen Husten bekommen. In den Konzentrationslagern, wo Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge zusammengepfercht werden und unter erbärmlichen Verhältnissen leben müssen, brechen schnell Epidemien aus, an denen die Patienten unbehandelt sterben.

Welche dieser Informationen zutreffen, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht klären.

Obwohl Annemarie über detaillierte Aufzeichnungen verfügt, führt sie keine Einzelheiten aus. Auch ihren Eltern erzählt sie nie, was sie weiß, sie haben nach Annemaries Gefühl genug gelitten, auch ohne die Details zu kennen.

Das Leben nach dem Krieg

Annemarie ist fest entschlossen, in der neuen Heimat Fuß zu fassen und im Berufsleben durchzustarten. Während sie schon arbeitet, besucht sie verschiedene Abendschulen und wird 1948 Damenoberbekleidungseinkäuferin für R.H. Macy in New York City, dem heute größten Kaufhaus der Welt. Dies ist ein wirklicher Erfolg und sie durchläuft viele Chefeinkäuferpositionen im Unternehmen. Von Macy’s wechselt Annemarie wieder als Chefeinkäuferin zu Federated Department Stores, einem der größten amerikanischen Betreiber erstklassiger Einzelhandelsketten.

1956 beschließt Annemarie, etwas zu ändern. Als erstes nimmt sie sich eine Auszeit und reist vier Monate durch Europa. Auch nach Köln kommt sie zurück und regelt dort einige finanzielle Angelegenheiten ihrer Eltern, die nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wollen. Wie schwer ihr eine Rückkehr in ihre Geburtsstadt gefallen sein muss, in der ihr so viel Unrecht widerfahren ist, kann man schon allein daran erkennen, dass ihre Eltern eine Heimkehr kategorisch ausschließen. Nach Köln kommt sie nachweislich sogar noch einmal, als sie 1995 dort ihr ehemaliges Kindermädchen besucht.

Während sie in Deutschland ist, verbringt sie ein Wochenende in Wiesbaden im Hauptquartier der US-Luftwaffe. Dort wird ihr eine Stelle als Einkäuferin für ein PX angeboten. PX steht für Post Exchange und bezeichnet ein Geschäft auf einem US-Armeestützpunkt, der die Armeeangehörigen mit Konsumgütern versorgt.

Ob Annemarie diesen Job annimmt, ist leider nicht mehr herauszufinden. Das letzte Blatt ihrer Lebensaufzeichnungen bis 1998 fehlt der Sammlung. Fest steht, dass Annemarie Kaufmann irgendwann nach Florida gezogen ist, ihre letzte bekannte Adresse lautet 2792 Donnelly Drive #3518, Lantana, FL.33462, USA. Hierbei handelt es sich um eine Altersresidenz.

2792 Donnelly Drive, Lantana, FL. 33462, USA

Forscht man weiter im Internet, findet man eine Anne M Kaufman mit der gleichen Telefonnummer, die 100 Jahre alt ist und in Palm Beach Gardens in Florida lebt. Palm Beach Gardens ist 27 Kilometer entfernt von Lantana. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich um die gleiche Annemarie Kaufmann handelt, die in dem Fall im Jahr 2023 100 Jahre alt geworden ist. Leider lässt sich die Seite nicht öffnen, sie scheint nur von den USA aus erreichbar zu sein.

Es gibt auch einen Fund im Internet, der Anne M Kaufman als verstorben angibt, ebenfalls unter gleicher Adresse und Telefonnummer. Vielleicht ist Annemarie also 100 Jahre alt geworden und kurz darauf verstorben. Alle Versuche, Annemarie Kaufmann zu erreichen, sei es per E-Mail, SMS oder Postadresse, sind gescheitert. Zurück kam stets die Nachricht, dass diese E-Mail-Adresse oder Telefonnummer nicht mehr existiert. Während meiner Recherchen gab es auch keine Anhaltspunkte, dass Annemarie geheiratet oder Kinder bekommen hat.

Fazit

Aus anfangs nur einem Namen, den ich mir ausgesucht habe, ist die Geschichte eines langen Lebens geworden. Ich bin Annemarie gefolgt von Köln aus nach London, Großbritannien und schließlich in die USA. Stück für Stück hat sich ein Großteil insbesondere der ersten Hälfte ihres Lebens zusammengesetzt, wozu sie letztendlich selbst am meisten beigetragen hat.

Die glückliche Fügung, auf einer Seite des United States Holocaust Memorial Museum auf einen Hinweis auf ihre Sammlung gestoßen zu sein, die Beauftragung eines amerikanischen Researchers, der mir Fotos der nicht-digitalisierten Sammlung zukommen ließ, dann die Erkenntnis, dass es sich wirklich um „meine“ Annemarie Kaufmann handelt, war spannend, aufregend und eine emotionale Achterbahnfahrt.

Annemarie Kaufmann hat den 2. Weltkrieg überlebt. Sie konnte erst nach England und schließlich zu ihren Eltern nach Amerika fliehen, wo sie ein langes Leben lebte. Trotz aller Diskriminierungen und allem Unrecht, die ihr widerfahren sind, hat sie niemals aufgegeben und immer nach vorn geblickt. Ich bin sehr froh, dass sie nicht zu den vielen ermordeten Juden in Deutschland im 2. Weltkrieg gehört und hoffe sehr, dass sie wieder glücklich werden konnte.

Quellen:

Erkelenz, Dirk/ Kahl, Thomas (HRSG.): Jüdische Schülerinnen und Schüler an Kölner Gymnasien. Ihre Geschichte(n) zwischen Integration, Ausgrenzung und Verfolgung, Berlin 2023, S. 16ff., 59ff.

Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie. Kurzbiografien jüdischer  Mitglieder: Herman Kaufmann (https://www.dgu-online.de/fileadmin/published_content/2.Aktuelles/News/Textdateien/2017/2017_11_30_Kurzbiografien_juedische_DGU-Mitglieder.pdf)

Annemarie Kaufmann: My life 1923-1998 (so far)

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